Der Stern - 17.10.2019

(Jacob Rumans) #1
ILLUSTRATION: KATRIN FUNCKE/ART ACT/STERN

Diese Woche: Dr. Iris Hauth, 61,
Chefärztin der Klinik für Psychiatrie,
Psychotherapie und Psychosomatik
im Alexianer St. Joseph Kranken-
haus in Berlin-Weißensee

AUFGEZEICHNET VON CONSTANZE LÖFFLER;

ließen sich weder eine Schilddrüsenunter-
funktion noch andere Auffälligkeiten ent-
decken. War vielleicht das Gehirn das Pro-
blem? Um das herauszufinden, schickte ich
sie zur Kernspin-Untersuchung des Kop-
fes. Bald rief die Radiologin an und erklär-
te, dass die Frau ein beidseitiges „subdura-
les Hämatom“ hatte. Zwischen der harten
Hirnhaut, der Dura, die an der Innenseite
des Schädelknochens liegt, und dem Ge-
hirn sammelte sich Blut. Die sichelförmi-
gen Blutergüsse waren zwei Zentimeter
dick. Sie drückten auf das Gehirn und lös-

V


or ein paar Jahren war ihr Gatte
überraschend verstorben, kurz
vor seinem 50. Geburtstag. Plötz-
lich stand die Frau mit zwei Kin-
dern, Hausschulden und einer
halben Stelle allein da. Auch Mo-

nate nach dem Tod war sie nicht über den


Verlust hinweggekommen. Sie fühlte sich


überfordert und war irgendwie wütend auf


ihren Mann, der so plötzlich von ihr gegan-


gen war. Sie litt unter Geldsorgen und ver-


misste auch den angenehmen Lebensstil,


der durch das Gehalt des Partners möglich


gewesen war. Sie verlor Ge-


wicht, die Freude am Leben


und wurde depressiv. In diesem


desolaten Zustand traf ich die


Patientin das erste Mal. Wir


vereinbarten eine Psychothe-


rapie in meiner Ambulanz, und


ich verordnete Antidepressiva.


Im Laufe der Sitzungen ver-


arbeitete sie den Verlust, ihr ge-


lang es besser, mit ihren Ängs-


ten und Ansprüchen umzuge-


hen, und sie konnte gut für ihre


Kinder sorgen.


Zwei Jahre nach der Therapie

tauchte sie erneut auf. „Ich


glaube, es geht wieder los“, sag-


te sie und meinte damit ihre


Depression. Sie fühlte sich al-


lein und traurig, hatte Schwie-


rigkeiten, sich zu konzentrie-


ren, und litt zeitweise unter


dumpfen Kopfschmerzen. All


diese Symptome kennen wir


Ärzte von der Depression. Auch


die Lebenssituation schien zu


passen: Die Kinder waren da-


bei, das Haus zu verlassen, und


trotz Suche hatte sie keinen


neuen Partner gefunden. Den-


noch stutzte ich. Selbst wäh-


rend ihrer depressiven Phase


hatte ich die Frau immer als le-


bendig, teils extrovertiert er-


lebt. Jetzt allerdings war nicht


nur ihre Stimmung gedrückt,


auch die Sprache und Bewegungen wirk-


ten deutlich verlangsamt. Ich konnte nicht


genau einschätzen, was sie hatte. Aber ich


war mir ziemlich sicher, dass sie nicht ein-


fach nur depressiv, sondern körperlich


krank war.


Ich untersuchte die Patientin, stellte je-

doch nichts Besonderes fest. Auch im Blut


ten die Symptome aus. Würde der Druck
weiter zunehmen und der Hirnstamm und
damit das Atemzentrum eingequetscht
werden, bedeutete das den sicheren Tod.
Die Patientin musste sofort in den OP.
Die Neurochirurgen bohrten die Schädel-
decke auf, um das Gehirn vom Druck zu
entlasten, und saugten das Blut ab. Offen-
bar bestand die langsam verlaufende, ve-
nöse Blutung schon eine Weile. In solchen
Fällen lösen meist kleinere Unfälle, an die
sich die Betroffenen teilweise gar nicht
mehr erinnern, den Vorgang aus. Im Lau-
fe der Zeit sickert das Blut aus
einer dünnen Vene im Schädel
in den Subduralraum. Wird der
Bluterguss allmählich größer,
nehmen die Beschwerden zu.
Ich besuchte die Patientin
zwei Tage nach der OP, als sie
wieder viel munterer war. Nach
einer Woche konnte sie in die
Reha, vier Wochen später war
sie symptomfrei. Auf meine
Nachfrage erinnerte sie sich,
dass sie einige Wochen zuvor
beim Aufhängen der Gardinen
von der Leiter gefallen und mit
dem Kopf aufgeschlagen war.
Sie druckste beim Erzählen et-
was herum und erklärte, dass
sie ein wenig wackelig auf den
Beinen gewesen sei. Denn: Seit
der Entlassung aus der Klinik
vor zwei Jahren trinke sie regel-
mäßig eine Flasche Sekt pro
Tag, gestand sie. Sie sicherte
mir zu, nach der Reha für eine
Suchttherapie in unser Kran-
kenhaus zurückzukehren. Sie
hielt das Versprechen und lern-
te, ihre Einsamkeit nicht länger
mit Alkohol zu dämpfen. Kur-
ze Zeit später lernte sie einen
neuen Mann kennen.
Der Fall ist 20 Jahre her. Bis
heute erzähle ich ihn unseren
jungen Assistenzärzten: Auch
beim dringenden Verdacht auf
eine psychische Diagnose ist es wichtig, kör-
perliche Erkrankungen auszuschließen. 2

Eine Frau ist bedrückt, verlangsamt und hat Kopf-


schmerzen. Ist es eine Depression? Eine Ärztin


findet heraus, wie alles begann: mit den Gardinen


Verhängnisvolle Hausarbeit


100 17.10.2019


DIE DIAGNOSE


GESUNDHEIT


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