Frankfurter Allgemeine Zeitung - 26.10.2019

(Michael S) #1

SEITE 6·SAMSTAG, 26. OKTOBER 2019·NR. 249 Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Uwe Brandl 60
Dass die niederbayerische Kleinstadt
Abensberg jedes Jahr durch das Volks-
fest Gillamoos weit über sich hinaus-
wächst, passt zu Uwe Brandl, der dort
seit 1993 Erster Bürgermeister ist. Je-
denfalls ist seine Bekanntheit weit grö-
ßer, als es sein Amt vermuten lässt.
Das liegt auch daran, dass sich der
CSU-Politiker schon lange in kommu-
nalen Spitzenverbänden engagiert.
Seit 2002 ist er Präsident des Bayeri-
schen Gemeindetages, 2017 wurde er
zum Präsidenten des Deutschen Städ-
te- und Gemeindebundes gewählt. Ein
anderer Grund für Brandls öffentliche
Präsenz sind seine markante Rhetorik
und die pointierten Positionen, die ger-
ne quer zur Parteimeinung liegen. In
dieser Zeitung verlangte Brandl im
Frühjahr, zur Bekämpfung der Woh-
nungsnot müsse man den Kommunen
einen Zugriff auf private Grundstücke
ermöglichen. Seinem Parteifreund Sö-
der, dem bayerischen Ministerpräsiden-
ten, warf er vor, „dass er nach wie vor
stark in seiner großstädtischen Soziali-
sierung verhaftet ist“. Der stets phanta-
sie- und geschmackvoll gekleidete Ju-
rist ist als Fachmann und Anwalt der
Kommunen anerkannt, seine Neigung
zum Widerspruch und zum großen Auf-
tritt haben ihm in seiner Partei aber
nicht nur Freunde gemacht. Das könn-
te auch damit zu tun haben, dass er nie
ins Kabinett berufen wurde. Uwe
Brandl schreibt Gedichte und hat ein
Kinderbuch veröffentlicht, in dem an-
hand von Mäusen die Kommunalpoli-
tik erklärt wird. An diesem Sonntag
wird er sechzig Jahre alt. (tifr.)

BRÜSSEL, 25. Oktober


A


nnegret Kramp-Karrenbauer hat
die Tonlage gewechselt. Forsch
war sie am Montag aufgetreten,
als sie mit ihrer Initiative für eine Schutz-
zone in Nordsyrien vorpreschte – und da-
mit den Koalitionspartner SPD konster-
nierte. Es wirkte so, als wolle sie im Hand-
umdrehen die jahrzehntelange Kultur der
Zurückhaltung in militärischen Fragen
entsorgen. Doch als sie am Donnerstag-
nachmittag bei der Nato vor die Mikrofo-
ne trat, war der Schwung weg. Sie sprach
von einem „offenen Prozess“, ja sogar
von einem „schwierigen Weg“, den man
Schritt für Schritt gehen müsse. Die deut-
sche Verteidigungsministerin war blass
im Gesicht. Sie sah nicht wie jemand aus,
der gerade einen Erfolg nach dem ande-
ren verbucht.
Allerdings gab es an diesem Tag einen,
der noch weit mehr in die Defensive ge-
riet: Hulusi Akar, der türkische Verteidi-
gungsminister. Als die Minister hinter ver-
schlossenen Türen über Syrien berieten,
hagelte es von allen Seiten Kritik an An-
kara. Die Türken hätten zwar legitime Si-
cherheitsinteressen, doch die Invasion in
Syrien sei völkerrechtswidrig, gefährde
den Kampf gegen den „Islamischen
Staat“ und verschärfe die ohnehin schwie-
rige Lage der Bevölkerung – so wurde der
Tenor der Sitzung zusammengefasst. Be-
sonders scharf äußerte sich ausgerechnet
der amerikanische Verteidigungsminister
Mark Esper: Unverzeihlich sei der türki-
sche Vorstoß gewesen. Der Türke Akar er-
trug es mit stoischer Miene. Als er selbst
dran war, verlas er eine Rechtfertigung.
Eine große Bevölkerungsumsiedlung, eth-
nische Säuberungen gar seien nicht ge-
plant, versicherte er – obwohl sein Präsi-
dent immer wieder davon spricht, ein
oder sogar zwei Millionen Flüchtlinge
sollten im Grenzstreifen angesiedelt wer-
den. Für Gespräche über eine internatio-
nale Lösung zeigte sich der Verteidigungs-
minister offen.
Kramp-Karrenbauer hatte vor der Sit-
zung mit Akar gesprochen, während der
Sitzung kam sie gleich nach ihm dran.
Drei Minuten hatte sie Zeit, um ihren Vor-
stoß für eine Schutzzone in Nordsyrien
vorzustellen. So ist das, wenn 29 Partner
am Tisch sitzen und jeder sprechen will.

Wer erwartet hatte, sie werde ihre Überle-
gungen konkretisieren und auch über die
militärischen Erfordernisse sprechen,
wurde enttäuscht. Sie blieb sogar hinter
dem zurück, was sie tags zuvor im Vertei-
digungsausschuss des Bundestags darge-
legt hatte. Die Ministerin sagte lediglich,
sie habe eine politische Initiative starten
wollen, damit die Europäer mehr Verant-
wortung übernehmen. Sie wolle mög-
lichst viele Partner einbinden, auch außer-
halb Europas, und strebe ein Mandat des
UN-Sicherheitsrats an. Die Russen müss-
ten Teil der Lösung sein.
Das Echo im Raum blieb verhalten. Ei-
nige Länder, Belgien etwa, wiesen darauf
hin, dass sich die Lage mit der Vereinba-
rung zwischen den Präsidenten Erdogan
und Putin in Sotschi grundsätzlich geän-
dert habe. Klar unterstützt wurde Kramp-

Karrenbauer von ihren Kolleginnen aus
Frankreich und den Niederlanden. Die
lobten den „europäischen Ansatz“. Mit
der französischen Ministerin Florence
Parly beriet sich Kramp-Karrenbauer am
Abend unter vier Augen, später holten sie
den Briten Ben Wallace dazu. Es ging dar-
um, den nächsten Schritt vorzubereiten:
ein Treffen ihrer Regierungschefs mit Er-
dogan. Einen Termin dafür gibt es noch
nicht. Vielleicht Mitte November, viel-
leicht im Umfeld des Nato-Gipfeltreffens
in London. Das ist erst Anfang Dezem-
ber. Bis dahin wollen die drei Verteidi-
gungsminister aus Berlin, Paris und Lon-
don ihre Außenminister hinzuziehen, um
ein Treffen vorzubereiten. Es geht um
drei Themenkomplexe: Wie soll der
Kampf gegen den IS weitergeführt wer-
den? Wie kann die humanitäre Lage in

Nordsyrien stabilisiert werden? Und wie
können die Türken wieder in gemeinsa-
mes Handeln eingebunden werden? Im
Kreis der Nato-Partner wurde mit einiger
Verwunderung registriert, dass die Vertei-
digungsministerin sich nicht vorher mit
ihrem Kollegen Heiko Maas abgestimmt
hatte. Kramp-Karrenbauer konnte nur
für sich selbst und für den Unionsteil der
Bundesregierung sprechen – ein unge-
wöhnliches Vorgehen auf internationa-
lem Parkett. Wohl auch deshalb wollten
sich Parly und Wallace öffentlich nicht zu
dem Vorstoß äußern. „Wir werden dar-
über reden“, sagte die Französin, als sie
im Nato-Hauptquartier eintraf – und mar-
schierte davon.
Kramp-Karrenbauer setzt einstweilen
alles auf London und Paris, eine Nato-
Mission hat sie nicht im Sinn. Erläuternd
hieß es aus ihrem Umfeld, Russland wür-
de einem Einsatz der Allianz in Nordsy-
rien niemals im UN-Sicherheitsrat zu-
stimmen – dort hat Moskau ein Veto. Au-
ßerdem hätten die Amerikaner als wich-
tigster Nato-Partner klargemacht, dass
sie keinen eigenen Beitrag zu einer
Schutzzone leisten würden. Verteidi-
gungsminister Esper sagte das in Brüssel
sogar öffentlich. Es muss aber nicht das
letzte Wort aus Washington gewesen
sein. Als Kramp-Karrenbauer am Don-
nerstagabend mit ihren Kollegen beriet,
machten Meldungen die Runde, dass die
amerikanischen Spezialkräfte nicht, wie
angekündigt, nach Hause zurückkehren,
sondern Ölfelder im Osten Syriens schüt-
zen sollen. Die deutsche Ministerin muss
hoffen, dass die amerikanische Regie-
rung ihre Position ändern könnte, wenn
die Europäer die Verantwortung für eine
Schutzzone am Boden übernehmen.
Ohne amerikanische Hilfe bei Aufklä-
rung, Logistik und insbesondere bei der
Durchsetzung einer Flugverbotszone
wäre ein solcher Einsatz nicht zu stem-
men.
Skeptisch gegenüber einem solchen
Einsatz sind insbesondere die Osteuropä-
er. Sie sehen sich an ihren eigenen Gren-
zen von Russland herausgefordert und
können sich schwer vorstellen, warum
sich die Russen in Syrien plötzlich koope-
rativ verhalten sollten. Groß ist die Sor-
ge, dass Moskau durch den deutschen
Vorstoß zum Partner aufgewertet wird –
das könnte ja der Anreiz für Putin sein, ei-
nem Einsatz im UN-Sicherheitsrat zuzu-
stimmen. Die Balten und die Polen sind
auch deshalb alarmiert, weil der französi-
sche Präsident Emmanuel Macron das
Verhältnis zu Russland neu justieren
will. Europa werde nie stabil und sicher
sein, wenn es nicht seine Beziehungen zu
Russland kläre und entspanne, hatte Ma-
cron Ende August gesagt. Als Kramp-Kar-
renbauer Anfang des Monats im Balti-
kum unterwegs war, bekam sie die Sor-
gen dort ungefiltert zu hören. Sie wer-
den, das macht es zusätzlich schwierig,
in London geteilt.

Höcke verliert vor Gericht
Der Fraktionsvorsitzende der AfD in
Thüringen, Björn Höcke, ist vor dem
Verwaltungsgericht Köln mit dem An-
trag gescheitert, dem Bundesamt für
Verfassungsschutz (BfV) die „Der ,Flü-
gel‘ wird immer extremistischer“ Äuße-
rung untersagen zu lassen. Das hat das
Gericht am Donnerstagabend entschie-
den. In einem Gespräch mit der Zeit-
schrift „Der Spiegel“ hatte der Präsi-
dent des BfV zunächst auf die Frage,
ob Höcke für ihn ein Rechtsextremist
sei, geantwortet: „Ich bitte um Ver-
ständnis, dass ich mich kurz vor einer
Landtagswahl aus rechtlichen
Erwägungen nicht zu einem Spitzen-
kandidaten äußern kann.“ Über den
brandenburgischen AfD-Landesvor-
sitzenden Andreas Kalbitz sagte er:
„Er ist wie Höcke ein führender Kopf
des ‚Flügels‘... Der ‚Flügel‘ wird im-
mer extremistischer.“Dieser Satz be-
einträchtige seine Chancen bei der Thü-
ringer Landtagswahl, argumentierte
Höcke. Das Gericht verwarf den An-
trag aber schon deshalb, weil der Satz
nicht auf Höcke persönlich bezogen ge-
wesen sei. Das ergebe sich auch aus der
vorausgehenden Äußerung des BfV-
Präsidenten. Der dürfe über den „Flü-
gel“, der seit Januar 2019 als Verdachts-
fall eingestuft ist, auch öffentlich be-
richten. Die vom Bundesamt vorgeleg-
ten Auszüge aus Reden von Vertretern
des „Flügels“ rechtfertigten zudem die
Äußerung, dass die Gruppierung im-
mer extremistischer werde. (mgt.)

Union will bessere Beratung
Bei der Diagnostik von Behinderun-
gen und Erkrankungen ungeborener
Kinder wollen die Gesundheitspoliti-
ker der Unionsfraktion erreichen, dass
werdende Eltern besser beraten wer-
den. Neuartige vorgeburtliche Tests
könnten den „Druck auf Schwangere
und ihre Partner“ erhöhen, warnen die
Abgeordneten in einem Positions-
papier, das am Freitag veröffentlicht
wurde. Werdende Eltern müssten da-
her „weitaus früher, systematisch und
deutlich verbesserte Informationen
und Hilfen“ bekommen. Man wolle so
eine „positive Entscheidung für das Le-
ben mit einem beeinträchtigten Kind
fördern“, schreiben die Abgeordneten
um Rudolf Henke und Stephan Pilsin-
ger. Das Papier bezieht sich auf einen
Bluttest auf das Down-Syndrom, der
bald von den Kassen bezahlt wird, so-
wie weitere Bluttests unter anderem
auf Mukoviszidose. (kbb.)

Vorstoß zu Organspenden
Bundesgesundheitsminister Jens
Spahn (CDU) hat eine Debatte über
Lebend-Organspenden angemahnt.
Bislang dürfen nur enge Angehörige
und Nahestehende etwa eine Niere
spenden. Spahn regte indirekt an, das
neu regeln zu wollen. Im Herbst will
der Bundestag über eine grundlegende
Reform der Organspende bei Patienten
mit festgestelltem Hirntod abstimmen.
„Aus meiner Sicht ist es damit noch
nicht zu Ende“, zitierte die Zeitschrift
„Der Spiegel“ Jens Spahn. Die Worte
sollen auf einer Veranstaltung des
Bundesverbands der Organtrans-
plantierten gefallen sein. (kbb.)

Amoklauf in Sibirien
Ein russischer Wehrdienstleistender
hat in der sibirischen Region Transbai-
kalien nach offiziellen Angaben acht
Kameraden erschossen und zwei weite-
re verwundet. Der Vorfall ereignete sich
demnach in einer Kaserne in der Sied-
lung Gornij. Das Verteidigungsministe-
rium vermutet, der Schütze, der festge-
nommen wurde, habe aufgrund eines
Nervenzusammenbruchs gehandelt,
der persönlich begründet sei und nichts
mit dem Dienst zu tun habe. (frs.)

boe.PEKING, 25. Oktober. Nach dem
Fund von 39 toten chinesischen Migran-
ten in einem Lastwagen bei London hat
die chinesische Parteizeitung „Global
Times“ scharfe Kritik an den britischen
Behörden geübt. Die Regierung in Lon-
don habe offenbar keine Lehren aus der
Tragödie von Dover gezogen, wo im Jahr
2000 die Leichname von 58 Chinesen in ei-
nem Lastwagen gefunden worden waren.
„Man stelle sich vor, was für umfassende
Maßnahmen europäische Länder ergrif-
fen hätten, wenn Dutzende Europäer ge-
meinsam auf so tragische Weise getötet
worden wären“, hieß es in dem Kommen-
tar. Die Menschen in Europa müssten sich
fragen, warum sie nicht in der Lage gewe-
sen seien, eine Wiederholung einer sol-
chen Tat zu verhindern. Großbritannien
und andere beteiligte Länder sollten „ihre
Verpflichtungen mit Blick auf die Men-
schenrechte einhalten und sich bemühen,
chinesische Bürger vor Misshandlung und
Tod zu bewahren“, schreibt die Zeitung.
Die chinesische Regierung hob indes
hervor, es sei noch nicht bestätigt, dass es
sich bei den Opfern tatsächlich um chinesi-
sche Staatsbürger handele. Die britische
Polizei verifiziere derzeit noch die Natio-
nalität der Toten. Die Sprecherin des Au-
ßenministeriums Hua Chunying forderte
eine „harte Bestrafung“ der Täter. Die
chinesischen Botschaften in London und
Brüssel stünden im engen Kontakt mit
den dortigen Behörden und hätten diese
zu raschen und umfassenden Ermittlun-
gen aufgefordert. „Die chinesische Regie-

rung misst diesem Fall große Bedeutung
zu“, sagte sie. „Diese Tragödie sollte die
Aufmerksamkeit der Welt auf illegale Ein-
wanderung lenken.“ Die internationale
Gemeinschaft müsse ihre Zusammenar-
beit im Kampf gegen kriminelle Schlepper
verstärken.
In der chinesischen Öffentlichkeit wur-
de die Frage diskutiert, warum Bürger aus
einem so entwickelten Land wie China ihr
Leben in die Hände zwielichtiger Schlep-
per legen sollten. Kaum bekannt ist in Chi-
na die Tatsache, dass viele der Opfer mo-
derner Sklaverei in Großbritannien aus
der Volksrepublik stammen. Laut einem
britischen Regierungsbericht aus dem ver-
gangenen Jahr steht China an vierter Stel-
le der Herkunftsländer der Opfer. In den
meisten Fällen ging es um die Ausbeutung
ihrer Arbeitskraft. Häufig sind die Opfer
in ihrer Heimat verschuldet. Chinas
Staats- und Parteimedien gingen auf diese
Hintergründe am Freitag nicht ein.
Unterdessen nahm die britische Polizei
am Freitag zwei weitere Personen fest. Es
handele sich um einen 38 Jahre alten
Mann und eine Frau gleichen Alters. Ih-
nen würden Menschenhandel in 39 Fällen
sowie Totschlag in 39 Fällen vorgeworfen,
teilte die Polizei am Freitag mit. Der
schon zuvor festgenommene, in Nordir-
land wohnhafte Fahrer des Lastwagens, in
dem die Leichname gefunden worden wa-
ren, stehe weiter unter Mordverdacht und
bleibe in Haft, teilte die Polizei weiter mit.
Der Inhaftierungsbeschluss gegen ihn sei
am Donnerstag verlängert worden.

cheh.BEIRUT, 25. Oktober. Im Irak
sind die Proteste gegen die Regierung
wieder aufgeflammt. Die Sicherheits-
kräfte setzten nach Angaben von Au-
genzeugen Tränengas, Blendgranaten
und Gummigeschosse gegen Demons-
tranten ein, die sich in der Nacht zum
Freitag im Zentrum von Bagdad ver-
sammelt hatten und in Richtung der
„Grünen Zone“ marschierten, in der
Regierungsgebäude und ausländische
Botschaften liegen. Bis zum Freitag-
nachmittag wurden mindestens zwei
Tote gemeldet. Anfang des Monats hat-
te die Wut über Korruption, den maro-
den Staat und wirtschaftliche Not gro-
ße Menschenmengen auf die Straße ge-
trieben. Sie setzten sich gegen ein Sys-
tem zur Wehr, in dem Posten nicht
nach Qualifikation, sondern nach Zu-
gehörigkeit zu Bevölkerungsgruppen
vergeben werden. Die Proteste waren
nach wenigen Tagen zum Erliegen ge-
kommen, weil ein Blutbad an den De-
monstranten angerichtet wurde. Nach
Angaben eines Untersuchungsberichts
der Regierung, der diese Woche veröf-
fentlicht wurde, wurden mindestens
149 Zivilisten getötet; zum Teil durch
Kopfschüsse von Heckenschützen, wie
Augenzeugen berichteten. Sie sahen
außerdem, wie Krankenwagen gezielt
unter Feuer genommen wurden. Der
schiitische Prediger Muqtada al Sadr,
der große Massen mobilisieren kann
und auf dessen Kommando auch be-
rüchtigte Milizionäre hören, unter-
stützt die Protestbewegung. Er rief sei-
ne Truppen auf, von Donnerstag an in
Alarmbereitschaft zu sein.
Ministerpräsident Adel Abdul Mah-
di bat in der Nacht zum Freitag die Be-
völkerung um Geduld. In einer Rede
sprach er von einer „systemischen Kri-
se“ und erklärte, es werde Zeit brau-
chen, die Probleme des Landes zu lö-
sen. Wenn die Regierung stürze, werde
Irak „ins Chaos“ abgleiten. Wie Regie-
rungschef Mahdi rief der wichtigste re-
ligiöse Führer im Irak, Großajatollah
Ali al Sistani, alle beteiligten zur Zu-
rückhaltung auf. Der schiitische Ge-
lehrte rief Demonstranten und Sicher-
heitskräfte dazu auf, friedlich zu blei-
ben. Zugleich machte Sistani, der sich
nur selten zu politischen Fragen äu-
ßert, deutlich, die Sicherheitskräfte
dürften Gewalt gegen privaten und öf-
fentlichen Besitz nicht zulassen. Der
Regierungsbericht zu den vergangenen
Gewaltexzessen hat heftige Kritik her-
vorgerufen. Vor allem wird ihm vorge-
worfen, deutliche Anschuldigungen ge-
gen von Iran gelenkte schiitische Mili-
zen zu vermeiden, die unter dem Dach
der „Volksmobilisierung“ (Haschd al
schaabi) firmieren. Diese werden ge-
meinhin hinter den schlimmsten Ge-
waltexzessen vermutet. Die Regierung
hat angekündigt, Verfahren gegen min-
destens ein Dutzend Offiziere aus Poli-
zei und Militär zu eröffnen.(Kommen-
tar Seite 8.)


jib.WIESBADEN, 25. Oktober.Die Op-
position im Hessischen Landtag hat Lan-
desinnenminister Peter Beuth (CDU)
Scheinheiligkeit und Ablenkungsversuche
vorgeworfen, nachdem sich dieser erst-
mals offen für einen Untersuchungsaus-
schuss im Fall des ermordeten Kasseler Re-
gierungspräsidenten Walter Lübcke ge-
zeigt hatte. Angesichts der bisher „desa-
strösen Informationspolitik“ Beuths seien
dessen Äußerungen „mehr als scheinhei-
lig“, sagte der Parlamentarische Geschäfts-
führer der SPD-Landtagsfraktion, Günter
Rudolph, am Freitag in Wiesbaden.
Schließlich sei es „auch die fehlende Auf-
klärung“ durch Beuth, die einen Untersu-
chungsausschuss voraussichtlich notwen-
dig mache. Der Sprecher für Innenpolitik
der FDP-Fraktion, Stefan Müller, warf
Beuth ein „Ablenkungsmanöver“ vor. Die
Verantwortung für das „offenkundig er-
neute Versagen“ des Verfassungsschutzes
und des Innenministeriums im Kampf ge-
gen rechten Terror könne nur in einem Un-
tersuchungsausschuss angemessen be-
leuchtet werden, sagte die Fraktionsvorsit-
zende der Linken, Janine Wissler.
Beuth steht wegen möglicher Verfehlun-
gen des hessischen Verfassungsschutzes
im Fall Lübcke seit Wochen unter Druck.
Fraglich ist vor allem, warum die Behör-
de, die eine Akte über den als gewaltbe-
reiten Rechtsextremen bekannten mut-
maßlichen Mörder Lübckes führte, diesen
2015 als „abgekühlt“ einschätzte und sei-
ne Akte sperrte. Fraglich ist weiterhin, ob
der umstrittene einstige Verfassungs-
schutzmitarbeiter Andreas Temme zu die-

ser Fehleinschätzung beitrug. Temme, des-
sen Rolle beim NSU-Mord in Kassel 2006
unklar ist, hatte zwei Berichte in der Perso-
nenakte des mutmaßlichen Mörders na-
mentlich gezeichnet. Beide Aspekte dürf-
ten im Fokus eines möglichen Untersu-
chungsausschusses stehen.
Die Vorsitzenden der Regierungsfrak-
tionen von CDU und Grünen im Landtag,
Michael Boddenberg und Mathias Wag-
ner, warben am Freitag in einem Schrei-
ben an ihre Kollegen von SPD und FDP
für ein „gemeinsames Vorgehen“ und eine
„frühzeitige Abstimmung (.. .) über einen
gemeinsamen Einsetzungsantrag“, sollte
die Opposition einen Untersuchungsaus-
schuss beantragen wollen. „Weder man-
gelnde Aufklärung noch haltlose Unter-
stellungen“ seien für das Vertrauen der Be-
völkerung in den Staat dienlich, heißt es
in dem Schreiben.
Beuth verteidigte derweil das Vorgehen
der Sicherheitsbehörden und verwies auf
„messbare Erfolge“. Die Behörden seien
zuletzt „massiv“ gegen Rechtsextreme vor-
gegangen. So sei durch die Ermittlungen
der Taskforce „Capture“, einer Sonderein-
heit in der Polizei, die Anzahl offener Haft-
befehle gegen Rechtsextremisten von 31
im März dieses Jahres auf nun 14 verrin-
gert worden. Erst am Mittwochabend sei-
en fünf Haftbefehle gegen Rechtsextremis-
ten und Reichsbürger in Hessen voll-
streckt worden, so Beuth. Auch künftig
würden die Polizeibehörden die rechtsex-
tremistische Szene „spürbar stören und
Straftäter mit allen Mitteln des Rechts-
staats verfolgen“, sagte der Innenminister.

Provisorium:Kinder geflüchteter Familien im nordsyrischen Hasake Foto AFP


China kritisiert britische Behörden


„London muss chinesische Bürger besser schützen“


Her.ANKARA, 25. Oktober. Die Verei-
nigten Staaten wollen nun doch mit
mehr Soldaten in Nordsyrien präsent
sein als bislang bekanntgegeben. Ein
Sprecher des Pentagons sagte, es solle
verhindert werden, dass Ölfelder in die
Hände des IS oder „anderer destabilisie-
render Akteure“ fielen. Daher würden
die Vereinigten Staaten mit „zusätzli-
chen militärischen Mitteln“ und „in Ko-
ordination“ mit den kurdisch dominier-
ten Syrischen Demokratischen Kräften
(SDF) ihre Position in der Region stär-
ken. Laut Magazin „Newsweek“ sollen
bis zu 30 Abrams-Panzer und zusätzli-
che Soldaten entsandt werden.
Unterdessen baut Russland seine mi-
litärische Präsenz in Nordsyrien aus. So
hat das Verteidigungsministerium in
Moskau mitgeteilt, 300 zusätzliche russi-
sche Militärpolizisten seien nach Syrien
verlegt worden. Sie sollen in Nordsy-
rien patrouillieren und dazu beitragen,
dass sich die kurdischen Milizen, wie
vereinbart, aus dem 30 Kilometer brei-
ten Streifen an der Grenze zur Türkei
zurückziehen. Auch syrische Sicher-
heitskräfte kehren in ein Gebiet zurück,
das bislang Kurden und amerikanische
Soldaten kontrolliert haben.
In Ankara hat der türkische Präsi-
dent Recep Tayyip Erdogan den Heraus-
geber und einen Autor der französi-
schen Zeitschrift „Le Point“ wegen Prä-
sidentenbeleidigung angezeigt. Die Aus-
gabe der Zeitschrift vom 24. Oktober
zeigt auf der Titelseite Erdogan und die
Schlagzeile „Ethnische Säuberung, die
Methode Erdogan: Der Ausrotter“. Das
sei nicht mehr durch Meinungsfreiheit
oder als Meinung in einer politischen
Auseinandersetzung gedeckt, argumen-
tiert Erdogans Anwalt Hüseyin Aydin.
Zudem fordert die Türkei von den
Vereinigten Staaten die Auslieferung
des kurdischen Kommandeurs der Syri-
schen Demokratischen Kräfte (SDF),
Maslum Abdi. Der türkische Justizminis-
ter Abdullah Gül sagte, sollte Abdi ame-
rikanischen Boden betreten, müsse er
der Türkei übergeben werden. Der ame-
rikanische Präsident Donald Trump hat-
te am Mittwoch getwittert, er freue sich,
den General „bald zu sehen“. Tags dar-
auf schrieb er, er habe die Unterhaltung
mit ihm „wirklich genossen“. Der UN-
Sondergesandte für Syrien, Geir Peder-
sen, sagte Reuters, es sehe so aus, als ob
die vereinbarte Feuerpause „im Großen
und Ganzen“ halte.


Auch Beuth offen für Untersuchung


Mordfall Lübcke / Opposition: Ablenkungsmanöver


Personalien


Wichtiges in Kürze


mgt. FRANKFURT, 25. Oktober. In der
Schweizer Spendenaffäre drohen der AfD
Strafzahlungen in Höhe von 396 000
Euro. Das geht aus einem Schreiben der
Bundestagsverwaltung hervor, in dem die
Partei zu einer Stellungnahme aufgefor-
dert wird. Es handelt sich um den letzten
Schritt im derzeit laufenden Prüfverfah-
ren der Bundestagsverwaltung. Zuerst
hatten die „Süddeutsche Zeitung“, NDR
und WDR darüber berichtet. Ein Spre-
cher des Bundestages bestätigte den Vor-
gang gegenüber dieser Zeitung. Über ei-
nen Anspruch gegen die AfD werde nach
Abschluss der Anhörung entschieden.

Das Schreiben erreichte die AfD laut ih-
rem Bundesschatzmeister Klaus Fohr-
mann schon vor etwa einem Monat. Der-
zeit arbeite man an der Stellungnahme,
sagte Fohrmann dieser Zeitung.
Vergangenen Herbst war bekanntge-
worden, dass der AfD-Kreisverband Bo-
denseekreis zwischen Juli und September
2017 gut 132 000 Euro in 17 Tranchen er-
halten hatte. Als Absender stand auf den
Kontoauszügen, die Züricher Firma
„PWS PharmaWholeSale International
AG“. Spenden aus Nicht-EU-Ländern
sind illegal, wenn sie nicht von EU-Bür-
gern stammen. Beträge über 50 000 Euro
müssen zudem unverzüglich der Bundes-
tagsverwaltung angezeigt werden.
Der Eigentümer der „PWS Pharma-
WholeSale International AG“, der Züri-

cher Apotheker Kurt Häfliger, ließ zu-
nächst erklären, bei der Überweisung
habe es sich nur um einen Freundschafts-
dienst gegenüber einem Geschäftsfreund
gehandelt. Dieser habe das Geld von ei-
ner europäischen Großbank auf ein Kon-
to der PWS überwiesen, mit der Maßga-
be, die Summen an die AfD weiterzulei-
ten. Wenige Wochen später verwies Häfli-
ger auf eine Liste mit den Namen 14 über-
wiegend deutscher Personen, der ver-
meintlich wahren Spender. Schnell stellte
sich heraus, dass die Liste fingiert war.
Bei dem „Geschäftsfreund“ handelte es
sich offenbar um einen in Zürich und
Großbritannien lebenden Milliardär.
Die AfD meldete den Gesamtbetrag
nicht der Bundestagsverwaltung. Sie argu-
mentierte, eine Anzeigepflicht habe auf-

grund der Stückelung nicht bestanden.
Um den Vorwurf illegaler Spenden aus ei-
nem Nicht-EU-Land auszuräumen, berief
sich die Partei zunächst auf die vermeint-
lich aus Deutschland stammenden Spen-
der. Am 14. April 2018 – neun Monate
nach Eingang der ersten Zahlung – über-
wies die Partei den Gesamtbetrag bis auf
einen Restbetrag an die Schweizer Firma
zurück; sie habe das Geld insofern nie „er-
langt“. Laut Parteiengesetz gelten Spen-
den als nicht eingenommen, die „unver-
züglich“ zurücküberwiesen werden. Nach
Ansicht der Bundestagsverwaltung ge-
schah das aber zu spät. Sollte sie ein Buß-
geld in Höhe von 396 000 Euro verhän-
gen, wäre das die dritte Strafzahlung, zu
der die AfD in Finanzierungsfällen ver-
pflichtet würde.

Kramp-Karrenbauers neue Tonlage


Neue Proteste


imIrak


Amerika schützt


syrische Ölquellen


AfD droht Strafe in Höhe


von 396 000 Euro


Die Nato-Partner


reagieren verhalten auf


die Initiative der


für eine Schutzzone im


Norden Syriens. Lob


kommt nur aus Paris


und Den Haag.


Von Thomas Gutschker

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