Der Stern - 17.10.2019

(Jacob Rumans) #1

E


s war kurz nach zwölf Uhr mittags
am vergangenen Sonntag, als in der
Zweizimmerwohnung hinter der
schmucklosen Rotklinkerfassade
Ludmila Frizlers Handy brummte:
„Mama, wir sind frei“, stand auf dem
Display. Absenderin: ihre Tochter Elina.
2012 war die 29-Jährige mit ihrem damali-
gen Freund von Hamburg aus in die Tür-
kei und ein Jahr später weiter nach Syrien
zur Terrororganisation IS gezogen. Als des-
sen Kalifat zu zerfallen begann, hatte die
junge Frau sich nach Norden abgesetzt. Seit
Anfang 2018 lebte Elina mit ihren kleinen
Söhnen in einem Haftlager, bewacht von
der bisher mit den USA verbündeten Kur-
denmiliz „Syrische Demokratische Kräfte“
(SDF). Rund 3000 Kilometer entfernt vom
Wohnort ihrer Mutter im schleswig-hol-
steinischen Norderstedt.
„Mama, wir sind frei.“ Wie sehr hatte die
Mutter auf diese Nachricht gewartet. Brief
um Brief hatte Ludmila Frizler in den ver-

gangenen eineinhalb Jahren verschickt.
Ans Auswärtige Amt. Ans Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge. Ans Rote
Kreuz. Immer in der Hoffnung, jemanden
zu finden, der ihre Tochter und die Enkel
herausholen würde aus dem Gefangenen-
Camp Ain Issa unweit der türkischen
Grenze. Nichts war passiert. Doch nun, als
die lang ersehnte Nachricht kam, wusste
sie nicht, ob sie sich freuen oder neue Sor-
gen machen sollte. Das Handy brummte
wieder. „Mama, die Kurden haben gesagt,
wir sind frei. Aber wer kommt jetzt? Ich
weiß gar nicht, was ich tun soll.“
Stunden später berichtete Elina Frizler
dem stern am Telefon aus Syrien: Ein tür-
kischer Kampfjet hatte das Lager am Sonn-
tagmittag im Tiefflug passiert und an-
schließend in der Nähe mehrere Bomben
abgeworfen – nur wenige Minuten nach-
dem das US-Militär einen Stützpunkt in
der Umgebung geräumt hatte. Kurz nach
dem Luftangriff verließen die kurdischen

Bewacher fluchtartig ihre Posten. Dann
plünderten die Häftlinge – Hunderte IS-
Frauen mit ihren Kindern – den Lagerla-
den und flohen bepackt mit Chipstüten,
Dosenfrüchten und Philadelphia-Packun-
gen. Viel mehr gab es nicht. Viele hätten
wie Elina Frizler Zuflucht in einem Flücht-
lingscamp für Syrer in der Nachbarschaft
des Haftlagers gefunden.
„Wo sollen wir hin?“, fragte Elina Frizler
per Whatsapp. „Wohin soll ich nur laufen?
In jeder Richtung lauert Gefahr. Im Osten
sind die Kurden, im Westen die Rebellen-
Milizen, und von Süden rücken Assads
Truppen an. Es muss jemand kommen we-
gen mir und meinen Kindern.“ Die junge
Deutsche entschied abzuwarten, „bis die
Türkei kommt und mich rettet“.
Doch die Türkei hat an der Übernahme
der kurdischen Haftlager und Gefängnis-
se mit Zehntausenden IS-Häftlingen kaum
Interesse. Außerdem verschoben sich in
den Stunden nach dem türkischen Luft-

Diese Aufnahmen
Flüchtender aus
dem Haftlager Ain
Issa schickte Elina
Frizler während
eines Videochats
am Sonntag an
stern-Redakteur
Steffen Gassel

Von Steffen Gassel


POLITIK


Weil sie niemand mehr bewacht, können nun in


Syrien inhaftierte IS-Anhänger fliehen. Unter ihnen


auch eine junge Mutter aus Hamburg


DER AUSBRUCH


44 17.10.2019
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