Der Stern - 17.10.2019

(Jacob Rumans) #1
MITTELMEER

GEWINNER


UND


VERLIERER


Wer spielt welche Rolle


im Kampf um die Macht


in Syrien?


Aleppo

Akçakale

Tabqa

Raqqa


Sanliurfa


Idlib

Afrin Manbidsch

TÜRKEI


SYRIEN Euphrat


Kobani

bisherige


Tell Abyad

Ain Issa

MITTELMEER

Heiko Maas,
deutscher
Außenminister

Über 200 Deutsche sind in Lagern und
Gefängnissen in Nordsyrien inhaftiert,
manche seit mehreren Jahren. Dazu
gehören gefährliche Terroristen, die das
aktuelle Chaos zur Flucht nutzen könnten.
Mehr als die Hälfte aber sind Kinder.
Monat um Monat, Jahr um Jahr hat Heiko
Maas verstreichen lassen, ohne ihre
Rückholung anzuordnen. Erst auf Druck
deutscher Gerichte ließ er Mitte August
die Heimreise von drei deutschen IS-
Waisen und einem kranken Baby arran-
gieren. Weitere solche Aktionen sollten
folgen, versprach Maas. Nun ist es zu spät.

Donald Trump,
US-Präsident
Sein Freibrief für die türkische Invasion
in Nordsyrien folgte nur einer Maxime:
Was nützt mir? Seit ihm ein Amtsent-
hebungsverfahren droht, will Trump bei
seinen Anhängern um jeden Preis punk-
ten. Eines seiner zentralen Versprechen
war, US-Truppen aus dem Ausland heim-
zuholen. In Afghanistan hat das nicht
geklappt, darum soll es nun in Syrien
passieren. Die Folgen, wenn er sie denn
überblickt, sind zweitrangig.

Recep Tayyip Erdoğan,
türkischer Präsident

Mit seiner Invasion gegen die syrischen
Kurden will er Stärke demonstrieren.
Doch Erdoğan handelt aus einer Position
der Schwäche. Im eigenen Land ist er
unter Druck, weil immer mehr Türken
der 3,6 Millionen syrischen Flüchtlinge
überdrüssig sind. Militärisch hat die
Türkei in Syrien nur so viel Spielraum,
wie die russische und amerikanische
Luftwaffe ihr lassen.

Ferhat


Abdi Shahin,
Oberkommandeur der
kurdischgeführten
„Syrischen Demokra-
tischen Kräfte“

Seine kurdischen Kämpfer haben mit
westlicher Luftunterstützung das
IS-Kalifat zerschlagen. Doch gegen die
türkische Übermacht hatten sie auf
sich allein gestellt keine Chance. Ohne
Schutz der Amerikaner blieb ihnen
nur der Kniefall vor Putin und Assad.
Er dürfte den Anfang vom Ende ihres
Traums von Autonomie bedeuten.
Von nun an wird ihre von den USA
trainierte und bewaffnete Miliz sich
nach den Interessen von Amerikas
Feinden richten müssen: Russland, Iran
und das Assad-Regime in Damaskus.

D


ie Woche begann mit einem
Tweet: Mit den „endlosen Krie-
gen“ müsse es vorbei sein, schrieb
Donald Trump. Es wurde eine un-
verhofft gute Woche für Recep
Tayyip Erdoğan. Aber auch für
Wladimir Putin. Für Baschar al-Assad,
den syrischen Diktator. Und für den IS-
Anführer Abu Bakr al-Baghdadi.
Eine Woche also, in der sich alle Falschen
freuten.
Die arabischen Kämpfer, die an der Sei-
te der türkischen Armee in der Nacht zu
Donnerstag in Nordsyrien einfielen, pos-
ten seitdem ständig Videos des Feldzugs
und wirken, als hätten sie es kaum erwar-
ten können. Sie haben gehofft auf Krieg
gegen die Kurden. Die Videos erzählen da-
von, wer die Männer sind, auf die sich die
Türkei eingelassen hat.
„Baqiya! Baqiya!“, ruft einer von ihnen in
einem Clip, übersetzt in etwa: „Es möge be-
stehen!“ Es ist einer der Slogans des IS, er
meint: Bestehen möge das Kalifat. Wäh-
renddessen rollt ein gepanzertes Fahrzeug
aus türkischen Beständen an ihm vorbei.
„Wir kommen, ihr Schweine!“, ruft ein
anderer im selben Video, er meint ihre
Feinde. Die Kurden.
Drei Tage später fallen sich ebenjene
Kurden in die Arme, nachdem ihre Füh-
rung einen Deal mit dem syrischen Regime
geschlossen hat. In der Stadt Qamishli, wo
gerade erst eine Autobombe explodierte,
wo türkische Bomben auf Wohngebiete
fielen, treffen sich die Menschen zu einer
Freudenfeier, sie fahren mit syrischen
Flaggen am Auto durch die Straßen. Die
Rückkehr des Assad-Regimes ist ihnen lie-
ber als eine türkische Besatzung.
Alles hängt mit allem zusammen in Sy-
rien, vielleicht ließ sich das noch nie so
konkret beobachten. Die Geschichte hat
sich auf einmal beschleunigt. Es lohnt sich,
kurz innezuhalten, um zu verstehen, was
eigentlich passiert ist. Und warum.
Zu Beginn der Woche waren die USA noch
Verbündete der Kurden, genauer gesagt: der
SDF, eines Bündnisses von Milizen unter
kurdischer Führung, zu dem auch Araber
gehören. Gemeinsam hatten sie den IS be-
siegt. Seitdem blieben US-Soldaten in dem
Gebiet stationiert, das die SDF beherrsch-
ten: fast ein Drittel Syriens. Dazu Hunder-
te Kilometer Grenze zur Türkei.
Für die USA war das ein guter Deal. Sie
hatten vor allem aus der Luft geholfen,
während die SDF am Boden kämpften. Mit
relativ wenig Aufwand waren die USA nun
in Syrien, man muss es so sagen: im Spiel.
Die Kurden wiederum wussten: Solan- 4

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