Der Stern - 17.10.2019

(Jacob Rumans) #1

In diese Liga will der Täter von


Halle aufsteigen. Zum Glück ver-


hindert das seine erbärmliche Un-


fähigkeit. Weil er kein richtiges


Englisch spricht und weil seine


selbst gebastelten Waffen versa-


gen, vor allem aber, weil er nur


zwei Menschen getötet hat, da-


runter keine Juden, wird er von an-


deren „Anons“ verspottet – genau


wie seine Opfer. Auf „4chan/pol“


überbieten sich User in Beleidi-


gungen von Jana L. „Danke für dei-


nen Tod, Kuh“, ist noch einer der


harmloseren Beiträge.


„Verkackt. Was willste erwarten


von einem NEET“, beschimpft der


Täter sich selbst. NEET ist ein Akro-


nym für „Not in Education, Em-


ployment or Training“, ein arbeits-


loser Nichtsnutz. Der Mörder ist


zudem vermutlich ein „Incel“, ein


unfreiwillig zölibatär lebender


Mann, ohne Chance auf eine Frau.


Die forensische Psychiaterin


Nahlah Saimeh ist eine der renom-


miertesten Expertinnen, die schon


Hunderte von Gewaltverbrechern


begutachtet hat. Für den stern hat


sie sich das Tatvideo angeschaut.


„Man merkt an seinen Äußerun-


gen, dass er sich eine Weltsicht aus


diversen Anti-Haltungen zusam-


mengebastelt hat, wie sie für sol-


che Täter typisch sind: Es geht


gegen Juden, Muslime, Frauen, Fe-


minismus etc. Alles wird mitei-


nander verknüpft. Er projiziert das


eigene Versagen auf die Gesell-


schaft, auf Sündenböcke, vor allem


auf Menschen jüdischen Glau-


bens. Das Internet ist voll von sol-


chen Foren.“


Der Mann, der loszog, um so vie-


le Juden zu töten wie möglich, leb-


te mit 27 Jahren bei seiner Mutter.


Im Video beschimpft er sich fort-


während als „loser“. Ein Verlierer-


typ mit hoher Stimme. Nachbarn


erzählen, dass er bei Begegnungen


im Flur immer an der Wand ent-


langgeschlichen sei und auf den


Boden geschaut habe. Das Mutter-
söhnchen als Terrorist.
„Es klingt wie ein Klischee, aber

der entspricht fast zu 100 Prozent
dem typischen Einzeltäter“, sagt
Britta Bannenberg, Professorin für
Kriminologie an der Universität

Gießen. Seit 2002, als ein Amokläu-
fer in einer Schule in Erfurt 16
Menschen erschoss, ist diese Sorte
von Verbrechern Bannenbergs

Lebensthema. „Einzeltäter sind
grundsätzlich gestört“, sagt die Kri-
minologin. Es sind Verlierer in
allen Lebensbereichen. Obwohl

sie nicht dumm sind, bringen sie
nichts zu Ende, keine Ausbildung,
keinen Job. Mit Frauen können
sie keine Beziehungen aufbauen.

Alles Schlampen, außer Mutti.
Dieser Tätertyp trampelt nicht mit
Gleichgesinnten in Springerstie-
feln durch die Stadt, um Flüchtlin-

ge zu „klatschen“. Der Einzeltäter
ist kein Kamerad.
„Die merken, dass sie nicht mit-
halten können“, sagt Bannenberg.

Weil sie im analogen Leben nicht
dazugehören, verbringen sie die
meiste Zeit in ihrer virtuellen Welt.
Dort finden sie zum ersten Mal in

ihrem Leben Gleichgestörte, mit
denen sie sich austauschen kön-
nen. Das haben inzwischen sogar
die deutschen Behörden erkannt.

„Es ist eine virtuelle Gemeinschaft
entstanden, die bei den Teilneh-
mern den Eindruck erwecken
möchte, Teil eines großen Ganzen

zu sein“, sagte Generalbundesan-
walt Peter Frank der „Zeit“.
Genau wie Nahlah Saimeh hält
Britta Bannenberg die Einzeltäter

für Menschen, die im Kern nicht
politisch motiviert sind. „Die wer-
den vor allem angetrieben von
ihrem Hass“, sagt Bannenberg. Die

Foren geben diesem Hass eine Rich-
tung. Sie machen aus Amokläufern
Terroristen. Wenn ich ein muslimi-
scher Verlierer bin, dann bieten mir

die Internetforen des IS einen per-


fekten Schuldigen für mein Versa-
gen: die Ungläubigen. Wenn ich ein
weißer Rundumversager bin, dann
bieten mir die rechtsextremisti-

schen Foren Zuwanderer, Muslime,
Frauen und vor allem Juden als
Hassobjekte an. Die Hasskammern
wirken wie ein Magnet auf Stahl-

stifte. Sie richten Tausende orien-
tierungslose Loser in eine Richtung
aus. So wird aus Einzeltätern eine
Armee von Einzeltätern. So wird

aus einsamen Muttersöhnchen ein
Terrornetzwerk. Ob die Egoshooter
tatsächlich eine politische Über-
zeugung antreibt oder nur krank-

hafte Wut, ist am Ende unerheblich.
Die Taten der Einzeltäter verfolgen
ein gemeinsames Ziel. Darum ist
ihr Terror in seiner Wirkung hoch-

politisch.


Die einsamen Stubenhocker sind
längst Teil der rassistischen, anti-

semitischen Bewegung. Dass
Politik und Gesellschaft diesen
Zusammenschluss so lange nicht
erkannt haben, darüber machen

Rechtsextremisten sich bereits
lustig. Beim „Odin-Versand“, dem
Onlinehändler der Neonazis, ist
ein T-Shirt im Angebot mit der

Aufschrift: „politisch motivierter
Einzeltäter“.
Der Extremismusforscher Flo-
rian Hartleb nennt diese Sorte von

Tätern „Einsame Wölfe“. „Bei den
Sicherheitsbehörden hat man die-
sen virtuell vernetzten rechten
Einzeltäter-Typus noch nicht rich-

tig erkannt“, warnt Hartleb. Bun-
desanwalt Frank stimmt ihm zu:
„Der einsame Wolf ist ein Alb-
traum.“ Vor der Tat fallen die Sol-

daten der Einzeltäterarmee den
Behörden nicht auf. „Die sind
ängstlich, darum meist nicht ge-
walttätig und nicht vorbestraft“,

sagt Britta Bannenberg.
Der anonyme Terror aus dem
Netz ist eine neue, große Gefahr
für die offene Gesellschaft. Das

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