Der Stern - 17.10.2019

(Jacob Rumans) #1
Domenico Di Falco
reitet in zwei Stunden
vom Dorf bis zur Höhle,
Steffen Gassel (l.)
und Fotograf Giuseppe Nucci brauchten
zu Fuß vier. Nicht schlecht für Städter,
fand der Schäfer

hen die Colantuonos Jahr für Jahr
im Mai von ihrem Wintersitz im
apulischen San Marco in Lamis
hinauf in die Abruzzen. Carmelina
ist die Chefin des Unternehmens.
67 Mal muss das Vieh auf der 180 Ki-
lometer langen Route durch 21 Prä-
fekturen eine Straße überqueren.
Das bedeutet: 67 Anträge auf Stra-
ßensperrung müssen Monate im
Voraus gestellt und bewilligt wer-
den. Ein monatelanger bürokrati-
scher Aufwand.
Aber Carmelina besteht darauf,
die Familientradition am Leben zu
halten. „Wir tun das aus Respekt für
die Leistung und die Opfer unserer
Vorfahren“, sagt die 50-Jährige mit
wallender schwarzer Mähne. „Die
Transhumanz ist ein Teil unserer
Familiengeschichte, ein Teil dessen,
wer wir sind.“ Bis heute erinnert sie
sich, wie sie als kleines Mädchen
den Vater vermisste, der die Mona-
te von September bis Mai mit dem
Vieh in Apulien verbrachte. Und an
ihre Freude, wenn das Scheppern der

Kuhglocken im Frühjahr seine
Rückkehr ankündigte.
Heute führen ihre vier Brüder ge-
meinsam mit befreundeten Hirten
aus der Gegend als „cavalieri“ hoch
zu Pferd den viertägigen, 180 Kilome-
ter weiten Treck an. Mit ihren langen
Reitermänteln, breitkrempigen Hü-
ten und Hütestäben wirken sie wie
Helden aus einem Italowestern.
Carmelina fährt normalerweise den
Großteil der Strecke im Auto mit.
Dieses Jahr aber setzte sie sich
auch selbst aufs Pferd. Ein italie-
nisches und ein französisches
Fernsehteam begleiteten die Trans-
humanz. Aus Norditalien, Deutsch-
land und Kanada waren Gäste
angereist, die mitreiten wollten,
viele von ihnen Nachfahren von
Auswanderern aus der Molise. So-
gar ein japanischer Professor samt
Assistentin war dabei – und muss-
te gerettet werden, als er im strö-
menden Regen vom Pferd in einen
schlammigen Graben stürzte. Am
Ende aber hatte das Erlebnis dieser

Reise alle in ihren Bann geschlagen.
„Mit den Tieren zu arbeiten, unter
den Sternen zu schlafen: Irgendwie
finden die Menschen dabei wieder
zu sich selbst“, sagt Carmelina Co-
lantuono.
Giuseppe Nucci hat viele magi-
sche Momente entlang des Trecks
der Colantuono-Herde festgehalten.
Einer sticht heraus. Am nebeligen
letzten Morgen des Zugs erklimmen
die weißen Tiere eine Anhöhe ober-
halb des Flusses Biferno. Da bläst der
Wind die Wolken weg. Und auf ein-
mal sieht man klar und deutlich
eine grüne Schneise, die sich quer
durch die Landschaft zieht: den al-
ten Tratturo, auf dem wie vor Jahr-
hunderten das Vieh entlangzieht. 2

MIT DEN BREITEN HÜTEN WIRKEN DIE REITER


WIE HELDEN AUS EINEM ITALOWESTERN


Wie eine Auto-
bahn aus Gras:
Mancherorts sind
die Hirtenwege
noch immererkenn-
bar – der Boden
wurde von Millionen
Hufen in die Land-
schaft getrampelt.
Heute dienen sie
häufig als Trassen
für Gas- und
Stromleitungen

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