Der Stern - 17.10.2019

(Jacob Rumans) #1
Steffen Gassel war zuletzt im Februar
in Nordsyrien. Der Deal der Kurden
mit dem Regime in Damaskus macht
weitere Recherchereisen dorthin
vorerst unmöglich. Auch alle ausländischen hu-
manitären Helfer haben das Gebiet verlassen FOTO: PHILIPP VON DITFURTH/STERN

deutsche Ermittler haben über viele Jah-


re im Rahmen von Zeugenbefragungen


und Telefonüberwachung belastendes


Material gesammelt, das den Bundes-


gerichtshof schließlich veranlasste, ein


Ermittlungsverfahren gegen Frizler zu


eröffnen – wegen des Verdachts der Mit-


gliedschaft in einer terroristischen Ver-


einigung im Ausland. Noch Anfang Febru-


ar durchsuchte die Polizei die Wohnung


der Mutter, stellte Dokumente und


Datenträger sicher.


Doch all dieser Ermittlungsaufwand war

kein Grund für die Bundesregierung, eine


Rückholung aus Syrien in die Wege zu lei-


ten. Elina Frizler vor ein deutsches Gericht


zu stellen – daran hatte offenbar niemand


Interesse. Auch das Schicksal ihrer beiden


Söhne, die zwar in Syrien geboren sind,


aber als Kinder einer Deutschen Anspruch


auf ihre Staatsbürgerschaft und die schüt-


zende Fürsorge des deutschen Staates ha-


ben, hat niemand in Berlin zum Handeln


bewegt.


Dabei wussten die Behörden spätestens

seit dem Frühjahr 2018 genau, wo Mutter


und Kinder waren, überwachten sie doch


den Telefonkontakt von Ain Issa nach


Hamburg und die Western-Union-Über-


weisungen, über die Mutter Ludmila ihrer


Tochter Geld zukommen ließ, damit sie im


Lager-Shop Gemüse und andere Lebens-


mittel einkaufen konnte.


Diese Untätigkeit hatte System. 124 aus

Deutschland zum IS ausgereiste Erwach-


sene, 90 davon sollen deutsche Staatsbür-


ger sein, und dazu mindestens 117 Kinder


„mit mutmaßlich deutscher Staatsange-


hörigkeit“ sind laut Erkenntnissen deut-


scher Behörden im Nahen Osten inhaftiert,


fast alle von ihnen in Nordsyrien. Gegen


mindestens 17 Männer und sechs Frauen


liegen Haftbefehle vor.


Mal um Mal haben die Kurden Deutsch-

land und andere westliche Herkunftslän-


der aufgefordert, ihre Staatsbürger aus


der Haft in Syrien abzuholen. Doch wäh-


rend Länder wie das Kosovo oder Ka-


sachstan ihre Bürger aus kurdischer Haft


zurückführten, spielten Deutschland,


Frankreich und andere EU-Staaten auf


Zeit. Nordsyrien wurde zusehends zu


einem nahöstlichen Guantánamo, einer


Art rechtsfreiem Raum, in dem europäi-


sche Staatsbürger auf unabsehbare Zeit


in einer rechtlichen Grauzone wegge-


sperrt werden konnten. Nun zeigt sich,


wie kurzsichtig und unverantwortlich


diese Politik gewesen ist.


Islamistische Gefährder, darunter Dut-

zende Deutsche, die längst in europäischen


Gefängnissen sitzen oder unter Überwa-


chung hiesiger Sicherheitsbehörden ste-
hen könnten, drohen im Kriegschaos aus
der Haft zu entkommen. Deutschland hat
zentrale Sicherheits- und Strafverfol-
gungsinteressen vernachlässigt.
„Die Hauptverantwortung für diese Ka-
tastrophe trägt Bundesaußenminister Hei-
ko Maas. Im Fall der Lager Ain Issa und Roj
hatte das Auswärtige Amt mehr als zwei
Jahre Zeit, eine Rückführung in die Wege
zu leiten“, sagt Claudia Dantschke, eine der
profiliertesten Islamismus-Expertinnen
des Landes und Leiterin der Beratungsstel-

dern, wenn bald die ersten deutschen Kin-
der in den Lagern sterben.“
Elina Frizlers Söhne mussten am ver-
gangenen Sonntag mitansehen, wie kur-
dische Wachen die Zelte ihres Lagers
niederbrannten. „Mama, die wollen uns
alle verbrennen“, sagte der vierjährige
Bilal zu seiner Mutter. Dem Terror des IS-
Kalifats entronnen, werden Kinder wie sie
nun ein zweites Mal traumatisiert. Elina
Frizler sagt, sie habe die Hoffnung auf
Rettung inzwischen verloren: „Ich gehe
davon aus, dass wir jede Nacht hier ster-
ben können.“
Die Bundesregierung hatte monatelang
die Gelegenheit, die Kinder in Sicherheit
zu bringen. Gerade einmal vier Kinder ließ
das Auswärtige Amt aus kurdischer Haft
heimholen. Und auch das erst, nachdem
ein Richter am Oberverwaltungsgericht
Berlin Maas’ Außenamt in einem gehar-
nischten Brief auf „die einschlägigen
Grundlagen des Verfassungs- und Völker-
rechts“ verwiesen hatte.
Nun steuert Berlin auf die peinliche Lage
zu, in Zukunft mit dem Diktator von Da-
maskus über die mögliche Überstellung
Dutzender Staatsbürger verhandeln zu
müssen. Auch weil deutsche Gerichte sie
dazu zwingen. Assad und Putin hätten
einen langen Hebel, um den Europäern im
Gegenzug Zugeständnisse abzupressen.
Zuallererst: die Wiederaufnahme diplo-
matischer Beziehungen mit Syrien.
Elina Frizler fürchtete am Sonntag, dass
mit dem überstürzten Aufbruch ihrer kur-
dischen Bewacher die Unsicherheit für sie
und ihre beiden Söhne wachsen wird. „Wir
müssen hier weg, es wird gefährlich. Die
Syrer sagen, Assad kommt“, sagte sie in
ihrer letzten Sprachnachricht vor Redak-
tionsschluss am Montag. „Wenn wir dem
Assad-Regime in die Hände fallen, werden
die Soldaten uns misshandeln und viel-
leicht sogar töten.“ Sie hatte ihren Ruck-
sack gepackt und wollte sich mit ihren
Jungs so schnell wie möglich Richtung
Türkei aufmachen. Zu Fuß, mitten durchs
Kampfgebiet. „Aber wir kennen den Weg
nicht.“
In ihrer Wohnung in Norderstedt kommt
Ludmila Frizler vor Sorge um Tochter und
die beiden Enkel kaum zur Ruhe: „Ich
möchte nur, dass Elina endlich nach
Deutschland kommt." 2

le „Hayat“ in Berlin, die zahlreiche Fami-
lien in Syrien inhaftierter Deutscher be-
treut. „Deutschland hat eine Schutzver-
antwortung – gerade für die Kinder, aber
natürlich auch für die Mütter“, sagt
Dantschke. Viele der inhaftierten Frauen
hätten mit dem IS abgeschlossen. Auch
Elina Frizler, wie sie im Gespräch mit dem
stern am Sonntag betont: „Ich habe mich
längst vom Islam losgesagt. Ich will schon
seit Langem raus aus Syrien. Aber ich habe
es einfach nicht geschafft.“
Nun fühlten sich diese Frauen von
Deutschland im Stich gelassen, sagt
Dantschke: „Keine gute Ausgangslage für
Deradikalisierung und Reintegration.“
Ihre größte Sorge aber gilt den Kindern.
Viele seien erkrankt, die medizinische
Versorgung zunehmend prekär. „Die Lage
ist dramatisch. Es würde mich nicht wun-

Elinas Mutter Ludmila Frizler versucht seit
2018, Tochter und Enkel aus Syrien zu holen

DIE GRÖSSTE


SORGE GILT


DEN KINDERN


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