Der Stern - 17.10.2019

(Jacob Rumans) #1
FOTO: SEBASTIÃO SALGADO/AGENTUR FOCUS

SEBASTIÃO SALGADO
1944 im brasilianischen Bundesstaat
Minas Gerais geboren, lebt der
Fotograf heute in Paris. Bekannt
machten ihn mehrjährige Projekte
wie „Workers“ und „Migrations“.
Der Bildband „Genesis“ mit Fotografien
unberührter Natur verkaufte sich
über 600 000-mal. Salgado wurde
2016 in die Académie des Beaux-Arts
aufgenommen, eine der höchsten
französischen Auszeichnungen.
Am 20. Oktober erhält er den Friedens-
preis des Deutschen Buchhandels.

Herr Salgado, mehr als vier Millionen


Menschen haben „Genesis“ gesehen, Ihre


Schwarz-Weiß-Bilder der abgelegensten


Gegenden der Welt. Die Landschaften,


die Tiere und Menschen in der Antarktis,


im Hochland Äthiopiens oder im


Dschungel Papua-Neuguineas sind die


erfolgreichste Foto-Ausstellung über-


haupt. Was fasziniert so viele Menschen


an Ihren Bildern?


Das ist schwer für mich zu erklären. Einer-


seits bin ich mit meinen Bildern Teil einer


großen Gemeinschaft auf der Welt, einer


großen Bewegung. Millionen Menschen


machen sich wie ich Sorgen um unseren


Planeten. Wir sehen, wie der Mensch das


Gleichgewicht der Erde zerstört. Wir sehen,


wie unsere Lebensbedingungen in Gefahr


geraten sind. Wir wissen, dass die Schön-


heit der Erde, wie ich sie fotografiert habe,


bedroht ist. Zugleich bin ich mit ganzem


H

Herzen an das Projekt herangegangen, die
unberührtesten Flecken der Erde zu besu-
chen. Als Fotograf habe ich mich stets auf
das eingelassen, was vor mir lag. Ich bin in
der Situation aufgegangen, in der ich mich
befand. Das spürt man vermutlich, wenn
man meine Bilder anschaut.
Mit „Genesis“ haben Sie vor Jahren ein
Thema begonnen, das heute mehr Men-
schen zu bewegen scheint denn je. Auch
andere Themen haben Sie aufgegriffen,
lange bevor es andere getan haben.
Das stimmt. „Workers“, meine Bilder über
das Schwinden der Handarbeit und der tra-
ditionellen Formen von Produktion, sind
entstanden, als noch niemand über die Di-
gitalisierung und das Verschwinden sol-
cher Arbeit sprach. „Migrations“, das
nächste Projekt, war eine direkte Folge da-
raus, die Konsequenz aus der Globalisie-
rung, welche Menschen in die Städte und
über Grenzen trieb. Auf der Suche nach
einem besseren Leben oder auf der Flucht
vor Armut und Krieg.
Auch das, Jahre bevor alle von der Flücht-
lingskrise sprachen. Woher kommt Ihr
frühes Gespür für die großen Themen?
Es hat sicher damit zu tun, dass meine Frau
Lélia und ich einmal Flüchtlinge waren.
Ihre Flucht 1969 vor der brasilianischen
Militärdiktatur hat Sie sensibilisiert?
Als wir damals in Paris ankamen, waren wir
verzweifelt. Wir hatten nichts und wuss-
ten, dass wir über viele Jahre nicht mehr
und vielleicht nie in unsere Heimat zu-
rückkehren konnten. Wir hatten aufgege-
ben, was wir waren. Familie, Freunde, das
gewohnte Essen, das gewohnte Wetter, al-
les. Damit hatten wir unsere Identität ver-
loren und mussten zugleich eine neue
Sprache, eine neue Kultur lernen. Solche

Erfahrungen haben uns empfänglich für
das Schicksal anderer gemacht.
Sie beide hatten in São Paulo studiert.
Ja, Lélia wollte Pianistin werden, ich stu-
dierte Volkswirtschaft. Aber in Brasilien
war es zu gefährlich geworden. Freunde
und Kommilitonen hatte man verhaftet,
weil sie als Kommunisten und Terroristen
galten. Da blieb uns nur die Flucht. In Euro-
pa angekommen, mussten wir ein Jahr lang
hart arbeiten, um zu überleben. Ich habe
in einem Supermarkt Lastwagen entladen,
Lélia hat an der Kasse gesessen, um Geld
zu verdienen. Schließlich erhielten wir ein
Stipendium, sodass wir unser Studium an
der Sorbonne fortsetzen konnten.
Ihre Frau studierte dann Architektur, Sie
selbst weiter Volkswirtschaft.
Nach dem Studium begann ich, für die
Weltbank zu arbeiten und die Internatio-
nale Kaffeeorganisation in Afrika, erhielt
Einblick in die wirtschaftlichen Zusam-
menhänge wie in die Politik. Das hat sicher
meine Sinne für das geschärft, was ich spä-
ter fotografieren sollte.
Volkswirtschaft ist Mathematik, Tabel-
len, Philosophie, Politik. Fotografie ist
doch etwas ganz anderes.
Der Blick durch die Kamera eröffnete mir
eine neue Welt. Um Bilder zu machen,
muss man Fotograf sein, nicht Volkswirt.
Fotografie ist eine Sprache. Du hast immer
einen Rahmen, den du füllen musst. Du
arbeitest mit Linien, mit Licht. Du hast äs-
thetische Vorstellungen. Und du musst
diese Sprache lieben, um sie gut zu spre-
chen. Erst dann können dich andere, erst
dann können andere Menschen deine Bil-
der verstehen.
Haben Sie deshalb einmal erklärt, dass
Sie nicht an das eine Foto glauben, an

Interview:


Hans-Hermann Klare


4


In der Saint Andrews
Bay auf der Insel Süd-
georgien stieß Salgado
2009 auf diese Süd-
lichen Seeelefanten

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