Der Stern - 17.10.2019

(Jacob Rumans) #1

O


riginalton Dr. Angela Merkel: „Es ist
in der Tat so, dass nach den Berichten
des Bundeskriminalamtes in diesem
Jahr überdurchschnittlich viele
fremdenfeindliche und ausländerfeindli-
che Straftaten registriert wurden.“ Weiter
erklärt sie: „Wir wissen, dass es schon An-
fang der 80er Jahre und danach immer
häufiger im Umfeld von Fußballveranstal-
tungen Anzeichen für Gewalt gab, wir wis-
sen, dass es Ausländerfeindlichkeit gab
und rassistische Äußerungen.“
Dies ist kein Zitat der Bundeskanzlerin
Angela Merkel, sondern der Jugendminis-
terin Merkel aus dem Jahre 1991, kurz nach
den rassistischen Ausschreitungen von
Hoyerswerda. Gewalt gegen Migranten und
gegen Juden begleitet sie durch ihre ge-
samte politische Karriere. Mörderischer
Rechtsextremismus ist kein neues Phäno-
men, er ist eine Konstante der deutschen
Gesellschaft und der deutschen Politik. Seit
der Wiedervereinigung haben Rechtsterro-
risten in Deutschland 196 Menschen er-
schlagen, erschossen oder verbrannt, rein
rechnerisch alle acht Wochen einen. Jana L.
und Kevin S. sind die Opfer 197 und 198, hin-
gerichtet vergangene Woche in Halle, von
einem frustrierten Versager, dessen Namen
der stern nicht nennen und dessen Gesicht
er nicht zeigen wird.
Bundeskanzler Helmut Kohl versprach:
„Unser Rechtsstaat kann und wird Gewalt
nicht hinnehmen.“ Bundeskanzler Ger-
hard Schröder versprach einen „Aufstand
der Anständigen“. Und Bundeskanzlerin
Angela Merkel versprach nach der Auf-
deckung der Mordserie des NSU, „alles in
den Möglichkeiten unseres Rechtsstaates
Stehende zu tun, damit sich so etwas nie
wiederholen kann“.
Alle Versprechen wurden gebrochen.
In den 1990er Jahren hat die Politik den
Rechtsextremismus als eine Angelegen-
heit für Sozialarbeiter abgetan, zuständig
war die Jugendministerin Merkel. Nach
den Anschlägen vom 11. September 2001 in
den USA kannten die Sicherheitsorgane
nur noch einen Feind: den islamistischen
Terror. In diesem Sommer bekannte
schließlich der Präsident des Thüringer
Verfassungsschutzes, Stephan Kramer:
„Ich habe das Gefühl, dass wir in den letz-
ten Jahren die neue Rechte und ihren
Einfluss auf das Zusammenschweißen
verschiedener rechtsextremistischer
Gruppierungen ein bisschen verschlafen
haben.“ Auch die Bundesjustizministerin
Christine Lambrecht gibt inzwischen
offen zu, „dass wir vieles nicht in dieser
Dramatik, in dieser Bedeutung wahrge-

verständlich sind. Anfänger können die
Beschimpfungen, die grausamen und ekel-
erregenden Videos, den ununterbrochenen
Strom von giftigem Hass nicht gleich er-
tragen. Das muss man üben, die Dosis lang-
sam steigern. So sind die düsteren Keller
der Hassforen Trainingszentren. Hier wird
nicht Fett abtrainiert, sondern Empathie.
„Hi, my name is Anon and I believe the
Holocaust never happend“, so stellt sich der
Mörder von Halle zu Beginn seines Tatvi-
deos vor. Es ist ein Signal für seine Kumpel
in den Foren, das weltweit verstanden wird,
das „Allahu Akbar“ der globalen Bewegung
der Antisemiten und Rassisten. „Sein
Publikum ist eben nicht in Sachsen-Anhalt
oder Thüringen, sondern in diesen virtu-
ellen Netzwerken“, sagt Terrorexperte Neu-
mann.
Die Ästhetik des Tatvideos erinnert an
ein Ballerspiel im Computer. Beim Morden
ist der Lauf seines selbst gebastelten Ge-
wehrs im Bild zu sehen. Fehlt nur, dass der
Spielstand eingeblendet wird, die Zahl der
Getöteten. „Gamifizierung des Terrors“
nennen Experten das. Das Spiel stellt nicht
die Wirklichkeit nach, sondern die Wirk-
lichkeit das Spiel.
Dass aus den Spielen mitunter tödlicher
Ernst wird, ist inzwischen auch Innenmi-
nister Seehofer klar geworden. „Das Pro-
blem ist sehr hoch. Viele von den Tätern
oder den potenziellen Tätern kommen aus
der Gamer-Szene.“ Sie nutzen den Spiel-
platz als Versteck. Die Lobby der mächti-
gen Gaming-Industrie hat durchgesetzt,
dass auf ihren Plattformen die Online-
Durchsuchungsgesetze nicht gelten. „Hier
dürfen unsere Sicherheitsbehörden gar
nicht ermitteln“, kritisiert der Extremis-
musforscher Florian Hartleb, der ein Buch
über rechtsterroristische Einzeltäter ge-
schrieben hat. „Auf den Spielplattformen
gehört zu dem Gemenge aus gemeinsa-
mem Spielen auch die Inspiration für poli-
tische Gewalt und eine politische Ideolo-
gie, die sich aus Antisemitismus sowie
Hass auf Frauen und Flüchtlinge speist.“
Doch der Mörder von Halle orientiert
sich nicht nur an Ballerspielen. Die Klei-
dung, die Kamera auf dem Helm, der
gesamte Ablauf der Tat ist eine Kopie des
Terroranschlages von Christchurch in
Neuseeland, wo ein 28-Jähriger im März in
zwei Moscheen 51 Menschen erschossen
hat. Die hohe Zahl der Toten, der „high sco-
re“, katapultierte ihn auf Platz vier der ewi-
gen „Bestenliste“ in den Foren. Platz eins
belegt der Massenmörder aus Norwegen,
der 2011 77 Menschen umbrachte. Beide ha-
ben den Status von „saints“.

nommen haben“. Die Ermordung des Kas-
seler Regierungspräsidenten Walter Lüb-
cke im Juni und der Anschlag auf die Syna-
goge von Halle haben die für Sicherheit
Verantwortlichen aufgeschreckt. Langsam
setzt sich bei Verfassungsschützern, Kri-
minalbeamten und Agenten des BND die
Erkenntnis durch: Wir haben die Bedro-
hung von rechts dramatisch unterschätzt.
Nun ist es Bundesinnenminister Horst
Seehofer, der verspricht zu handeln: Bis zu
740 zusätzliche Stellen will er bei Bundes-
kriminalamt und Verfassungsschutz
schaffen, „damit wir den Rechtsterroris-
mus genauso bekämpfen können wie den
islamistischen Terrorismus“.

Der Mörder von Halle ist ein Enkel jener
besoffenen Neonazis, die 1990 in Eberswal-
de den Angolaner Amadeu Antonio er-
schlugen, die Nummer eins auf der Liste.
Ihre Menschenverachtung hat der Enkel
geerbt, doch die Methoden haben sich
grundlegend verändert. Der Anschlag auf
die Synagoge offenbart eine neue, bedroh-
liche Qualität. Das Internet bietet Extre-
misten bislang ungekannte Möglich-
keiten. Soziale Medien wie Facebook und
Youtube, Spieler-Plattformen wie „Twitch“
und Foren wie „4chan“ oder „8chan“ stel-
len die Infrastruktur für Hassmaschinen,
für perfekte Werkzeuge des Terrors. „Ra-
dikalisierungsinstrumente des 21. Jahr-
hunderts“, nennt sie die Soziologin Zeynep
Tufekci von der Universität von North Ca-
rolina. Ohne diese Instrumente wäre die
Tat von Halle nicht denkbar.
Allein auf „4chan“ tummeln sich etwa
27 Millionen Nutzer im Monat, darunter
jede Menge Netz-Nazis, die meisten als
„Anons“, also anonym. Sie kommunizieren
mit Symbolen, mit Bildern, in ihrer ganz
eigenen Sprache, die nur Eingeweihte voll-
ständig verstehen. In dieser Sprache sind
Juden verachtungswürdige „kikes“ oder
Ratten, Frauen „bitches“ oder „sluts“, also
Schlampen. „In den sozialen Medien ist die
Sprache inzwischen so außer Kontrolle,
dass gar nicht mehr so einfach zu unter-
scheiden ist, wer es denn nun ernst meint
und wer nicht“, sagt Peter Neumann, Ter-
rorexperte am Kingʼs College in London.
Auf der rechtsextremen Internetseite
„Daily Stormer“, „Täglicher Stürmer“, wird
dazu offen erklärt: „Die Nichtindoktrinier-
ten sollten nicht sagen können, ob wir Wit-
ze machen oder nicht.“
In den digitalen Phantomgesellschaften
werden Gewaltfantasien entwickelt, aus-
getauscht, weitergesponnen, bis sie den
Mithassern in der Blase schließlich selbst-

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