Der Stern - 17.10.2019

(Jacob Rumans) #1
Mit seiner Frau Lélia forstet
Salgado in Brasilien den atlantischen
Regenwald wieder auf –
mehr als zwei Millionen Bäume
wurden neu gepflanzt

FOTO: PHILIPPE PETIT/PARIS MATCH/ GETTY IMAGES

den „moment décisif “, den entscheiden-


den Moment, von dem Ihr berühmter


Kollege Henri Cartier-Bresson gesagt


hat, er mache ein gutes Foto aus?


Für mich ist Fotografie ein Prozess. Nicht


das eine Bild zählt, sondern Teil des Gan-


zen zu sein, das man gerade porträtiert.


Daraus entstehen die Fotos, und daraus


beziehen sie ihre Kraft. Für mich ist es eine


große Freude, dort zu sein, wo ich bin. Ich


fühle mich wohl bei den Menschen und an


dem Ort, an dem ich arbeite. Das ist seit


meinen ersten Bildern so, die ich vor vie-


len Jahren in den Bergen Lateinamerikas


gemacht habe.


Sie sind nicht einfach Beobachter, son-


dern versuchen, eins zu werden mit der


Umgebung?


Damals in Lateinamerika war ich zwei, drei


Monate vor Ort, schon allein weil ich nicht


genug Geld hatte, um zwischendurch mei-


ne Familie zu sehen. Darunter habe ich ge-


litten. Ich habe meine Frau Lélia und mei-


nen gerade erst geborenen Sohn Juliano


vermisst. An manchen Tagen habe ich mich


zurückgezogen und geweint. Aber das war


der Preis, den ich zahlen musste, um die Bil-


der jener Menschen in den Anden machen


zu können, bei denen ich mich aufhielt. Die


wiederum hatten mich aufgenommen. Wir


saßen oft zusammen, meist in der Kirche,


und erzählten uns Geschichten. Sie aus


ihrem Leben, ich aus meinem. Das gab mir


das Gefühl, zwar von meiner Familie ent-


fernt, aber doch irgendwie zu Hause zu sein.


So ist es bis heute.


Ob Indigene in den Anden oder isolierte


Völker am Amazonas, gibt es nicht einen


großen Unterschied zwischen denen und


Ihnen? Zwischen Menschen, die manch-


mal wie in der Steinzeit leben, und einem


Mann, der die Welt bereist hat, in ver-


schiedenen Ländern und Millionenstäd-
ten gelebt hat?
Nein, ich glaube, wir sind im Grunde alle
dasselbe Tier. Als ich Löwen oder Krokodi-
le fotografiert habe für „Genesis“, war das
kompliziert. Denn dazu musste ich verste-
hen, in welchem ökologischen System sie
lebten. Aber ein abgelegenes Volk zu besu-
chen ist eine Begegnung mit derselben Art.
Selbst wenn wir nicht dieselbe Sprache
sprechen, ist für sie dasselbe wichtig wie
für mich: Verständnis, Liebe, Solidarität,
das Leben als Gruppe und in einer Grup-
pe. Darin unterscheiden wir uns nicht. Aus
diesem gemeinsamen Gefühl heraus sind
meine Bilder entstanden. In Wahrheit habe
ich nicht die Fotos gemacht, sondern sie
haben sie mir gegeben.
Nun waren Sie in Ihrem Fotografenleben
nicht nur in solch friedlichen Umgebun-
gen, Sie haben auch Krieg und Gewalt
fotografiert.
Auch dort entsteht eine Verbindung zwi-
schen den Menschen und mir. Ich entsinne
mich an ein Flüchtlingslager in Bosnien, das
aus abgestellten Eisenbahnwaggons be-
stand. Darin lebten Menschen, die vor der
Gewalt des Krieges auf dem Balkan geflo-

hen waren. Als ich dort ankam, um zu foto-
grafieren, verließen sie ihre Unterkünfte.
Ich machte Bilder von ihnen, und sie began-
nen zu weinen. Warum? Weil jemand
gekommen war, sie zu besuchen. Weil sich
jemand für sie interessierte. Für ihr Schick-
sal. All das passiert, wenn man sich Zeit
nimmt. Dann entsteht so etwas wie ein Ge-
meinschaftsgefühl, wie Solidarität.
Mit „Genesis“ wurde die Schönheit der
Erde zu Ihrem Thema. Weshalb?
Ich konnte nicht anders. Nach Jahren auf
dem Balkan, vor allem nach dem Genozid
in Ruanda war ich krank geworden. Ich war
mit Ihnen zusammen im benachbarten
Goma, als dort jeden Tag 15 000 oder 20 000
Menschen starben. Vor uns Berge von Lei-
chen, mehrere Meter breit, Dutzende Me-
ter lang. Bulldozer, welche die Toten auflu-
den und fortschafften, während ein Arm
oder eine Hand zurückblieb. Danach konn-
te ich nicht mehr. Zurück in Paris, schlief
ich mit Lélia. Aber aus meinem Körper kam
kein Sperma mehr, sondern Blut. Ich bin
zum Arzt gegangen, weil ich glaubte, mei-
ne Prostata sei krank. Der untersuchte mich
und sagte: Sebastião, deine Prostata ist
nicht das Problem, du selbst bist es. Du bist
am Sterben. Hör auf mit deiner Arbeit, mach
was anderes.
Und das haben Sie getan?
Ja, mit Lélia bin ich gleich darauf nach Bra-
silien gefahren. Drei Monate haben wir
Urlaub am Strand gemacht. Es war zufäl-
lig derselbe Moment, in dem meine Eltern
so alt geworden waren, dass sie uns ihre
Farm übergeben wollten. Ich hatte ja be-
schlossen, die Fotografie aufzugeben. Nun
wollte ich mich um das Land meiner Fa-
milie kümmern, auf dem ich aufgewach-
sen bin. Dort entstand die Idee, „Instituto
Terra“ zu gründen. Mit unserem Geld wie
dem Geld von Spendern wollten wir das
vor allem durch Viehzucht gepeinigte Land
wiederaufforsten. Denn die Erde dort war
so krank wie ich. Etwa zwei oder drei Jah-
re haben wir für die Vorbereitungen ge-
braucht. Dann konnte es losgehen.
Mehr als zwei Millionen Bäume haben Sie
und Ihre Mitstreiter dort in den vergan-
genen 20 Jahren gepflanzt.
Ja, ein richtiger Wald ist dabei entstanden.
Der Grundwasserspiegel ist wieder ge-
stiegen. Heute gibt es dort über 300 ver-
schiedene Arten von Bäumen, mehr als
170 Vogelarten, etwa 30 Säugetierarten, je
15 Reptilien- und Amphibienarten. Wir 4

DIE


DORT


WA R S O


KRANK


WIE ICH“


ERDE


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