Der Stern - 17.10.2019

(Jacob Rumans) #1
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ine Frechheit“, sagt der Autofahrer am ersten Tag
der „Rebellion Week“, als ihn die ARD fragt, was
er von den Berliner Straßenblockaden für das
Klima hält. Diese Radikalen, kommt es aus allen
Ecken, was die sich erlauben. Zu wagen, die Pend-
ler*innen zu behelligen, in Großbritannien so-
gar den Flugverkehr! Ein Protestforscher erklärt darauf,
wie groß die Gefahr der Radikalisierung sei, Söder und
der Junge-Union-Chef Kuban bestärken das mit Nach-
druck. Christian Lindner fordert Grüne und Klima-
aktivist*innen auf, sich zu distanzieren. Sorgenvolle
Miene. Vorsichtshalber lässt die Berliner CDU dann
doch noch mal prüfen, ob Extinction Rebellion nicht
womöglich verfassungsfeindlich ist.
Kinder mit niedlichen Schildern, in Gottes Namen
auch freitagvormittags, das geht ja noch, sagen viele. Aber
diese Leute, die ohne einen Funken Selbstironie auf Kreu-
zungen in Berlin-Mitte stehen, sich an Badewannen
ketten und von „Rebellion“ und „Aussterben“ sprechen?
Ne. Da hört der Spaß auf. Die machen ja alles kaputt – all
die mühsam gewonnenen Sympathien für die Klima-
schützer, sämtliche Erfolge, die die „Fridays for Future“-
Bewegung erzielt hat. Dürfen die das überhaupt? Es ist
das #howdareyou der Jetzt-ist-auch-mal-gut-Fraktion.
Man muss nicht alles, was Extinction Rebellion macht
und fordert, unterstützen. Doch sie ist kaum auszu-
halten – diese Überheblichkeit, mit der der zivile Un-
gehorsam in Berlin reduziert wird auf die Art des
Protestes und auf die Befürchtung, dass dadurch
Sympathien verloren gehen könnten.

Tatsächlich sind die Sympathien nie größer gewesen –
wie jeder sehen konnte, als am 20. September weltweit
vier Millionen Menschen auf die Straße gingen. Und
auch die Sorge, dass ziviler Ungehorsam willkürlich und
gewaltbereit angewandt werden könnte, ist nicht be-
rechtigt. Wer sich mit dem Thema auseinandergesetzt
hat, der kennt die philosophisch-moralischen Grund-
ideen – beschrieben etwa von Thoreau, Rawls, Arendt
oder Habermas –, auf die sich Aktionen wie die von
Extinction Rebellion beziehen.
Danach ist ziviler Ungehorsam als Protestform nicht
willkürlich, sondern strategisch. Wie Rawls erklärt,
dient er nicht Einzelinteressen, sondern der Allgemein-
heit, er resultiert aus einem „Pflichtenkonflikt“: dem
Konflikt zwischen der Pflicht, demokratisch legitimier-
te Gesetze zu achten, und der Pflicht, gegen Ungerech-
tigkeiten aufzubegehren sowie die Überwindung
dieser Ungerechtigkeiten durch das Wirken demokra-
tischer Institutionen einzufordern.
Wie kann es sein, dass wir Martin Luther King
und Mahatma Gandhi als Freiheitskämpfer und Hel-
den feiern und gleichzeitig nicht damit klarkommen,
dass ihre Methoden Menschen inspirieren, es ihnen
gleichzutun und mit massenhaftem zivilem Unge-
horsam gegen aktuelle Ungerechtigkeiten anzugehen?
Oder ist die Klimakrise nicht „ungerecht“ genug?
In Wahrheit ging es bei der Reaktion auf den zivilen
Ungehorsam von Extinction Rebellion nie um etwaige
Ungerechtigkeiten. Die Sorge, die die Kritiker umtreibt,
ist die Sorge, dass man die Proteste nicht mehr igno-
rieren kann. Dass man sie nicht politisch abtun oder
wegloben kann. Man muss sich ihnen stellen, den
Ungehorsamen. Denn sie stören.
Wer so tun will, als sei es die Schuld der Demonstran-
ten, dass Klimaschutz umstritten ist, dem sagen wir:
#howdareyou. Der „Welt“-Chef Ulf Poschardt hat sich
in der „Zeit“ aufgeregt; die logische Antwort auf die
Proteste ist in seinen Augen ein „f*** you“, denn mit
#howdareyou würde die Bewegung moralisch er -
pressen. Maybe. Aber die Klimafrage ist im Kern eine
moralische. Und auf die muss eine Antwort gefunden
werden. Unser #howdareyou ist bereits eine Antwort:
die Antwort auf das „fuck you“ der Entscheidungs-
träger*innen dieses Landes, das in jeder Zeile des
Klimapakets, in jeder Bemerkung über das „Wie“ der
Proteste, in all der Ausredensucherei mitschwingt.
Nach der letzten Landtagswahl dieses Jahres wird
eine nie da gewesene Zahl von AfD-Politikern in den
Parlamenten sitzen und Klimaschutz und Toleranz
gleichermaßen den Kampf ansagen. Dann wird es
heißen, man habe zu wenig auf die Menschen gehört,
sie verloren. Aber nicht nur die Wähler am rechten
Rand gilt es zu überzeugen. Es ist längst an der Zeit,
dass die Regierung Haltung zeigt, sich von Klima-
leugnern und -populisten emanzipiert und Hand-
lungsfähigkeit beweist. Wenn Menschen dies einfor-
dern, spricht das in erster Linie für eine wache, eine
nach Gerechtigkeit strebende Zivilgesellschaft. Dass
sie sich der Methoden des gewaltfreien Widerstandes
bedienen, sollte Entscheidungsträger*innen aufwe-
cken. Es ist auch die Sympathie für ihre Arbeit, die

gefährdet ist. (^2)
An dieser Stelle schreiben im wöchentlichen Wechsel unsere Kolumnisten
Luisa Neubauer, Richard David Precht, Harald Welzer und Aleida Assmann
Die 23-Jährige ist die bekannteste
Aktivistin der deutschen
„Fridays for Future“-Bewegung
VON DER PFLICHT, GESETZE
ZU ACHTEN – UND DER
PFLICHT AUFZUBEGEHREN
62 17.10.2019
KOLUMNE
AUF DEM WEG NACH MORGEN
Luisa Neubauer

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