Der Stern - 17.10.2019

(Jacob Rumans) #1
Es hat lang gedauert,
bis ein Comic für
einen großen Litera-
turpreis nominiert
wurde. Geschafft hat
es der US-Künstler
Nick Drnaso, der mit
„Sabrina“ 2018 Kandidat für den
Booker Prize war. Die Story beginnt
wie ein normaler Krimi. Eine Frau
verschwindet, ihr Freund sucht Trost
bei einem Kumpel, der fürs Militär
arbeitet. Als ein Mordvideo im Inter-
net auftaucht, kippt die Geschichte,
und Drnaso erschließt eine Welt aus
Paranoia, Hysterie und Fake News,
so nah am Zeitgeist, dass es schmerzt.
(Blumenbar, 26 Euro) 22222

COMIC


Die Asche seiner
toten Frau verstreut er
auf dem Ätna, dann
verdingt sich Darius
Kopp, mittellos nach
langer Reise, als Pizza-
bäcker in Catania.
Bis dort unvermutet
seine 17-jährige Nichte Lore auftaucht.
Die Ausreißerin und der Aussteiger
begeben sich auf eine Odyssee, wie
nur Teré zia Mora sie erfinden kann.
In „Auf dem Seil“, dem Abschluss
ihrer Trilogie über den Berliner IT-
Experten Kopp, erweist sich Mora
erneut als Meisterin ihres Fachs und
lässt wunderbar schräge Figuren
ein fröhliches Loser-Drama tanzen.
(Luchterhand, 24 Euro) 22222

ROMAN


Falls
Sie
diesen Text mithilfe
einer Brille lesen:
Sie haben da ein Stück
Weltgeschichte auf
der Nase! Denn durch
diese beiden Rundgläser
verlängerte sich die
Zeit, innerhalb derer
Menschen im Laufe ihres
Lebens lesen und somit
lernen konnten, sprung-
haft. Wie stark sich
die Welt unter anderem
dadurch verändert hat,
beschreibt Stefana
Sabin in ihrem über-
raschenden Bändchen
„Augen blicke –
Eine Kulturgeschichte
der Brille“.
(Wallstein, 18 Euro)

FOTO: RACHEL ELIZA GRIFFITHS

lität und Fiktion nicht mehr recht unter-
scheiden kann. Er schreibt Liebesbriefe an
eine Starmoderatorin und bricht zu einem
Roadtrip auf, um ihr Herz zu erobern. Eine
Fiktion in der Fiktion: In einem weiteren
Strang erzählt Rushdie vom Autor der
Geschichte seines Quichotte, einem mäßig
erfolgreichen, paranoiden Krimischreiber.
„Quichotte“ ist ein groß gemeinter,
gegenwartsdiagnostischer Roman über
fast alles: Migration und Familie, Liebe
und Vergebung, Wahnsinn und Tod. Beim
Lesen scheint man Rushdie sich manch-
mal die Hände reiben zu hören, ergriffen
von der Eleganz und Komik, mit der er all
das ineinandergeschoben und mit Junk-
und Hochkulturmotiven verklebt hat. Das
ist in seiner Großartigkeit auch etwas
ermüdend. Aber das war Cervantes’ „Don
Quijote“ ja auch. Christoph Farkas

E


ine Grille erscheint nachts auf dem
Dach eines Chevy am Lake Capote,
Colorado, und erzählt mit italie-
nischem Akzent etwas über Hirn-
areale und Vater-Sohn-Komplexe.
Va bene, willkommen in der Welt
von Salman Rushdie. Bald darauf beginnen
in „Quichotte“ auch Spiegelbilder, Dichter-
statuen und Handfeuerwaffen zu spre-
chen. Doch Rushdie geht es in seinem


  1. Roman natürlich nicht nur um Spiele-
    reien. Seine indischstämmigen Protago-
    nisten kämpfen sich durch ein von Rassis-
    mus, Schmerzmitteln und Cyberangriffen
    zerrüttetes Amerika, ein Land, in dem
    „Alles ist möglich“ nicht länger nach einem
    Versprechen klingt, sondern nach einer
    Warnung.
    Wie Cervantes’ Ritter von der traurigen
    Gestalt ist Rushdies Quichotte ein guther-
    ziger, einsamer Mann mit schwindendem
    Geist auf seiner letzten Mission. Oder, wie
    sein imaginärer Sohn Sancho sagt: „ein
    hinfälliger alter Sack“. TV-Shows haben
    ihm das Hirn aufgeweicht, sodass er Rea-


Rushdies Roman
steht auf der
Shortlist des
renommierten
Booker Prize

Salman Rushdies „Quichotte“ muss sich durch ein
apokalyptisches Amerika kämpfen

Spiel mir das Lied vom Don


„Quichotte“ von Salman Rushdie,
Ü.: Sabine Herting, C. Bertelsmann,
464 Seiten, 25 Euro 22222

108 17.10.2019

KULTUR


Fall BUCH
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diesenText mithilfe
einer Brillelesen:
Sie haben daeinStück
Weltgeschichte auf
der Nase! Denndurch
diese beiden Rundgläse
äii

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