Farrow erzählte dem New Yorker
stern-Korrespondenten Nicolas
Büchse, dass er jede Woche E-Mails
von Opfern sexueller Gewalt bekomme.
Er bemühe sich, jedem Fall von Substanz
nachzugehen. Mitarbeit: Anuschka Tomat
oder vor Gericht standen. Nach all den
Jahren glaubte man zum Beispiel endlich
den Frauen, die vom Schauspieler Bill Cos-
by sexuell missbraucht worden waren.
Erzählten Sie den Frauen auch von Ihrer
Schwester Dylan?
Ja, ich erzählte ihnen davon, dass meine
Schwester sich mit den Vorwürfen gegen Al-
len an die Öffentlichkeit gewagt hatte in
einer Zeit, als sie dafür verleumdet und als
psychisch labil abgestempelt wurde. Auch
meine Mutter war verleumdet worden, als
sie meine Schwester verteidigte. Und auch
ich bekam Gegenwind, als ich es letztend-
lich tat.
Sie stellten sich 2016 in einem Artikel
öffentlich auf die Seite Ihrer Schwester.
Sie hatten die Gutachten und Gerichts-
aufzeichnungen gelesen und schrieben
nun, Dylans Aussagen fielen in eine
Kategorie glaubhafter Behauptungen
sexuellen Missbrauchs, die von den
Medien viel zu häufig ignoriert würden.
Das ändert sich zum Glück jetzt langsam.
Sie schrieben weiter: „Solches Schweigen
ist nicht bloß falsch, es ist gefährlich. Es
sendet eine Botschaft an die Opfer, dass
es sich nicht lohnt, solche Vor-
würfe zu äußern. Es ist eine Bot-
schaft, wer wir als Gesellschaft
sind, was wir übersehen, wen wir
ignorieren, wer wichtig ist und
wer nicht.“
Ich finde es sehr wichtig, sich das
bewusst zu machen. Aber ich
muss ehrlich sein: Ich war viel zu
lange Zeit auch einer dieser Typen,
die Frauen mit diesen traumati-
schen Erlebnissen gesagt haben,
sie sollten einfach darüber
schweigen und weitermachen.
Haben Sie das zu Ihrer Schwester gesagt?
Ja. Ich musste einen langen Weg gehen.
Ich habe viele Jahre lang zu Dylan gesagt:
Halt den Mund. Ich weigerte mich, mich
mit dem auseinanderzusetzen, was ihr
widerfahren war. Ich wollte mich nicht
durch meine Eltern definieren lassen und
nicht durch die schlimmsten Jahre im
Leben meiner Mutter, meiner Schwester
und meiner eigenen Kindheit. Ich wollte
verdrängen. Irgendwann erkannte ich,
dass ich falsch lag und Dylan recht hatte.
Und dass sie etwas Mutiges tat.
Einige der Frauen, die mir in
den vergangenen Jahren von
ihren Erfahrungen mit sexuel-
lem Missbrauch berichtet haben,
haben erkannt, dass ich diesen
Prozess durchgemacht hatte
und sie verstand. Und vielleicht
fassten sie auch Vertrauen zu
mir, weil ich die Mechanismen
kannte, wie Leute mundtot
gemacht werden – weil ich je-
manden kenne, der durch etwas
Ähnliches gegangen ist.
Suchen Sie den Rat Ihrer Schwester?
Ja, ich rufe sie immer wieder mal an und
bitte sie, mich zu unterstützen. Sie hilft
mir dabei, die Opfer zu verstehen, etwas
nachzuvollziehen, das man schwer nach-
vollziehen kann, wenn man ein Mann ist
und das Glück gehabt hat, kein Opfer se-
xueller Gewalt geworden zu sein, und nicht
diese emotionalen Konsequenzen durch-
leben musste.
Was haben Sie von Ihrer Schwester ge-
lernt?
Geduldig zu sein und gleichzeitig mei-
nen Interviewpartnern die Botschaft
zu vermitteln, dass sie einen harten und
schmerzlichen Prozess durchmachen,
dass es aber am Ende besser wird, wenn
man die Wahrheit ausgesprochen hat.
Und ich lernte schon früh aus eigener
Anschauung, dass hinter diesen Geschich-
ten von Missbrauch und Trauma noch
etwas Größeres steht. Es geht um Syste-
me, die Missbrauch begünstigen, es geht
um Schweigekartelle im Showgeschäft,
in Firmen und Politik. Es geht darum, dass
wohlhabende und mächtige Männer in
der Lage sind, das mediale Narrativ zu ma-
nipulieren. Wir müssen dem Schweigen
ein Ende setzen.
Als Ihre Enthüllungen über Weinstein
vor zwei Jahren im „New Yorker“ erschie-
nen, gab das der #MeToo-Bewegung
einen Schub. Hat sich schon etwas be-
wegt?
Es hat sich einiges zum Positiven geändert.
Immer mehr Opfer treten an die Öffent-
lichkeit, sie lassen sich nicht mehr von
mächtigen Männern und ihren aggressi-
ven Anwälten einschüchtern. Wir haben
eine Diskussion in der Gesellschaft darü-
ber, welches Verhalten wir nicht mehr dul-
den wollen. Auch die Medien merken, dass
ihre Rolle wichtig für die Verteidigung der
Freiheit ist. Und doch sehen wir noch im-
mer Männer an der Macht, in jedem Be-
reich, die ernster Verbrechen beschuldigt
werden.
Frustriert es Sie, dass Donald Trump noch
immer im Weißen Haus sitzt und Ihr
Vater noch immer Filme drehen darf?
Ich bin optimistisch. Es wird immer muti-
ge Menschen geben, die nach vorn treten
und die Wahrheit erzählen. Und diese
Wahrheit kann nicht für immer unter-
drückt werden. 2
„Durchbruch.
Der Weinstein-
Skandal,
Trump und die
Folgen“ von
Ronan Farrow,
Rowohlt, 528
Seiten, 24 Euro
„ ES GEHT UM
SYSTEME, DIE
MISSBRAUCH
BEGÜNSTIGEN“
17.10.2019 81