Der Stern - 17.10.2019

(Jacob Rumans) #1

W


orte, Worte. Von Scham und
Schande. Die Sprache der
Politik raschelt bedrückend
leer nach dem gescheiterten
Massaker an Juden in der
Synagoge von Halle. Das sei
ihm unvorstellbar gewesen „in diesem
unserem Land“, sagt der Bundespräsident.
Es gibt kein Land wie unseres, was den Ju-
denmord angeht. Unvorstellbar? Wirklich?
Nach der Mordserie des Nationalsozia-
listischen Untergrunds an neun Migran-
ten und einer Polizistin, 43 Mordversuche
und drei Sprengstoffanschläge des NSU
nicht zu vergessen, nach der Ermordung
des Kasseler Regierungspräsidenten Wal-
ter Lübcke, dem ersten braunen Attentat
auf einen Politiker seit den Nazis, war doch
auch eine Bluttat gegen Juden nicht mehr
unvorstellbar. Augen rechts, nun endlich!
Die Sicherheitsbehörden aber stehen im
Zwielicht. Ist der Apparat überhaupt wil-
lens und in der Lage, den Kampf entschlos-
sen zu führen? Der NSU-Komplex ist die
Ur-Schuld, aus der viel gewuchert ist. Eine
Generalinventur des Apparats ist daher
unabweisbar, besonders des Verfassungs-
schutzes. Das gilt für Führung, Organisa-
tion und personelle Besetzung. Kompro-
misslos müssen dabei Sympathisanten
oder gar harte Neonazis entfernt werden.

minister, bleibt zu erinnern, wollte Maa-
ßen als Staatssekretär an seine Seite holen.
Der Anschlag von Halle hat die Illusion
zerstört, der Rechtsextremismus sei auf
Muslime fixiert. Antiislamisten sind auch
Antisemiten. Der Mörder von Halle ist
dafür exemplarisch: Er wollte zunächst
Juden metzeln, als das nicht gelang,
suchte er „Kanaken“ in einem Döner-Shop.
Etwa 12 000 gewaltbereite Neonazis gibt es
in Deutschland. Doch selbst die auf Adolf
Hitler rekurrierende Truppe „Combat 18“
ist wundersamerweise nicht verboten.
Alles weist zurück auf den NSU, die
Fantasien der Täter und das Versagen des
Staates. Dieses Dickicht von Schuld und
Mitschuld, von Mördern und Spitzeln muss
nun zerschlagen werden. Der Mörder Lüb-
ckes wurde in einem NSU-Geheimbericht
des hessischen Verfassungsschutzes elf-
mal genannt. Dennoch lebte er vor der Tat
ohne Überwachung. Der Bericht sollte
zunächst 120 Jahre gesperrt bleiben, in-
zwischen „nur noch“ bis 2044. Der Skandal
im Skandal: Die Grünen decken das in
ihrer Wiesbadener Koalition mit der CDU.
NSU, immer wieder NSU. Und bohrender
Verdacht gegen die Sicherheitsbehörden.
In Kassel saß ein V-Mann-Führer des Ver-
fassungsschutzes 2006 in einem Internet-
café, als dessen Inhaber vom NSU erschos-
sen wurde. Er will weder den Schuss gehört
noch die Leiche am Ausgang gesehen ha-
ben. In Heilbronn gehörten zwei Kollegen
der vom NSU erschossenen Polizistin Mi-
chèle Kiesewetter zeitweise dem rassisti-
schen Ku-Klux-Klan an. In Köln begann ein
Referatsleiter im Bundesamt für Verfas-
sungsschutz, drei Tage nachdem sich Beate
Zschäpe als Überlebende des NSU-Trios
gestellt hatte, mit dem Schreddern von
V-Mann-Akten. 310 Dokumente wurden
vernichtet. Das Gleiche geschah in Sach-
sen, Thüringen, Niedersachsen und Berlin.
In Frankfurt wurde die Anwältin Seda
Basay-Yildiz, Nebenklägerin im NSU-Pro-
zess, von Polizisten, die ihr Netzwerk „NSU
2.0“ nannten, unter Verweis auf den Mord
an Lübcke bedroht. „Miese Türkensau“, hieß
es in einem Fax. „Als Vergeltung schlachten
wir Deine Tochter.“ Dass am 27. Januar,
Gedenktag an die NS-Opfer, die Flaggen
Deutschlands und Hessens vor der Polizei-
station im hessischen Schlüchtern falsch
herum gehisst wurden, wirkt in solchem
Umfeld keineswegs spaßig. Wenn sich der
Rechtsextremismus so weit in Gesellschaft
und Staat gefressen hat, braucht es mu-
tige Zeugen unter Polizisten und Verfas-
sungsschützern: Whistleblower. 2

Hans-Georg Maaßen, Ex-Präsident jenes
Bundesamtes, das die Verfassung zu schüt-
zen hat, ist eine symbolhafte Figur. Der
Mann, der unbestreitbare Hetzjagden auf
Migranten in Chemnitz bestritt, balanciert
seither auf der Grenzlinie rechts außen.
Horst Seehofer hat inzwischen einge-
standen, dass der Verfassungsschutz im
Kampf gegen rechts ausgebaut werden
muss, dass man den Islamismus für be-
drohlicher hielt. Und dieser Sicherheits-

AUGEN RECHTS!


Der Anschlag auf die Synagoge von Halle erzwingt


eine Generalinventur der Sicherheitsbehörden – auch


um braune Sympathisanten auszufiltern


18 17.10.

KOLUMNE


JÖRGES


Hans-Ulrich Jörges
Der stern-Kolumnist schreibt
jede Woche an dieser Stelle

ZWISCHENRUF AUS BERLIN


ILLUSTRATION: JAN STÖWE/STERN
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