Focus - 19.10.2019

(Jacob Rumans) #1
LEBEN

Fotos: Matthias Kowalski für FOCUS-Magazin (5), Getty Images, dpa

120 FOCUS 43/2019

E

s dauert nur zwei Tage,
dann bin ich am Ziel.
An diesem Ort, dessen
Schönheit sich nie, nie,
nie selbst auf noch so
vielen Bildern einfangen
lässt. Der Ewigkeit atmet
und doch so zerbrechlich ist. Schon in
der Nacht zuvor hatte uns die Arktis mit
einem ihrer spektakulären Schauspiele
beschenkt: Polarlichter, hellgrün leuch-
tende Fäden, die wie ein Vorhang von
den Sternen herabschwebten und sanft
dahinschwangen, als würden sie von
kosmischen Winden bewegt. Einige der
Feenfäden reichten fast bis zu unserem
Schiff herunter – und verglühten im Samt-
schwarz der Polarnacht. Beinahe über-
flüssig zu sagen, dass Polarlichter auch
als Glücksbringer gelten.
Vielleicht lag es also an ihnen, dass
dieser Morgen, an dem wir geräusch-
los in den Hafen von Ilulissat (Dänisch:
Jakobshavn) einfahren, so glasklar son-
nig heranbricht. Die Hügel an Land wer-
fen schwimmende Schatten aufs Wasser.
Und dann gleiten sie vorbei, die ersten
Eisberge. Kathedralen, Schlösser, Tiersil-
houetten, Skulpturen, geformt aus jahr-
tausendealtem Süßwasser, über Hun-
derte Kilometer aus dem grönländischen
Inlandeis in den Nordatlantik getragen.
Auf den Eisinseln dösen Robben. Es gibt
viele spektakuläre Orte auf der Welt, aber
dieser ist unbeschreiblich. Man steht mit-
tendrin und kann es nicht fassen.

Der stille Kampf ums Klima
Wir setzen mit Tenderbooten über und
wandern zum Eisfjord. Der mächtige
Jakobshavn-Gletscher, 65 Kilometer lang,
ist im Hinterland fast vollständig in einem
Gebirgsbecken gefangen und muss seine
frostige Last so durch den einzig möglichen
Kanal ins Meer drücken – eben diesen
langen Fjord. Er ist der produktivste Glet-
scher der Welt, täglich schiebt er sich um
40 Meter in Richtung Meer. Dabei brechen
riesige Eisflächen ab, die bis zu 150 Meter
aus dem Wasser ragen. Schon seit 1850
zieht er sich zurück. Im Zuge der Erd-
erwärmung soll seine Schmelze allein
vom Jahr 2000 bis 2010 den Wasserspie-
gel weltweit um einen Millimeter ange-
hoben haben.
Seit zwei Tagen sind wir mit dem Expe-
ditionsschiff „Hanseatic Nature“ unter-
wegs auf der Route von Kangerlussuaq
nach Reykjavik. Es ist eine dieser Expe-
ditionstouren, die seit zwei Jahren boo-

men. Die gebucht werden von jenen, die
das ultimative Abenteuer auf See erleben
wollen oder die einfach sonst schon alles
gesehen haben, was man auf einem Kreuz-
fahrtschiff so sehen kann. Fast alle namhaf-
ten Anbieter von Expeditions-Kreuzfahr-
ten haben in letzter Zeit Schiffsneubauten
angekündigt. Die meisten von ihnen wol-
len auch arktische Gegenden ansteuern.
Aber ist das überhaupt noch vertret-
bar? Dürfen die knapp 200 Passagiere
das, denen Expeditionsdirektorin Ulrike
Schleifenbaum schon bei der Begrüßung
erklärt hat, dass dies keine Tanzreise
wird und man eher wenig zum Schla-
fen kommt? Das Ehepaar aus Thüringen
zum Beispiel, das, in Pyjamas und Dau-
nendecken gehüllt, still die Polarlichter

bestaunt? Der Unternehmer aus Frank-
furt, der ständig Witze reißt und beim
Anblick der Eisberge dann doch ver-
stummt? Und ich, der vor genau 30 Jah-
ren zum ersten Mal nach Grönland reiste,
mit dem Alpenverein im Zelt. Eine Klima-
wandel-Diskussion gab es damals nicht,
dafür mehr große Eisberge direkt am
Hafen von Ilulissat, mehr Walfleisch, mehr
Mücken und nächtelang das Geheul der
Schlittenhunde.
„Geh einmal im Jahr irgendwohin, wo
du noch nie warst“, hat der Dalai Lama
einmal gesagt. Gilt das auch für Grön-
land, wo ein außerordentlich hartnäckiges
Hochdruckgebiet den heißesten Sommer
seit Beginn der Wetteraufzeichnungen mit
dem wahrscheinlich größten Verlust an
Eismasse in einem Sommer überhaupt
mitgebracht hat? Darf man den Klima-
wandel hier besichtigen? Sollte man es
vielleicht sogar?

Ein Gruß vom Buckelwal
An einer Baustelle vorbei, die bald als
neues Unesco-Infozentrum eröffnet wer-
den soll, führt ein Bohlenweg über die
arktische Tundra zum Eisfjord. In einer
ersten Sandbucht drückt ein Buckelwal
seinen Blas in die Luft und taucht ab. Als
wolle er uns grüßen. Ein Aussichtspunkt
gibt den Blick frei: gleißendes Weiß bis
zum Horizont. Vom stillen Kampf des Kli-
mawandels ist hier nichts zu sehen. Der
findet irgendwo in der Atmosphäre statt
oder unter Wasser. Der Anblick hat etwas
oberflächlich Beruhigendes: Solange so
viele Gletscher und Eisberge hier sind,
kann es nicht so schlimm sein. Oder?
Das Meer ist derart zugestellt mit
schwimmendem Frost, dass keine Welle
mehr ans Ufer rauscht. Runde, bauchige,
kantige, zackige, flache Eisberge, die sich
schon einmal drehten. Auf einigen schim-
mern blaue, kleine Wassertümpel. Wir
wandern ein paar Kilometer im Gegenlicht
in Richtung Gletscherzunge, dann mit
den Sonnenstrahlen zurück – und würden
nichts wiedererkennen. Der Sonnenstand
des arktischen Spätsommers verändert
den weißen Gebirgsteppich mit seinem
Schattenwurf vor uns derart schnell, dass
zwei Augen nicht reichen, dies irgendwie
abzuspeichern. Immer wieder rasten wir
still auf weichen Polstern aus Rauschbee-
ren, die unseren Blaubeeren ähneln und
viel süßer schmecken als erwartet.
Mittags steuert Kapitän Axel Engeldrum
das Schiff mitten in den Eisfjord, soweit
wir überhaupt bis zur Schutzzone hin

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Geh einmal


im Jahr irgendwohin,


wo du noch nie warst


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Dalai Lama, geistiger Führer
der tibetischen Buddhisten

Wildes Land Expeditionsleiterin Heike Fries trägt
zum Schutz vor hungrigen Eisbären ein Gewehr
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