dert war die Welt der Hirten dem
Untergang geweiht.
Giuseppe Nucci beschwört dieses
fast vergangene Leben noch einmal
herauf. Viele seiner Fotos wirken
wie Bruchstücke eines zersprunge-
nen Mosaiks, vom Fotografen auf-
gespürt und neu zusammengesetzt.
Da sind die jungen Frauen von Co-
cullo, die zum Fest des heiligen
Domenico wie vor Jahrhunderten
Nattern durchs Dorf tragen – ein
uralter Ritus, der die wandernden
Hirten vor Bissen giftiger Schlan-
gen behüten sollte. Da ist die Alte
aus Scanno, dieser wie aus der Zeit
gefallenen Abruzzen stadt. Sie ist
eine von nur noch acht Frauen,
die noch immer Tag für Tag die
schwarzwollene Tracht anlegen, al-
lein der Rock mehrere Kilo schwer.
Und dann die marmorne Figur
der Frau des Schäfers, der im Herbst
1919 ein paar Tage zu lang auf der
Hochweide des Campo Imperatore
ausharrte und mit den beiden Söh-
nen jämmerlich in einem Schnee-
sturm erfror. „Impazzisce e muore
dal dolore“ – vor Schmerz verrückt
geworden und gestorben, steht auf
der Tafel am Sockel.
Es sind wohl gerade die Schick-
salsschläge und Entbehrungen, die
die Erinnerung an die Welt der
Transhumanz lebendig halten unter
denen, die der Molise treu geblieben
sind. Transumanza – das Wort hat
unter den Bewohnern der Gegend
heute einen fast mythischen Klang.
Es steht für so etwas wie: das raue,
echte Leben. Und lässt sich in Zeiten
von Achtsamkeit und Nachhaltig-
keit prima vermarkten. Molkereibe-
sitzer werben mit vergilbten Fotos
der Viehzüge ihrer Vorfahren für
Käse. Touristen können die Tratturi
per Mountainbike erkunden. Ende
des Jahres entscheidet die Unesco
über einen Antrag der italienischen
Regierung auf Anerkennung der
Transhumanz als immaterielles
Weltkulturerbe.
Wohl niemand hat so viel dafür
getan, diese fast verschwundene
Tradition am Leben zu erhalten, wie
Carmelina Colantuono aus dem
Städtchen Frosolone. Ihre Familie
ist die einzige in Italien, die die
Transhumanz zwischen Apulien
und den Abruzzen bis heute prak-
tiziert. Mit 300 Kühen der wider-
standsfähigen Podolica-Rasse zie-
58 17.10.2019