Der Stern - 17.10.2019

(Jacob Rumans) #1

M


ein Handy ist antik. Es ist sechs
Generationen alt, hat einen
Sprung im Display und von Ge-
sichtserkennung noch nie was
gehört. Darin gleicht es mir
aufs Haar: Ich habe auch mas-
sive Probleme beim Wiedererkennen von
Leuten („Hey, Jochen!“ – „Ähm, ich bin
Arne“), von diversen Sprüngen
im Display ganz zu schweigen.
Ich finde es angenehm, dass
mein Handy nicht mehr kann
und nicht hübscher ist als ich.
Trotzdem fand ich es jetzt an
der Zeit, mich mal wieder in die
Zivilisation einzuklinken und
technisch auf den neuesten
Stand zu gelangen, mit A13 Bio-
nic Chip und 12 Megapixel
Teleobjektiv und Super Retina
XDR, was immer das auch ist.
Jedenfalls klingt es bedeutend,
wie immer im Fall von kryp-
tischen Buchstabenkombi-
nationen bei gleichzeitigem
Verzicht auf Bindestriche.
Ich stehe also im Laden und
taste mich ehrfürchtig durch
die neuesten Modelle. 18 Stun-
den Videowiedergabe, doll. 256
oder 512 GB Speicher, fantas-
tisch. Ich checke kurz meine
Handy-Antiquität, die ich vor
unendlich fernen sechs Jahren,
wenn ich mich recht entsinne,
mit extra viel Speicher gekauft
habe. 64 GB, sehe ich gerade, da-
von noch 5,32 verfügbar, obwohl
ich 24 583 Fotos und eine Fan-
tastillion nie gehörter Podcast-
Folgen auf dem Handy habe.
Eine schwierige Entschei-
dung: Brauche ich nun das
Vierfache oder das Achtfache meines jet-
zigen nicht gefüllten Speichers? Dann hät-
te ich noch mehr Platz für Fotos, die ich nie
wieder angucke, und für Podcast-Folgen,
die ich auch in drei Jahren nicht hören
werde, weil ja immer wieder neue hinzu-
kommen. Aber ich könnte schließlich mal
eingeschneit werden oder eine Augen-OP
haben oder eingeschneit eine Augen-OP
haben und deshalb noch dankbar sein, ein

paar Hundert Stunden Hörbücher in der
Tasche zu haben.
Dass wir in Zeiten des Overkills leben,
ist nicht erst seit der großen SUV-Debatte
der letzten Monate offensichtlich. Es gibt
ein tief sitzendes Bedürfnis nach dem Zu-
viel. Die Überausstattung ist der Normal-
fall, jährlich gibt es neue Eskalationsstu-
fen bei der Aufrüstung selbst banalster
Alltagsgegenstände: Expeditionsjacken

für minus 30 Grad in der Fußgängerzone,
72-Stunden-Deos, Sieben-Klingen-Rasie-
rer, 12-in-1-Spülmaschinenmultitabs.
Taugt das was, braucht das wer? Falsche
Frage. Es geht, also wird es gemacht. Mehr
ist mehr, Übertrumpfung ist Trumpf. Oder
zumindest besser vermarktbar.
Ein Handy mit 512 Gigabyte Datenspei-
cher hat sieben Millionen Mal
mehr Leistung als der Bordcom-
puter der „Apollo 11“, man könn-
te also Hunderttausende von
Mondlandungen gleichzeitig
koordinieren und parallel alle
alten Staffeln von „Down ton
Abbey“ runterladen. Falls mal
eingeschneit ohne Augen-OP.
Blöderweise kommt die Auf-
rüstung wie im Fall von Atom-
waffen nie ganz ohne Neben-
wirkungen aus. Ein 72- oder
96-Stunden-Deo funktioniert,
indem Aluminiumsalze in die
Schweißkanäle eindringen und
die Drüsen verstopfen. Das
dauert ein paar Stunden, des-
halb wird empfohlen, das Deo
abends aufzutragen. Erstens:
igitt. Zweitens: Aluminiumsal-
ze können das Brustkrebsrisiko
erhöhen, ebenso wie SUV-Ge-
brauch das Risiko gesellschaft-
licher Ächtung erhöhen kann.
Alles hat seinen Preis. Mehr ist
eben auch mehr Stress.
Okay. Ich lasse eine weitere
Handy-Generation an mir vor-
beiziehen. Erst mal fülle ich die
5,32 GB verbleibenden Spei-
cher, lösche unter Umständen
4000 der circa 5000 Fotos von
meinem Hund und 50 Videos,
in denen er Löcher buddelt
(aber sooo niedlich!). Schon in elf Monaten
geht es in den Läden in die nächste Runde.
Mit noch mehr Speicher für noch mehr
Mondlandungen. Dann, aber spätestens
dann werde ich ... 2

Deos und Rasierer, Spülmaschinentabs und


selbstverständlich Handys: Alles wird immer leistungs-


fähiger. Wer braucht all die Superprodukte?


Aufrüstung im Alltag


98 17.10.2019

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Die Bestsellerautorin Meike Winnemuth („Das große Los“, „Um es kurz zu machen“) schreibt alle zwei Wochen im stern

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ILLUSTRATION: TINA BERNING/STERN; FOTO: DAVID MAUPILÉ
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