Focus - 19.10.2019

(Jacob Rumans) #1
REISEN

FOCUS 43/2019 123


die Crew. Und Landstrom gibt es bisher
nirgendwo in der Arktis.
Außerdem seien schon die Flugemis-
sionen zu den Reisen in Arktis und Ant-
arktis enorm, sagt Professor Will Ritzrau,
Kreuzfahrt- und Nachhaltigkeitsexperte
in Heidelberg. Dazu werde trotz aller kon-
trollierter Anlandung jedes Mal die Natur
gestresst. Andererseits sei das Naturerleb-
nis „gigantisch“: „So wird den Gästen
etwas Demut vermittelt und in Vorträ-
gen Zusammenhänge erläutert.“ Kleine-
re Gemeinden auf Grönland und in der
kanadischen Arktis könnten durch diesen
Tourismus profitieren. Vielleicht ist es ja
das, was Hapag-Lloyd-Chef Pojer meinte,
als er behauptete, die Gäste würden „als
bessere Menschen“ heimkehren.
Aber genügt das? Ich versuche, den
Verbrauch der Fahrt zu ermitteln, doch

der Kapitän darf ihn nicht sagen. Man
bittet um Verständnis. Das habe ich
nicht. Der Klimarechner, den Hapag-
Lloyd mit dem Kompensationsportal
Atmosfair auf der eigenen Website noch
bewirbt, spuckt für eine Person gut zwei
Tonnen CO 2 aus. Kurz danach wird der
Rechner abgeschaltet. Eine Anfrage zur
Kompensation beantwortet die Reederei
nicht. Das Konkurrenzportal Myclimate
aus der Schweiz kommt auf 1,9 Tonnen –
so falsch kann der Wert also nicht sein.
Ich lasse zur Sicherheit bei der Initiative
„Plant for the Planet“ des Studenten Felix
Finkbeiner 50 Bäume pflanzen. Keine
Ahnung, ob das ausreicht. Es beruhigt mein
Umweltgewissen.
Auf der schaukelnden Überfahrt von
Grönland nach Island durch 4-Meter-
Wellen referiert noch einmal der junge
Glaziologe an Bord, Ni-
colas Stoll vom Alfred-
Wegener-Institut für
Polar- und Meeresfor-
schung in Bremerhaven.
„Schmilzt Grönland?“
heißt sein 45-Minu-
ten-Vortrag im Hanse-
Atrium auf Deck vier.
Seine Grafiken, Statis-
tiken und Schaubilder
lassen nur eine Antwort
zu: ja. Besonders ein-
drücklich ist ein Simu-
lationsfilm der NASA
für das übelste Szenario
mit ungebremsten Treib-
hausgas-Emissionen: An
Grönlands Küsten ver-
schwindet großteils das
Eis, eine Kreuzfahrt wie diese wäre kom-
plett unsinnig. Das Publikum schweigt.
Angesichts der weltweiten Entwicklung,
was Masseverlust von Gletschern, Eis-
schilden und Meereis betrifft, gelangt Stoll
zu dem beunruhigenden Schluss: „Nicht
dass es Klimaschwankungen gibt, ist das
Problem, sondern die Geschwindigkeit, in
der heute alles passiert.“ Ist dieser Wandel
wirklich menschengemacht? Das steht für
ihn außer Frage. „Seit Beginn der Indust-
rialisierung“, sagt er. Ob die Zuhörer das
auch auf sich selbst beziehen?
In diesem Moment wird Stoll zur per-
sonifizierten Ambivalenz dieser ganzen,
irgendwie auch paradoxen Reise: ein
Forscher auf Expeditionskreuzfahrt, der
wachrütteln will, während das Schiff, auf
dem er spricht, mit jeder Seemeile selbst
beiträgt zum beklagten Klimawandel.n

wichtiger Beitrag sein, die Schifffahrt ins-
gesamt umweltfreundlicher zu machen“.
Einige Features entpuppen sich im Rea-
litäts-Check als wenig wirkungsvoll: So
bleiben die E-Zodiacs ungenutzt, wegen
der schweren Akkus zu behäbig, meint

»


Nimm nur


Erinnerungen mit,


hinterlasse nichts


außer Fußspuren


«
Chief Seattle,
Häuptling der Suquamish-Indianer

Unser Zeichen


fur Verantwortung
Der Grüne Knopf zeichnet Textilien aus, die besonders
hohe Sozial- und Umweltstandards einhalten.
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Aber worauf müssen, worauf sollten wir
verzichten?
Der Neubau der „Hanseatic Nature“, seit
Mai im Dienst,155 Millionen Dollar Kosten,
230 Gäste, Kabinenpreis ab 600 Euro pro
Person und Nacht, sollte die Expeditions-
kreuzfahrt zumindest ein bisschen revolu-
tionieren, sie sollte ein Statement sein. Weg
vom Rostkahn-Image alter Forschungs-
schiffe mit spartanischen Kabinen und
Essen wie in der Mensa in den 90ern. Statt-
dessen helles Interieur mit viel Glas, zwei
Pools, Sauna, Friseur, drei Restaurants,
zwei Fitnesstrainern, einem Pianisten –
und einer interaktiven Lernakademie.
Zwei Biologen, ein Glaziologe, ein Geo-
loge und ein Ethnologe sind mit an Bord,
außerdem fünf Eisbären-Wächter. Man
setze mit der „Nature“ „Maßstäbe für
die Branche“, sagt Karl J. Pojer, Chef von
Hapag-Lloyd Cruises: Luxus
und „100 Prozent schadstoff-
arm“ lautet die Werbung zu
dem 138-Meter-Schiff, das
Umweltmotto der Reederei
heißt „Die Welt befahren.
Die Natur bewahren“.
Das klingt zunächst gut:
Gefahren wird mit Marine-
Diesel, der nur noch zweit-
schmutzigsten Treibstoff-
kategorie auf See hinter
Schweröl, doppelt so teuer,
dafür aber nur mit 0,1 statt
3,5 Prozent giftigem Schwe-
fel. Ein Katalysator kommt
zum Einsatz, der den Stick-
oxidausstoß um 95 Prozent
reduzieren soll. Beim An-
strich wurde auf gesund-
heitsschädliche Farbe verzichtet. Biologi-
sche Kläranlage, Bio-Öle als Schmiermit-
tel der Bugstrahlruder und Stabilisatoren,
Elektro-Zodiacs, Landstromanschluss.
Im neuen Ranking der umweltfreund-
lichsten Schiffe der Naturschutzorganisa-
tion Nabu platzierte sich die „Hanseatic
Nature“ sofort auf Rang drei (siehe Teil
eins der Serie, FOCUS 42/2019). Studien-
autor Sönke Diesener bleibt dennoch
unerbittlich: „Wer eine Arktiskreuzfahrt
macht, tut dies auf Kosten von Natur und
Klima, aber auch auf Kosten der Gesell-
schaft.“ Auch Expeditionskreuzfahrer
„verbrauchen innerhalb weniger Tage das
Jahresbudget an CO 2 , das jedem Men-
schen rechnerisch zusteht“. Allerdings
möchte der Nabu gleichzeitig den Umstieg
auf „Schiffe mit zukunftsweisender Tech-
nologie“ fördern, denn dies könne „ein

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