Der Stern - 17.10.2019

(Jacob Rumans) #1

ren haben sie rund 200 Fälle


bearbeitet, bei denen Men-


schen sich an das Netzwerk


gewandt haben. Bei 20 Prozent


handelte es sich um Fehlalarm.


Bei 80 Prozent nicht. „Mich


kennt man. Wenn ich die ent-


sprechenden Beamten bitte,


sich jemanden mal genauer


anzuschauen, dann passiert


das meistens auch“, berichtet


die Kriminologin. Bei einem


Hausbesuch finden die Polizis-


ten dann immer wieder Waf-


fen unter dem Bett. Einige


angehende Einzeltäter muss-


ten nach der Entdeckung in


psychiatrische Einrichtungen


eingewiesen werden. „Ich bin


überzeugt, dass wir schon ei-


nige schlimme Gewalttaten


verhindert haben“, sagt Ban-


nenberg. Sie wünscht sich, dass


es in jedem Landeskriminal-


amt eine solche Stelle gibt,


an die Bürger sich wenden


können.


Die Armee der Einzeltäter ist


eine neue Bedrohung aus der


Welt des Rechtsextremismus.


Doch die altbekannten Grup-


pentäter gibt es weiterhin.


Und auch sie werden radi-


kaler, brutaler, professionel-


ler, insgesamt also gefährli-


cher. Der Verfassungsschutz


schätzt das Potenzial rechts-


extremistischer Personen auf


24 100, die Hälfte gilt als „ge-


waltorientiert“. Fast 1100 Ge-


walttaten mit rechtsextremis-


tischem Hintergrund hat das


BKA 2018 gezählt. Besonders


auffällig ist der Anstieg anti-


semitischer Gewalttaten: plus


71 Prozent. In der öffentlichen


Debatte scheint es mitunter,


als wären vor allem Zuwande-


rer aus muslimischen Staaten


für den dramatischen Anstieg


verantwortlich. Tatsächlich


gehen laut BKA jedoch 90 Pro-


zent der antisemitischen Kri-


minalität auf das Konto von


Rechtsextremisten.


Inzwischen hat der General-


bundesanwalt gleich mehrere


Verfahren gegen rechte Kame-


radschaften an sich gezogen,


alle wegen Bildung einer ter-


roristischen Vereinigung. Die


Terroristen waren Busfahrer,


Lagerarbeiter, Paketboten oder


Altenpfleger. Sie waren kei-


ne Außenseiter, sondern die


Mitte der Gesellschaft. „Es ist


ja nichts Neues, dass die meis-


ten terroristischen Attentäter


durch die sozialen Strukturen,


die sie umgeben, gefördert


werden“, sagt Terrorismusex-


perte Peter Neumann.


Wenn Terroristen morden,


fühlen sie sich meist als Voll-


strecker des Volkswillens. Da-


mit liegen sie vollkommen


daneben. Doch sie spüren, dass


sich in der Gesellschaft etwas


verändert, wie Seismografen,


die auf tektonische Verschie-


bungen anschlagen. Eine ers-


te Erschütterung verursachte


2010 die Veröffentlichung des


Buches „Deutschland schafft


sich ab“ von Thilo Sarrazin.


Darin wird behauptet, die Zu-


wanderung aus islamischen


Ländern werde langfristig


eine muslimische Dominanz


in Deutschland bewirken.


Seriöse Migrationsforscher


haben Sarrazins Thesen vehe-


ment widersprochen, den-


noch wurden sie das Mantra


aller Rechtsextremisten. Es ist


macht Angst. Doch Terror ist


kein Schicksal, dem Gesell-


schaften wehrlos ausgeliefert


sind. In den 1970er und 1980er


Jahren ermordeten Terroris-


ten in Westeuropa durch-


schnittlich 252 Menschen pro


Jahr. In den vergangenen zehn


Jahren waren es im Schnitt 42.


Das sind 42 zu viel, doch


die Europäer haben einen


Rückgang um fast 85 Prozent


erreicht. Flughäfen wurden


besser gesichert. Polizei und


Verfassungsschutz haben ihre


Methoden verbessert. Auch


der rechtsextremistische Ter-


ror kann entscheidend zu-


rückgedrängt werden. Doch


dazu ist eine gewaltige Kraft-


anstrengung notwendig, un-


vergleichlich viel größer als


die beim Kampf gegen al-


Quaida oder den IS.


Die Kriminologin Bannen-


berg hat eine Methode entwi-


ckelt, mit der sie potenzielle


Einzeltäter aufspürt. Bei ihrem


„Beratungsnetzwerk Amok-


prävention“ können sich Men-


schen melden, die das Verhal-


ten eines Mitmenschen beun-


ruhigt. Bannenberg und ihr


Team kümmern sich darum,


die Polizei in aller Regel nicht.


Hätte jemand vor der Tat sei-


ne Besorgnis über das Verhal-


ten des Mörders von Halle auf


einer Wache zu Protokoll gege-


ben, die Beamten hätten den


Hinweis wahrscheinlich abge-


heftet, bestenfalls. Schließlich


hatte sich der Täter vor dem



  1. Oktober 2019 nichts zu-


schulden kommen lassen.


Bannenberg und ihr Team


erkennen schnell, ob Gefahr


droht. In den vergangenen Jah-


32 17.10.2019

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