Focus - 19.10.2019

(Jacob Rumans) #1
LEBEN

Fotos: Privat, imago sport

126 FOCUS 43/2019

D


er WM-Sieg von
Niklas Kaul, 21,
in Doha kommt
nur scheinbar aus
dem Nichts. Tat-
sächlich läuft al-
les streng nach
dem langfristigen
Aufbauplan seiner Eltern Ste-
fanie und Michael. Der einzige
Haken: Der Erfolg ihres Jungen
kommt mindestens fünf Jahre zu
früh. FOCUS nennt die Erfolgs-
geheimnisse des deutschen
Frühentwicklers.


  1. Die Lockerheit
    Gut eine halbe Stunde nach Mit-
    ternacht rennt Niklas Kaul beim
    abschließenden 1500-Meter-Lauf
    mit großem Vorsprung ins Ziel
    und ist Weltmeister. Es folgen
    Schulterklopfen, Ehrenrunde,
    Dopingprobe, erste Interviews.
    Erst um halb vier ist er im Hotel
    in Doha, genehmigt sich in der Lounge ein
    Bier und steigt mit Kollegen in den Whirl-
    pool: Sonnenaufgang schauen. „Gegen
    halb sechs ist es praktisch schlagartig
    hell, weil Katar so nah am Äquator liegt“,
    sagt Kaul grinsend. „Das weiß ich aber
    auch erst seit diesem Freitagmorgen im
    Pool.“ Unverstellt, selbstironisch, uneitel,
    aber auch einer, der’s mal krachen lässt,
    so ist Niklas Kaul. Von allem etwas. Oder:
    für alle etwas.
    „Ob ich das neue Gesicht der deut-
    schen Leichtathletik bin? Ach, ich will
    mich gar nicht mit anderen vergleichen“,
    meint Kaul. „Ich gehe meinen eigenen
    Weg, und wenn alle daraus ein Gesicht
    der deutschen Leichtathletik machen, ist
    das für mich in Ordnung. Und wenn nicht,
    ist es auch nicht schlimm.“

  2. Der Handball-Arm
    Im Werfen macht Kaul keiner was vor.
    In Doha schleuderte er den Speer auf
    sensationelle 79,05 Meter. Schon mit 13
    landete sein Wurfgerät bei 51,83 Metern.
    Ausschlaggebend dafür ist wohl sein frü-
    heres Hobby; er war Handballer bei der
    SG Saulheim. „Werfen konnte ich schon
    immer, da hat mir der Handball viel
    geholfen. Es stand auch mal im Raum,
    ob ich mich auf Speer spezialisiere – habe
    ich aber zum Glück nicht gemacht.“ Mit
    dem Handball begann Kaul ein halbes
    Jahr vor der Leichtathletik, weil auch
    seine Kumpels spielten. Manchmal reizt
    es ihn heute noch, wenn er in der Sport-
    halle steht und einen Ball in die Hand
    bekommt. „Ich wollte damals unbedingt


eine der beiden Sportarten leistungsmä-
ßig betreiben. Beim Handball hätte ich
weg von daheim zu einem größeren Ver-
ein gemusst, und das wollte ich mit erst
15 Jahren nicht. Ehrlicherweise muss man
sagen, dass ich in der Leichtathletik auch
besser bin. Also habe ich dem Handball
schweren Herzens Lebewohl gesagt. Ich
würde aber gern noch mal spielen – viel-
leicht nach Olympia 2028.“


  1. Die Gene
    1993 wurde Vater Michael Deutscher
    Meister über 400 Meter Hürden – vor
    Edgar Itt, der bei Olympia 1988 Bron-
    ze mit der 400-Meter-Staffel gewonnen
    hatte. 1997 heiratete Kaul die Österrei-
    cherin Stefanie Zotter, vierfache Landes-
    meisterin über 400 Meter Hürden und
    400 Meter. Im Jahr darauf wurde Niklas
    geboren. Schon mit fünf ging es für ihn
    los: laufen, springen, werfen. Kaul sagt:
    „Ich fand immer cool, dass Leichtathletik
    so vielseitig ist. Man musste sich nicht
    spezialisieren.“

  2. Das familiäre Trainer-Team
    Als sich die Eltern entschlossen, neben
    ihren Jobs (der Vater arbeitet im Bil-
    dungsministerium Rheinland-Pfalz, die
    Mutter ist stellvertretende Schulleiterin)
    ehrenamtlich eine Mehrkampf-Gruppe
    beim USC Mainz zu trainieren, war für
    die beiden klar, dass sie niemals die eige-
    nen Kinder anleiten wollen. Das könne
    nur schiefgehen. Niklas hat noch eine
    acht Jahre jüngere Schwester. Emma
    will nächstes Jahr ihren ersten Sieben-


kampf bestreiten. „Aber weil der
USC ein Verein mit Ehrenämt-
lern ist, fehlten irgendwann die
Trainer-Alternativen, und so bin
ich dann in diese Gruppe reinge-
wachsen“, erklärt Niklas Kaul.
Heute teilen sich die Eltern die
Trainingsarbeit auf. Der Vater
macht die Würfe und die Hürden,
die Mutter Sprünge und Läufe.
Für den Stabhochsprung gibt es
einen Spezialtrainer.


  1. Die Augenhöhe
    Die Maxime für den gemeinsa-
    men Erfolg des Teams Kaul lau-
    tet Dialog statt Vorgaben. Sich
    mitten in der Pubertät von Mama
    und Papa trainieren zu lassen
    war ja auch nur bedingt Erfolg
    versprechend. „Das hat nur
    funktioniert, weil meine Eltern
    mir immer den Freiraum gege-
    ben haben, den ich gebraucht
    habe. Sie haben immer mich
    selbst entscheiden lassen, haben nie
    gesagt: ‚Mach Mehrkampf statt Hand-
    ball!‘ Sondern: ‚Mach das, wobei du am
    meisten Spaß hast!‘“ Es sei kein Trai-
    ner-Athlet-Verhältnis gewesen, erzählt
    Niklas Kaul, sondern eine Beziehung mit
    sehr viel Dialog und Rücksprache. „Das
    ist ganz, ganz wichtig, dass dieser Dialog
    zwischen uns so gut ist.“

  2. Die Flexibilität
    Zehnkampf ist eine komplexe Disziplin,
    und die Trainingssteuerung für zehn
    grundverschiedene Sportarten ist eine
    Wissenschaft für sich. Natürlich existiert
    für Niklas Kaul ein fester Trainingsplan.
    Aber diese Vorgabe wird ständig ange-
    passt, um Verletzungen aufgrund zu
    hoher oder zu niedriger Belastungen vor-
    zubeugen. Täglich absolviert der 21-Jäh-
    rige ein bis zwei Einheiten. Dazu gehö-
    ren mindestens ein Technik-Baustein und
    ein allgemein athletisches Element. „Alle
    zehn Disziplinen unter einen Hut zu brin-
    gen kann auch frustrierend sein, wenn
    eine Disziplin mal nicht so läuft“, sagt
    Kaul. „Man würde gern noch zwei, drei
    Würfe, Sprünge oder Stöße machen, muss
    aber schon wieder zur nächsten Disziplin.
    Das sind die Momente, in denen man
    den Zehnkampf ein bisschen verflucht.“

  3. Die Robustheit
    Die Wüsten-WM von Doha hat wegen
    der extremen Hitze und der hohen Luft-
    feuchtigkeit viele negative Schlagzeilen
    gemacht. Kaul haben die Umstände kaum
    belastet. „Im Stadion ging’s in Doha, weil


Gute Gene Der jüngste Zehnkampf-Weltmeister hat sportliche Eltern:
Mutter Stefanie war Österreichs Meisterin über 400 Meter und 400 Me-
ter Hürden, Vater Michael Deutscher Meister über 400 Meter Hürden

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