Der Stern - 17.10.2019

(Jacob Rumans) #1

4


Der Mond taucht die Grate der Ma-
jella in fahles Licht. Von der ande-
ren Seite des Tals weht der Wind
Wolfsgeheul herüber. Domenico Di
Falco kippt den letzten Schluck
Rotwein und lässt das Feuer in der
Höhlenecke ausgehen. Dann legt er
sich in Jeans und kariertem Flanell-
hemd auf die Pritsche und schlägt
den Schlafsack über sich. Draußen
drängen sich die Tiere aneinander.
Solange Domenico und die Hunde
da sind, traut sich kein Wolf an sie
heran. Auch der Schäfer hat jetzt sei-
ne Ruhe. Die Nationalpark-Ranger,
diese Plagegeister, verirren sich so
spät nicht mehr hier herauf. Die lie-
gen längst in ihren warmen Betten.
Ginge es nach ihnen, dann wäre
kein Platz mehr für Domenico und
seine Herde auf den Almen des Natio-
nalparks Majella im Süden der italie-
nischen Abruzzen. Schon oft haben
sie gedroht, seinen an den überhän-
genden Fels gemauerten Unter-
schlupf abzureißen. Aber es geht nicht
nach ihnen, nicht, solange es Dome-
nico gibt. „Ich bin ein Rebell, schon
immer gewesen“, sagt der 74-Jährige
mit der wettergegerbten Haut. „An-
ders geht es nicht. Das Gesetz schützt
die Wölfe, aber nicht die Schäfer.“
Sechs Jahre war er alt, als Vater
und Großvater ihn zum ersten Mal
mitnahmen zur „transumanza“,
dem Viehtrieb auf die Hochweiden
der Abruzzen. Anfang der 1950er
Jahre war das. Mit mehr als 20 Schä-
fern verbrachten sie die Monate von
Mai bis September damals hier
oben, Tausende Tiere zählten die
Herden. Auf der grünen Hochebene
bauten die Männer Gemüse an. An
den steilen Hochwiesen weiter oben
weidete das Vieh. Frauen und klei-
ne Kinder blieben im Dorf zurück.
Diese Zeiten sind lang vorbei. Sein
letzter Schäferkollege starb vor 15

Jahren. Doch Domenico zieht weiter
Sommer für Sommer hinauf, stur
und unbeirrt, mit 70 Ziegen, 50 Scha-
fen, drei Maultieren und zwei Hir-
tenhunden. Weder die Ranger noch
das Rheuma in der linken Hüfte hal-
ten ihn ab. Unten im Dorf Fara San
Martino hat er längst den Ruf eines
Eigenbrötlers weg. „Cagarella“, klei-
ner Furz, nennen die Leute ihn spöt-
tisch. Was damit zu tun haben mag,
dass man riechen kann, welchem Be-
ruf er nachgeht, wenn er einmal die

Woche für ein paar Stunden ins Dorf
geritten kommt, das Maultier bela-
den mit frischem Ziegenricotta, dem
besten weit und breit.
Er lässt die Leute reden, lädt den
Käse bei seiner Frau Lucia in der
Etagenwohnung ab und sattelt das
Maultier mit einer frischen Wo-
chenration an Wein, Pasta, Hunde-
futter und Lucias Tomatensugo.
Dann verschwindet er wieder in die
Höhe, in die Höhle. „Hier oben bin ich
frei“, sagt Domenico. „Wenn ich

Grün und
menschenleer:
Nahe Scanno
zieht diese Herde
aus Ziegen und
Schafen durch
die malerische
Gebirgslandschaft


D


100 km

Der Mond taucht die Grate der Ma-
jella in fahles Licht. Von der ande-
ren Seite desTalsweht der Wind
Wolfsgeheul herüber. Domenico Di
Falco kippt den letzten Schluck
Rotwein und lässt das Feuer in der

Jahren. Doch
Sommer für
und unbeirrt
fen, drei Mau
tenhunden. W
das Rheuma i

10 0km

Rom

Neapel

Majella-
Nationalpark
Molise
San Marco in Lamis

ITALIEN


Frosolone
Free download pdf