Der Stern - 17.10.2019

(Jacob Rumans) #1
Hans-Hermann Klare kennt Salgado
seit fast 30 Jahren. Für den stern haben
sie gemeinsam Reportagen erarbeitet
über das Ende des Bürgerkriegs in
Mosambik 1992, den Völkermord in Ruanda 1994
und die Kosovo-Flüchtlinge im Jahr 1999 FOTO: CORENTIN FOHLEN/STERN

haben den atlantischen Regenwald wieder


zum Leben erweckt.


Wenn man so will, wollten Sie nach all der


Destruktion, deren Zeuge Sie geworden


waren und die Sie fotografiert haben, et-


was Konstruktives tun.


Ich war genauso ausgelaugt wie der Boden


dort. Und so wie sich das Land allmählich


erholte, ging es auch mir langsam wieder


besser. Zwei Jahre später begann meine


Arbeit an „Genesis“. Ich wollte die un-


berührtesten Gegenden der Welt erkunden.


Das war Neuland für Sie?


Ja, über Wochen habe ich bei Naturschutz-


organisationen, in Bibliotheken und Insti-


tuten Informationen gesammelt, wo ich in


den folgenden Jahren hinfahren würde. Ein


Freund bei der Fotoagentur Magnum in


London warnte mich damals: Warum


Landschaften, warum Tiere? Du warst im-


mer ein Fotograf sozialer Themen. Dabei


solltest du bleiben.


Aber Ihr Entschluss stand fest?


Ja. Bis zu „Genesis“ hatte ich noch nie Land-


schaft fotografiert und nur ein einziges


Tier. Uns. „Genesis“ gab mir die Chance, im


wahrsten Sinne auf den Boden zurückzu-


kehren. Zu Bäumen, zu Sträuchern, Blu-


men, zu den Mineralien. Ich lernte, dass


man sich auch für sie Zeit nehmen muss-


te. Wie Pflanzen sich nach dem Licht aus-


streckten. Die größte Expedition, die ich in


all den Jahren für „Genesis“ gemacht habe,


war dabei die Reise zu mir selbst.


Wieder waren Sie dafür über Monate auf


Reisen, getrennt von Frau und den inzwi-


schen erwachsenen Söhnen.


Ohne meine Frau hätte ich das alles nicht


geschafft. Lélia ist die Leidenschaft mei-


nes Lebens. Natürlich gab es auch andere


Frauen in meinem Leben, aber keine war


so wie sie. Wir sind seit 55 Jahren zusam-


men. Ohne sie wäre ich schon als Flücht-
ling verzweifelt und hätte später nie so viel
so gut gearbeitet. In meinen frühen Jahren
gab es billige Flüge nach Amerika nur von
Brüssel, nicht von Paris. Wie oft ist Lélia in
der Frühe mit mir aufgestanden, um mich
zum Flughafen zu bringen oder wieder ab-
zuholen. Drei, vier Stunden auf der Auto-
bahn waren das immer. Und sie hat sich um
die Familie gekümmert, um Juliano und
um unseren zweiten Sohn Rodrigo, der mit
Downsyndrom geboren wurde.
Sie war der Manager Ihres Familienlebens?
Nein, viel mehr als das. Ich bewundere sie
für ihr ästhetisches Gespür. Die Bücher, die
sie von meinen Fotos gestaltet, die Ausstel-
lungen, die sie davon konzipiert, die Klei-
dung, die sie trägt, sie alle zeigen ihre un-
geheure Eleganz. Dafür bewundere ich sie.
Sie ist mein Freund, sie ist mein Partner,
sie ist alles, was ein Mensch braucht, um
glücklich zu sein.
Es gibt ein Foto, das für Ihre Arbeit unge-
wöhnlich ist. Sie waren noch relativ am
Anfang Ihrer Karriere, als ein Mann 1981
versuchte, den US-Präsidenten Ronald
Reagan zu erschießen. Sie standen dane-
ben. Wie wichtig war das Foto für Sie?
Wir haben damit viel Geld verdient und
konnten uns damals unser Apartment in

Paris kaufen und einen schicken Alfa Ro-
meo. Ich war im Auftrag der „New York
Times“ unterwegs. Die hat das Foto natür-
lich gedruckt. Doch mir war eines sofort
klar: Ich würde ein Leben lang als der Foto-
graf gelten, der bei dem Attentat dabei war.
Das würde mich definieren. Um genau das
zu verhindern, habe ich zu Lélia gesagt: Wir
werden das Foto nach der Veröffentlichung
vom Markt nehmen.
Und das haben Sie gemacht?
Wir haben die Negative im Safe einer Bank
verstaut, damit die Bilder nie wieder ge-
zeigt werden. Bis heute. Was ich da fotogra-
fiert habe, war eine Minute meines Berufs-
lebens. Ein Zufall. Er hätte all meine Arbeit
in Lateinamerika und Afrika in den Jahren
danach überschattet und zerstört.
Gerade haben Sie sieben Jahre lang die
Schönheit des Regenwalds in Amazonien
dokumentiert und abgelegene Völker be-
sucht, die dort an den Flüssen leben. Soll
das Ihr letztes großes Projekt sein?
Ich bin jetzt 75 Jahre. Wenn die Ausstellung
im April 2021 eröffnet wird, in São Paulo
und Paris, werde ich noch zwei Jahre älter
sein. Schon jetzt sind solche Reisen sehr
anstrengend für mich. Mein Magen re-
agiert empfindlicher als früher. Meine
Knie halten nicht mehr so viel aus. Weil ich
auf dem glitschigen Boden ausgerutscht
bin, habe ich seit einer Weile Schmerzen in
der Schulter. Und mein Augenarzt sagt mir,
dass ich grauen Star habe und bei Gelegen-
heit operiert werden sollte. Auch das wür-
de mich für Monate lahmlegen.
Weshalb all die Strapazen nach dem
Erfolg von „Genesis“?
Weil Amazonien zum Inbegriff dessen ge-
worden ist, was an unserer Welt schön ist
und was zugleich falsch läuft. Und weil ich
jetzt, erst gegen Ende meines Lebens, finan-
ziell so unabhängig geworden bin, dass ich
dieses Projekt genau so machen konnte,
wie ich wollte. Ich musste auf niemanden
Rücksicht nehmen. Ich konnte Expeditio-
nen ausrüsten, Übersetzer, Anthropologen
mitnehmen, kleine Flugzeuge chartern. Die
Schönheit dieser gefährdeten Region mei-
nes Heimatlandes Brasilien zu zeigen ist
mein Vermächtnis. 2

Sein letztes großes Projekt
führte Salgado weit in den
Amazonas – und zu diesem
Stammesporträt

ICH FÜHLE


MICH


WOHL


BEI DEN


MENSCHEN“


92 17.10.2019

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