Frankfurter Allgemeine Zeitung - 26.10.2019

(Michael S) #1

SEITE 8·SAMSTAG, 26. OKTOBER 2019·NR. 249 Zeitgeschehen FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


W


ares nicht die SPD gewesen, die
besonders laut von der Verteidi-
gungsministerin verlangt hatte, vor au-
ßenpolitischen Äußerungen gründlich
nachzudenken? Auch der Fraktions-
vorsitzende Mützenich gehörte zu den
Kritikern, die beklagten, die CDU-
Chefin habe mit ihrem Syrien-Vorstoß
ein „Riesendurcheinander“ angerich-
tet.Man darf daher davon ausgehen,
dass er selbst gründlich nachgedacht
hat, bevor er nun die Nato-Mitglied-
schaft der Türkei in Frage stellte und
die Drohkulisse auch noch mit der Auf-
lösung der Zollunion ausschmückte.
Das ist nicht nur wegen der Vorge-
schichte mehr als „skurril“, wie der frü-
here Außenminister Gabriel die Äuße-
rung seines Genossen nannte. Trotz
des schwierigen Verhältnisses zu Erdo-
gan wären die Nato-Staaten mit dem
Klammerbeutel gepudert, wenn sie die
Türkei noch weiter in die Arme Putins
trieben. Eine bindungslos zwischen
den Welten irrlichternde Türkei wäre
ein sicherheitspolitischer Albtraum für
Europa. Und hat nicht Maas gesagt, für
„theoretische Debatten“ sei jetzt keine
Zeit? Oder hat Mützenich das schon
mit den Verbündeten abgestimmt? bko.


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ie Proteste, die 2011 die arabische
Welt erschütterten, sind in diesem
Jahr zu neuem Leben erwacht. In Su-
dan und in Algerien wurden bereits Prä-
sidenten gestürzt, Tunesien versucht ei-
nen verheißungsvollen Neuanfang. Ei-
nige Staaten halten mit eiserner Repres-
sion den Druck im Kessel, ohne dass er
deswegen geringer würde, Ägypten
zum Beispiel. Andere Staaten, der Irak
und der Libanon, sind nicht mehr stark
genug, um den Zorn der meist jungen
Demonstranten im Zaum zu halten.
Dieser Zorn richtet sich gegen die
schlechte Regierungsführung, die Kor-
ruption und die schamlose Bereiche-
rung einiger auf Kosten der vielen. Die
Demonstranten geben nicht dem Aus-
land die Schuld an den Missständen,
sondern ihren korrupten, unfähigen po-
litischen Eliten, die sich keinem Ge-
meinwohl verpflichtet fühlen. Optimis-
tisch stimmt, dass die Demonstranten
keinem Konfessionalismus und keiner
Ideologie folgen. Sie haben aus den Feh-
lern der Protestierenden früherer Jahre
gelernt: Sie lassen sich nicht mit kosme-
tischen Änderungen abspeisen, son-
dern wollen auf der Straße bleiben, bis
ihre Forderungen erfüllt werden. Her.


W


elche trüben Blüten das Brexit-
Thema treibt, zeigt diese Umfra-
ge: Deutliche Mehrheiten in England,
Schottland und Wales halten Gewalt ge-
gen Abgeordnete für ein geeignetes Mit-
tel in diesem Konflikt. Bemerkenswert,
dass es diesen gefährlichen Hemmungs-
verlust bei Befürwortern des EU-Aus-
tritts wie bei dessen Gegnern gibt; wo-
bei die Gewaltakzeptanz unter Brexit-
Anhängern in England und Wales am
größten ist, in den Landesteilen, in de-
nen beim Referendum Mehrheiten für
den Austritt waren. Hier dürfte die po-
pulistische Parole vom „Volk gegen Par-
lament“ auf fruchtbaren Boden fallen.
Die Brexit-Saga scheint jedenfalls die
Radikalisierung forciert zu haben. Es
ist schwer zu sagen, ob Neuwahlen, die
Premierminister Johnson will, dem Ein-
halt gebieten könnten. Sollte der Brexit
am Wahltag noch immer nicht vollzo-
gen sein, dürfte dem Land ein giftig-hit-
ziger Wahlkampf bevorstehen – mit der
Betonung auf Kampf. Aber an Wahlen
führt letztlich kein Weg vorbei. Das soll-
te auch die Opposition erkennen. Im-
merhin wird das Land entgegen John-
sons großmäuligen Sprüchen am 31.
Oktober weiter EU-Mitglied sein. K.F.


Zeiten ändern sich, auch für Dietmar
Woidke. Bisher galt der brandenburgi-
sche Ministerpräsident als jemand, der
oft einsame Entscheidungen trifft. Als
großer Integrator war er bisher nicht
aufgefallen. Das Wahlergebnis vom 1.
September macht aber gerade das nö-
tig. Denn nur ein Bündnis aus drei Par-
teien hat die Mehrheit der Sitze im
Landtag. Woidkes Verhältnis zur Links-
partei ist nicht gut, eine rot-rot-grüne
Koalition hätte außerdem nur eine
Stimme Mehrheit gehabt. Das hätte
schon bei der Wahl zum Ministerpräsi-
denten schiefgehen können. Also legte
sich der 58 Jahre alte promovierte
Agraringenieur auf ein Kenia-Bündnis
fest, wie es das schon in Sachsen-An-
halt gibt, bald vielleicht auch in Sach-
sen. Woidke musste seine konservative
Kohle-SPD zusammenbringen mit der
stark geschwächten CDU, in der es
noch so manche Hardliner gibt, und
Grünen, die auch vom Protest von „Fri-
days for Future“ profitierten und am
liebsten morgen mit dem Verbrennen
fossiler Rohstoffe aufhören würden.
Trotzdem brauchten die drei Parteien
nur knapp acht Wochen, bis sie sich ei-
nig waren. Das ist auch Woidkes Ver-
dienst.
Überhaupt hat ihn diese Wahl gefor-
dert wie keine andere. Nur wenige Wo-
chen vor der Wahl lag die SPD in Umfra-
gen noch bei 17 Prozent. Die SPD und
ihr Spitzenkandidat machten es strate-
gisch richtig, als sie die Landtagswahl
zu einem Zweikampf machten: Entwe-
der gewinnen die Sozialdemokraten –
oder die AfD wird stärkste Kraft. Diese
Zuspitzung auf „Demokraten vs. Anti-
demokraten“ ließ die SPD aufholen
und stärkste Kraft werden. Dazu kam
der Amtsbonus des Ministerpräsiden-
ten. Woidke mag oft als langweilig und
auch kauzig erscheinen, aber die Bran-
denburger kennen ihn wenigstens und
haben den Eindruck, mit ihm einen ver-
lässlichen Politiker an der Spitze des
Landes zu haben. Und er ist ihnen alle-
mal lieber als Andreas Kalbitz, Spitzen-
kandidat der AfD und Strippenzieher
des „Flügels“. Kalbitz’ Vita weist viele
rechtsextreme „Bezüge“ auf. Die bran-
denburgische Landtagswahl war also
mehr eine Personen- als eine Parteien-
wahl. Ähnlich war es in Sachsen, wo
der CDU-Mann Michael Kretschmer
von diesem Effekt profitierte. Und am
Sonntag hoffen Bodo Ramelow und die
Linke auf diesen Wahlfaktor.
Woidke stammt aus der Lausitz.
Nach dem Studium arbeitete er als wis-
senschaftlicher Assistent. Danach wur-
de er Amtsleiter für Landwirtschaft im
Landkreis Spree-Neiße und fand so
1993 zur SPD. 1994 wurde er in den
Landtag gewählt und gehört seither
dem Parlament an. Er war Fraktionsvor-
sitzender, Innenminister und Umwelt-
minister. Nach dem Rücktritt von Mat-
thias Platzeck wurde er 2013 Minister-
präsident.
Taugen Woidke und seine Koalition
am Ende gar als Vorbild? Erstens für
eine geschwächte, im Vergleich zur
Bundespartei aber wenigstens gewin-
nende Partei? Und zweitens als Bünd-
nis, das die veränderten politischen Rea-
litäten nicht nur als Gefahr, sondern
auch als Chance begriffen hat, als Bünd-
nis einer „neuen Mitte“? Das wird die
Zeit zeigen, aber ausgeschlossen ist es
nicht. MONA JAEGER

ANKARA, 25. Oktober


S


elbst wenn eine Mehrheit der Tür-
ken den Einmarsch ihrer Armee in
Nordsyrien gutheißt, hat die Begeis-
terung für die „Operation Friedensquel-
le“ nicht das ganze Land erfasst. Kritik äu-
ßern liberale Intellektuelle sowie Politi-
ker der prokurdischen HDP, teilweise
auch der linken CHP. In den großen Mas-
senmedien findet die Kritik jedoch kei-
nen Widerhall. Sie ist auch nicht ungefähr-
lich. Denn manche wurden wegen ihrer
Kurznachrichten in sozialen Medien fest-
genommen. Nach der offiziellen Sprachre-
gelung befindet sich die Türkei nicht im
Krieg, sondern in einer Operation gegen
den Terror.
Einer der prominentesten Kritiker des
militärischen Vorgehens der Türkei in
Nordsyrien ist Mithat Sancar, der stellver-
tretende Sprecher des türkischen Parla-
ments. Er bezeichnet die Militäroperation
als „abenteuerlich und gefährlich“. Denn
neben dem kurzfristigen Ziel des Machter-
halts ziele der türkische Präsident Recep
Tayyip Erdogan langfristig auf die Infrage-
stellung des Friedensvertrags von Lausan-
ne aus dem Jahr 1923, der die Grenzen der
heutigen Türkei festgelegt hatte.Sancar
vertritt im Parlament die überwiegend
von Kurden bewohnte Provinz Mardin.
Sancar hält es für „oberflächlich“, das
militärische Vorgehen allein mit Erdo-
gans Kalkül der Festigung seiner Macht
zu begründen. Zwar sei es Erdogan gelun-
gen, durch das Aufheizen der nationalisti-
schen Gefühle und den Anspruch, einen
„Krieg gegen den Terror“ zu führen, die
Opposition gegen ihn und die Kritik an
seiner Herrschaft vorläufig zum Verstum-
men zu bringen. Für wichtiger und gefähr-
licher hält der Juraprofessor jedoch Erdo-
gans langfristiges Kalkül.
So wolle Erdogan die Republik Türkei
unter seiner autoritären Herrschaft umge-
stalten. Erdogan und seine AKP verhiel-
ten sich dabei wie andere rechtspopulisti-
sche Bewegungen, die mit scheindemo-
kratischer Legitimation auf jeweilige Be-
sonderheiten ihrer Länder zurückgreifen
würden. So fällt Erdogans Bestreben mit

dem 100. Jahrestag des türkischen Unab-
hängigkeitskriegs zusammen, der von
1919 bis 1923 gedauert hat. Schon seit
Jahren spricht Erdogan von der „Neuen
Türkei“ unter seiner Führung.
Für ein neues Verständnis der Republik
brauche man Mythen, sagt Sancar. Ge-
scheitert sei aber Erdogans Versuch, den
Putschversuch vom 16. Juli 2016 zum
Gründungsmythos seiner Herrschaft zu
machen. Nun biete sich mit „Heldentum
und Krieg“ die Chance eines neuen Grün-
dungsmythos. Schließlich benötige in der
Türkei ein Krieg aufgrund der Sakralisie-
rung der Armee keine Begründung.
Erdogan greife dabei, wie viele Politi-
ker vor ihm, auf die Kurdenfrage zurück,
die in der Republik seit der Gründung
1923 virulent ist und seither als Bedro-
hung für die territoriale Integrität der Tür-
kei gilt. In diesem Prozess sei die Kurden-
frage zu einer „Ideologie“ geworden, be-
dauert Sancar. So könne das militärische
Vorgehen mit der „Gefahr eines kurdi-
schen Staats“ und dem „Terror“ in Nordsy-
rien gerechtfertigt werden, obwohl von

dort nie ein Angriff der Kurden auf die
Türkei erfolgt sei. Die syrischen Kurden
hätten sich nicht in türkische Angelegen-
heiten eingemischt, sondern lediglich
ihre Region stabilisiert. Dabei hätten die
syrischen Kurden für die Wende im Krieg
gegen den IS gesorgt. „Sonst sähe die Regi-
on heute anders aus.“ Wäre der „kurdi-
sche Korridor“ an sich wirklich eine Ge-
fahr für die Türkei, würde es, so Sancar, ja
ausreichen, die Grenze zu sichern. Ziel
sei jedoch, diesen „kurdischen Korridor“
in einen „türkischen Korridor“ zu verwan-
deln. Dieser werde, so Sancar, nicht mehr
nur „horizontal“ gedacht, also parallel
zur türkischen Grenze, sondern mit Stoß-
richtung auf die nordirakischen Städte
Kirkuk und Mossul auch „vertikal“. Einen
solchen Traum verfolge die Türkei seit
dem Friedensvertrag von Lausanne.
Der Vertrag hatte keine Lösung dafür
gebracht, wem die Provinz Mossul zuge-
schlagen werden soll. So richtete der Arti-
kel 3 eine türkisch-britische Kommission
ein, die den Konflikt beilegen sollte. Dann
plante Atatürk 1924, Mossul zu besetzen

und die Briten zu vertreiben. Dazu kam es
nicht. Vielmehr schlug der Völkerbund
1926 die Provinz dem Irak zu. Die Türkei
akzeptierte noch im selben Jahr die Ent-
scheidung, also auch die bis heute gültige
Grenze zwischen dem Irak und der Tür-
kei.Wiederholt haben türkische Politiker
aber Anspruch auf den Nordirak erhoben.
So sagte 1991 während des zweiten Golf-
kriegs der damalige türkische Präsident
Turgut Özal, die Türkei werde Mossul und
Kirkuk entweder bei diesem Krieg zurück-
bekommen oder beim nächsten.
Auch der heutige Präsident Erdogan
stellt die Regelungen, die nach dem Ers-
ten Weltkrieg zur Gründung der Republik
Türkei geführt haben, in Frage. Erstmals
hatte er 2016 von „unfairen Bestimmun-
gen“ in dem Vertrag von Lausanne und ei-
ner „Niederlage der Türkei“ gesprochen.
Am vergangenen Montag sagte er, was
bei diesem Vertrag erreicht worden sei,
sei ein „Mindestmaß“. Die Türkei hätte,
in anderen Worten, mehr bekommen sol-
len. Auch in den regierungsnahen Me-
dien häufen sich Hinweise auf den „unfai-
ren“ Vertrag von Lausanne.
Sancar hält dieses Ansinnen, den Ver-
trag von Lausanne und damit die heuti-
gen Grenzen in Frage zu stellen, für „sehr
gefährlich“. Das könne die gesamte Regi-
on destabilisieren sowie konfessionelle
und ethnische Spannungen und Kriege in
Syrien und im Irak entflammen. Eine Ge-
fahr für die Türkei seien die wirtschaftli-
chen, politischen und diplomatischen
Kosten der Operation. Zudem nähmen
die Spannungen in der Gesellschaft zu.
So sind in den jüngsten Tagen wieder Bür-
germeister der HDP festgenommen wor-
den, etwa in Nusaybin, der Heimatstadt
Sancars, wo die Bürgermeisterin mit 77
Prozent gewählt worden war.
Erdogan nutze jedoch die derzeitige,
für ihn günstige internationale Konstella-
tion. So schaffe die Unbestimmtheit der
amerikanischen Nahostpolitik ein Vaku-
um, in das Erdogan stoßen könne. Auch
Russland, das die Türkei ködere, das Re-
gime Assad anzuerkennen, komme Erdo-
gan in der Frage des „kurdischen Korri-
dors“ entgegen.

Dietmar WOIDKE Foto Matthias Lüdecke


HEIDELBERG,25. Oktober
Kürzlich lud Ministerpräsident Winfried
Kretschmann zu einem „Forum Gesund-
heitsstandort“ in die Stuttgarter Reithalle
ein. Die Gesundheitswirtschaft wurde als
„entscheidende Zukunftsbranche“ vorge-
stellt. Aber über das derzeit größte Pro-
blem der baden-württembergischen Ge-
sundheitswirtschaft, die Krise des Heidel-
berger Universitätsklinikums – ausgelöst
durch die sensationsgierige Vermarktung
eines nicht marktfähigen Bluttests zur
Frühdiagnose von Brustkrebs –, sprachen
weder Kretschmann noch seine Wissen-
schaftsministerin Theresia Bauer (beide
Grüne).
In dieser Woche zeigte sich abermals,
dass das Kapitel „Brustkrebstest“ in Hei-
delberg längst nicht abgeschlossen ist. Das
Verwaltungsgericht Karlsruhe untersagte
dem Aufsichtsrat der Universitätsklinik
Heidelberg, eine Pressekonferenz abzuhal-
ten, auf der abschließend die Ergebnisse
der Untersuchungskommission vorgestellt
werden sollten. Für gerichtlich untersagte
Pressekonferenzen gibt es kaum Präze-
denzfälle.
Nach Auffassung des Gerichts war
schon der Mitte Juli 2019 vorgestellte Zwi-
schenbericht der Kommission unzulässig.
Damals war der derzeit von Lehre und For-
schung freigestellte Leiter der gynäkologi-
schen Klinik als einer der Hauptverant-
wortlichen für den Bluttest-Skandal be-
nannt worden. Schon damals sei gegen die
Persönlichkeitsrechte des Professors ver-
stoßen und in die Wissenschaftsfreiheit
eingegriffen worden, so das Gericht. Au-
ßerdem gebe es ein Disziplinarverfahren
gegen den Professor, so dass dieser sich
aus beamtenrechtlichen Gründen gegen
die Anschuldigungen der Kommission
nicht habe wehren können. Hat das Urteil
Bestand, dann muss die Öffentlichkeit
noch lange auf den Abschlussbericht war-
ten, zumal das Disziplinarverfahren von

der Universität geführt wird, obwohl die
Ministerin die Dienstvorgesetzte ist.
Die Heidelberger Universitätsklinik
dürfte nicht so schnell zur Ruhe kommen:
Die Folgen der Bluttest-Affäre, der schwe-
re Verstoß gegen wissenschaftliche Grund-
prinzipien könnten die Klinik mit 13 000
Mitarbeitern und 108 000 Patienten pro
Jahr weiterhin lähmen. Denn im Sommer,
unmittelbar vor der Entscheidung über die
Exzellenzuniversitäten, hatte die Kommis-
sion dem Klinikvorstand in harscher Form
Führungsversagen vorgeworfen. Das Er-
gebnis war, dass die Geschäftsführerin,
Irmtraut Gürkan, sowie die ärztliche Direk-
torin, Annette Grüters-Kieslich, zum Rück-
tritt gedrängt wurden. Das sollte, wenige
Tage vor der Auswahl der Exzellenzuniver-
sitäten, auch ein politisches Signal sein:
Man wollte Aufklärungswillen demonstrie-
ren und zugleich Wissenschaftsministerin
Bauer davor schützen, für den Skandal in
Mithaftung genommen zu werden. Das
Führungspersonal der Universitätsklinik
im Neuenheimer Feld musste den Rück-
tritt einreichen – doch fragwürdige Struk-
turen existieren bis heute.
Forscher und Ärzte müssen auf Refor-
men der Klinikstrukturen noch länger war-
ten. Diskutiert wird über eine moderne
„Department-Struktur“ mit gleichberech-
tigten Abteilungsleitern in den Kliniken
statt allmächtiger Klinikchefs. In der gynä-
kologischen Klinik in Heidelberg gibt es –
anders als in den moderner organisierten
universitären Frauenkliniken in Bonn
oder Berlin – keine eigenen Departments
für gynäkologische Onkologie, Fortpflan-
zungsmedizin und Geburtsmedizin, was
der Bedeutung dieser Fachrichtungen
nicht gerecht wird. Wünschenswert wären
zudem flache Hierarchien sowie der Aus-
bau interdisziplinärer Zentren. Beim Kli-
nikvorstand gibt es noch immer keinen Ge-
schäftsbereich für die strategische Ausrich-
tung des Klinikums. Trotz großer wissen-

schaftlicher Erfolge fehlt der Klinik eine
strategische Steuerung, um auf den hohen
Kostendruck und das hohe Innovations-
tempo in der Medizin – zum Beispiel durch
Künstliche Intelligenz – adäquat reagieren
zu können. Dringend überdacht werden
muss die Vermarktung und Verwertung
medizinischer Erfindungen durch die hier-
für verantwortliche Transfer-Gesellschaft
(TTH) der Klinik. Der Bluttest-Skandal
zeigte nämlich, dass die Kontrollmechanis-
men hier zu schwach sind. Die TTH ent-
schied etwa über einen Investorenwechsel
bei der für den Test zuständigen Ausgrün-
dungsfirma eigenmächtig.
Im Jahr 2017 hatte Wissenschaftsminis-
terin Theresia Bauer den Reformbedarf an
der Klinik erkannt und die frühere Deka-
nin der Charité, Annette Grüters-Kieslich,
als Leitende Ärztliche Direktorin nach Hei-
delberg geholt. Doch die Reformvorstöße
der Professorin für pädriatische Endokri-
nologie schmetterten die alteingesessenen
Heidelberger Lehrstuhlinhaber schon kurz
nach ihrem Amtsantritt ab, lange vor dem
Bekanntwerden des Brustkrebstest-Skan-
dals. Grüters-Kieslich sieht sich im Klinik-
vorstand keineswegs als hauptverantwort-
lich für den Skandal. Während Gürkan
und ihr Justitiar Markus Jones schon län-
ger als zehn Jahre die Klinik führten, stieß
die Medizinerin erst hinzu, als die Grundla-
gen für den Brustkrebstest-Skandal schon
gelegt waren. Grüters-Kieslich erkannte
die Probleme immerhin recht schnell:
„Schon im Sommer 2018 habe ich dem da-
maligen Dekan aufgrund der Zuständig-
keit der medizinischen Fakultät geraten,
eine Kommission zur guten wissenschaftli-
chen Praxis einzurichten. Es sollte unter-
sucht werden, ob die Daten, auf deren Ba-
sis die für den Brustkrebstest zuständige
Biotechnologie-Firma gegründet wurde,
belastbar waren“, sagte sie dieser Zeitung.
Außerdem habe eine unabhängige Rechts-
anwaltskanzlei die gesamten Vertragsange-
legenheiten im Fall der Biotechnologie-Fir-

ma geprüft. „Wenn der Abschlussbericht
der Untersuchungskommission jetzt nicht
veröffentlicht wird, wird es schwer, Verant-
wortungen klar zu benennen.“ Sie habe
die Abläufe gründlich geprüft und von der
„großangelegten PR-Kampagne mit Veröf-
fentlichungen in der Yellow Press und in
zahlreichen breiten Publikumsmedien“
nichts gewusst, sie sei bis kurz vor der Pres-
sekonferenz, auf der der Test vorgestellt
wurde, „systematisch von wesentlichen In-
formationen“ abgeschnitten worden. „Den
Text des Bild-Interviews sah ich erstmals
am Tag vor der Pressekonferenz. Dieser
Text lag anderen Mitgliedern des Vor-
stands schon mehr als zehn Tage vor der
Pressekonferenz vor“, sagte die Ärztliche
Direktorin, die das Klinikum Ende Okto-
ber verlässt. „Mir wurde am 18. Februar
2019, also drei Tage vor der verhängnisvol-
len Pressekonferenz in Düsseldorf, der Ent-
wurf einer Pressemitteilung vorgelegt. Die-
sen habe ich überarbeitet, da mir die Aussa-
gen zu weitgehend waren und ich wollte,
dass der Brustkrebstest als ergänzendes
Verfahren bezeichnet wird und nur von ei-
nem theoretisch möglichen Durchbruch
gesprochen wird – und auch das, so habe
ich es angemerkt, nur unter der Vorausset-
zung, dass die Daten korrekt interpretiert
worden sind.“ Ihre Anmerkungen in der
Pressemitteilung seien, so Grüters-Kies-
lich, in wesentlichen Teilen unberücksich-
tigt geblieben. Stattdessen seien in den
letzten Stunden vor der Pressekonferenz
Begriffe wie „Meilenstein“ eingefügt wor-
den, die das Ganze noch sensationshei-
schender gemacht hätten. „Das geschah
ohne meine Zustimmung.“ Sie habe die
Pressekonferenz nicht verhindern können.
Das Klinikum ist nicht nur wegen des
Skandals mit Negativ-Schlagzeilen kon-
frontiert. Es schreibt auch rote Zahlen.
Wirtschaftsprüfer durchleuchten gerade
den Zukauf des Kreiskrankenhauses Hep-
penheim, auch hier droht weiteres Unge-
mach.

Durcheinander à la SPD


Verlässlich


Die Uni-Klinik kommt nicht zur Ruhe


Der Krebstest-Skandal in Heidelberg schwelt weiter / Von Rüdiger Soldt


Arabischer Zorn


Radikalisierung


Ein neuer Gründungsmythos?


In der Türkei wird der Vertrag von Lausanne aus dem Jahr 1923 in Frage gestellt / Von Rainer Hermann


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In Ras al Ain:Türkische Soldaten (rechts) und arabische Rebellen Foto AP

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