Der Stern - 17.10.2019

(Jacob Rumans) #1
Walter White ist tot. Das hat der
„Breaking Bad“-Erfinder Vince Gilligan
neulich ausgeplaudert. Aber auch
ohne White, diesen braven Lehrer, der
zum Killer wird, gibt es nun eine Fort-
setzung. Der Netflix-Film „El Camino“
setzt dort ein, wo „Breaking Bad“
endete: Whites Komplize Jesse Pink-
man (Aaron Paul) ist auf der Flucht –
vor der Polizei und seiner Vergangen-
heit. Aber beide lassen sich nicht
abschütteln. Eine oscarreife Soloshow
von Aaron Paul. 22222

STREAM


Die da oben, wir hier unten. Der Kampf
Arm gegen Reich ist nicht nur dank
Robin Hood ein dankbares Kinothema.
„Parasite“, der nächste Geniestreich
des Koreaners Bong Joon-ho („Snow-
piercer“) treibt den Krieg der Klassen
nun in neue, schwindelerregende
Höhen zwischen Satire, Sozialdrama
und bitteren Wahrheiten. Der Sohn
eines Arbeitslosen heuert mit ge-
fälschtem Zeugnis als Privatlehrer
einer wohlhabenden Familie an,
danach schleust er seine ganze Sippe
ein ins Luxusnest. Böse, lustig und

erschreckend aktuell. (^22222)
Falls Sie zu denjenigen Arbeitnehmern
gehören, die schon sehr lange auf
die nächste Lohnerhöhung warten:
„Das Kapital im 21. Jahrhundert“
wird wohl Ihr neuer Lieblingsfilm.
Basierend auf dem Sachbuch-Best-
seller des französischen Wirtschafts-
wissenschaftlers Thomas Piketty,
erzählt die Dokumentation eine kurze
Geschichte der Ungleichheit vom



  1. Jahrhundert bis heute. Eine der
    vielen überraschenden Erkenntnisse:
    Mitschuldig sind Bill Clinton, die
    Modeindustrie und die Art, wie wir
    Weihnachten feiern. 22222


KINO


FOTOS: DAVID DOLLMANN/NDR/ARD DEGETO; ARCHIV JÜRGEN GLAEVECKE (2)


brücke prügeln und das Schiff in Brand ste-
cken will. Nur weil einer der Passagiere, der
Rechtsanwalt Dr. Josef Joseph, in einer Voll-
versammlung das Wort ergreift und zur
Ruhe mahnt, legt sich die aggressive Stim-
mung. „Komme auch, was da kommen mag“,
ruft Joseph, „die ganze Welt schaut auf uns.“
Schröder kann im Hintergrund weiter-
arbeiten. Drei Tage nach der abgewende-
ten Meuterei verkündet er die erlösende
Nachricht: Belgien erlaubt die Einreise, die
„St. Louis“ darf Antwerpen anlaufen. Die
Passagiere sollten dann auf Großbritan-
nien, Frankreich, die Niederlande und Bel-
gien verteilt werden.
Herbert Karlinger, damals Passagier der
„St. Louis“, sagt heute: „Ein Mensch muss
Hoffnung haben. Man lebt durch die Hoff-
nung. Kapitän Schröder war ein Mensch.
Er hat ein Herz gehabt und hat gefühlt, was
wir durchmachen. Und es gab Menschen
wie ihn, die auch ein Herz hatten.“
Ulrich Noethen spielt den Kapitän zu-
rückgenommen und ohne jedes Pathos.
Schröder ist ja ein Zweifelnder, einer, der
sich selbst Mut zusprechen muss in der aus-
weglosen Lage. In Schröders Aufzeichnun-
gen findet sich der Satz: „Mir war, als ob die
ganze ‚St. Louis‘ von der Welt ausgestoßen
sei und jetzt versuchen müsste, diesen un-
gastlichen Planeten zu verlassen.“
Der Film endet mit der Anlandung in
Antwerpen, aber die Geschichte geht nicht
gut aus. Im Frühsommer 1940 nahm Hitler
Frankreich, Belgien und die Niederlande
ein. Das Nazideutschland, vor dem sie
geflüchtet waren, hatte die Juden wieder
eingeholt. Mehr als 250 Passagiere der
„St. Louis“ kamen im Holocaust um.
Kapitän Schröder kehrte nach Hamburg
zurück, wo er 1956 starb. Für viele Juden ist
er noch heute ein Held. 1993 wurde Schrö-
der vom Staat Israel geehrt und in den
Kreis der „Gerechten unter den Völkern“
aufgenommen.

„Die Ungewollten“ läuft am Montag, 21. Okto-
ber, um 20.15 Uhr im Ersten 22222

irgendwo anders: Wenn wir das Schiff ver-
lassen, hätte es das Ende aller bedeutet.“
Gustav Schröder schafft es nur mit größ-
ter Anstrengung, die Lage an Bord unter
Kontrolle zu halten. Gerade bei der Zeich-
nung der Figur des Kapitäns hält sich der
Film streng an das historische Vorbild.
Schröder war kein strahlender Held, er war
jemand, dem die Passagiere lange miss-
trauten. War er nicht auch NSDAP-Mit-
glied? Waren die vielen Einreiseverbote
nicht eine Lüge? Wollte Schröder nicht
in Wahrheit zurück ins judenfeindliche
Deutschland?
Der Film zeigt, wie groß die Zweifel an
Schröder sind, der Kapitän ist kein guter
Kommunikator. Kaum jemand weiß, dass
er Tag und Nacht für seine Passagiere
kämpft. Er heckt verwegene Pläne aus, um
ihre Rettung zu erzwingen. So erwägt
Schröder, Kurs auf Europa zu nehmen und
vor der englischen Südküste, irgendwo
zwischen Plymouth und Dover, eine Hava-
rie vorzutäuschen. Bei Ebbe will er das
Schiff auf den Strand setzen und alle
Passagiere mit Booten an Land bringen.
An Bord droht derweil eine Meuterei.
Unter den Passagieren formiert sich eine
Gruppe, die Schröder von der Kommando-

Beginn einer Irrfahrt:
Jüdische Flüchtlinge
gehen in Hamburg an
Bord (Filmszene, l.).
Kapitän Schröder (r.)
nimmt mit der
„St. Louis“ (u.) zu-
nächst Kurs auf Kuba

17.10.2019 105

KULTUR

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