Der Stern - 17.10.2019

(Jacob Rumans) #1
Raphael Geiger fürchtet, dass die Kur-
den ihr Bündnis mit Assad bald bereu-
en könnten. Im Kriegsgebiet erzählten
ihm viele von der Verfolgung, der sie
unter dem Regime jahrelang ausgesetzt waren FOTO: SANA/AP

Assads Soldaten ins bisherige SDF-Gebiet,
von Norden geht die türkische Offensive
weiter. Die arabischen Kämpfer an der Sei-
te der Türken träumen davon, nun auch
gegen Assad zu kämpfen. Sie stellen sich
eine zweite Revolution gegen den Dikta-
tor vor. Unwahrscheinlich, dass ihr Be-
fehlshaber Erdoğan es so weit kommen
lässt. Mit Assad verbindet ihn zwar seit
Jahren eine Feindschaft, aber er weiß: Mit
dem syrischen Regime kann er sich eini-
gen, kann er Deals machen.
Erdoğan hat jetzt schon erreicht, was er
wollte: einen schnellen Erfolg. Er hat den
US-Präsidenten düpiert und die Kurden
entmachtet. In diesem Krieg steht das tür-
kische Volk hinter ihm. Andererseits sind
die türkischen Eroberungen in Syrien noch
klein, der Krieg hat bis jetzt nicht lang ge-
nug gedauert, um die Kurden wirklich zu
schwächen. Die Sicherheitszone, von der
Erdoğan sprach, wird es nicht geben, wenn
das Assad-Regime die Grenze übernimmt.
Es sind Tage, in denen sich eine neue
Ordnung zeigt. Andere füllen die Lücke,
wenn sich die USA zurückziehen und Euro-
pa schwach bleibt. Die Rolle der Führungs-
macht übernimmt Russland. Wladimir
Putin zählt zu den Gewinnern der türki-
schen Invasion, er hat in Syrien neben As-
sad nun auch die Kurden als Verbündete.
Dafür musste er nichts tun. Trump und
Erdoğan haben es für ihn erledigt.
Es dürfte Putin auch freuen, dass die USA
zeitgleich mit ihrem Abzug Sanktionen
gegen die Türkei ankündigten. Und dass
Deutschland und andere europäische Län-
der ihre Waffenlieferungen an die Türkei
einschränken wollen. Damit löst sich die
Türkei immer mehr aus der Nato.
Am Ende der Kette, die Trumps Tweet
auslöste, steht noch ein Profiteur: der IS.
Schon jetzt berichten Augenzeugen, IS-
Männer bewegten sich wieder ganz offen
durch Städte im Südosten Syriens. Die Kur-
den mussten Truppen abziehen, die sie an
der Front gegen die Türkei brauchten. Für
den IS ist dies eine Gelegenheit, auf sich
aufmerksam zu machen, eine Botschaft an
seine Anhänger in der Welt zu senden: Es
gibt uns noch, wir greifen wieder an.
„Friedensquelle“ nennen die Türken
ihren Einmarsch. In Wahrheit ist er Quell
von neuem Hass. Und weiterem Sterben. 2

ge die Amerikaner bleiben, sind sie sicher


vor der Türkei.


Der türkische Präsident Erdoğan droh-


te schon lange mit einem Militärschlag


gegen die Kurden. Die Gründe dafür, dass


er ihn gerade jetzt wollte und dass Donald


Trump ihm grünes Licht gab, liegen aber


nicht in Syrien. Sie haben mit türkischer


und amerikanischer Innenpolitik zu tun.


Im Fall von Donald Trump braucht die


Erklärung nur drei Buchstaben und eine


Zahl: KAG 2020, Keep America Great 2020.


Es ist Trumps Slogan für seine Wiederwahl.


Gerade war er in Minneapolis, Minnesota,


zu einer Wahlkampfkundgebung. Er wer-


de von nun an 13 Monate lang kämpfen,


verkündete er. Der Konflikt in Syrien sei


„lächerlich“, warum solle Amerika dafür


weiter bezahlen? Dass er dabei das Esta-


blishment seiner eigenen Partei gegen sich


aufbringt, nutzt Trump im Zweifel eher:


er gegen die Elite in Washington.


Tayyip Erdoğan steckt in einer tiefen


Krise. Im Frühjahr verlor er die Kommu-


nalwahlen, hat mit dem neuen Bürger-


meister von Istanbul, Ekrem Imamoğlu,


erstmals einen ernsthaften Gegenspieler.


Auch in seiner eigenen Partei, der AKP,


verliert Erdoğan an Zustimmung, einige


Widersacher wollen sich abspalten.


Dazu kommt die Türkei nicht aus der


Wirtschaftskrise. Die Arbeitslosigkeit ist


hoch, Ressentiments gegen die syrischen


Flüchtlinge nehmen zu. Erdoğan entglei-


tet das Land, seine Zeit geht zu Ende. Der


Einmarsch in Syrien ist sein Versuch, wie-


der in die Offensive zu kommen.


In der Sicherheitszone, die in Syrien ent-

stehen soll, will er zwei Millionen Syrer


ansiedeln, die im Moment in der Türkei


leben. Kaum jemand glaubt, dass es so weit


kommt, aber Erdoğan geht es um die Bot-


schaft. Die Türken sollen wissen, dass auch


er das Flüchtlingsthema im Blick hat. Nicht


nur die Opposition.


Die Opposition ist das eigentliche Ziel

dieses Kriegs. Als Imamoğlu in Istanbul ge-


wann, gelang ihm das mit einem Bündnis:


von Nationalisten und Linken bis hin zu


Konservativen, die genug von Erdoğan hat-


ten. Und: Kurden. Mit dem Angriff auf die


Kurden will Erdoğan dieses Bündnis bre-


chen. Imamoğlus Partei, die säkulare CHP,


hat dem Einmarsch zugestimmt. Sie be-


kannte sich loyal zur türkischen Armee.


Nur die kurdische HDP lehnte den Krieg ab.


Erdoğan nimmt der Opposition also ein

wichtiges Thema, die Flüchtlinge, und


bringt sie dazu, sich zu zerstreiten. Sich


selbst verschafft er Zeit, denn seine Geg-


ner innerhalb der AKP werden sich kaum


abspalten, solange die Armee in Syrien


kämpft. Sie würden als Verräter dastehen.
Vermutlich ist Erdoğan selbst überrascht,
wie schnell seine Truppen in Syrien voran-
kommen. Nach nur vier Tagen erobern sie
die Grenzstadt Tell Abyad und erreichen
die strategisch wichtige Autobahn M4, die
von Mossul nach Aleppo führt. Niemand
hatte das so schnell erwartet.
Es ist derselbe Tag, an dem die Kurden
ihren Deal mit dem Assad-Regime be-

kannt geben. Gleich nach dem Einmarsch
der Türkei hatten sich Vertreter der Kur-
den auf einer russischen Luftwaffenbasis
mit Russen und Assad-Regime getroffen,
drei Tage verhandelten sie dort. Am Sonn-
tag dann, als US-Verteidigungsminister
Esper den Abzug aller US-Soldaten aus der
Region verkündet, machen es die SDF of-
fiziell: Sie bitten Assad um Truppen. Zur
Verteidigung gegen die türkische Aggres-
sion. „Vor die Wahl gestellt zwischen einem
Kompromiss und einem Völkermord“, er-
klärt ihr Kommandeur, „entscheiden wir
uns für das Leben unserer Leute.“
Noch am Abend zeigt das syrische
Staatsfernsehen Bilder jubelnder Bürger
aus den Städten des Nordens. Regime-
einheiten machen sich auf den Weg und
beziehen teilweise Kasernen, die sie seit
sieben Jahren nicht mehr gesehen haben.
An diesem einen Tag bekommt Assad mehr
Land zurück als in all den Kriegsjahren zu-
sammen. Kampflos.
Es beginnt jetzt ein Wettlauf um die
Region. Von Westen und Süden strömen

Lesen Sie auf den folgenden Seiten:
wie IS-Anhänger fliehen konnten

Assads Truppen werden am Montag
in der Stadt Ain Issa, nahe Raqqa, von
Zivilisten begrüßt

JETZT BEGINNT


EIN WETTLAUF


UM DIE REGION


42 17.10.2019

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