Focus - 19.10.2019

(Jacob Rumans) #1

TITEL


Inzwischen gehören


dem Ausland schon


85 Prozent der


Deutschland AG


Fotos: Rolf Vennenbernd/dpa, Sven Simon/dpa

56 FOCUS 43/2019


D


er Rauswurf erfolg-
te am Telefon. Thys-
senkrupp-Chef Guido
Kerkhoff hatte gerade
tief bewegt die Holo-
caust-Gedenkstätte
Yad Vashem in Jerusa-
lem verlassen, als sein
Handy einen Anruf aus
dem fernen Deutsch-
land anzeigte. Am anderen Ende der
Leitung war Martina Merz. Die Aufsichts-
ratsvorsitzende teilte ihrem CEO in
knappen Worten mit, was das Kon-
trollgremium des Essener Konzerns
kurz zuvor beschlossen hatte: Kerk-
hoff werde von seinen Aufgaben als
Unternehmenschef entbunden, sein
Vertrag aufgelöst. Sie selbst werde
für ihn an die Spitze des Vorstands
rücken, ließ Merz noch kurz wissen,
dann war das Gespräch zu Ende. Alles
Weitere würden die Juristen regeln.
Die unter dem Decknamen „Ope-
ration Herbst“ akribisch vorbereitete
Kündigung markiert den vorläufigen
Höhepunkt eines Machtkampfs, der
den traditionsreichen deutschen Indus-
triekonzern endgültig ins Chaos stürzt.
Vorstandschef Kerkhoff hatte sich lange
gegen den schwedischen Investment-
fonds Cevian gewehrt, der einen 18-Pro-
zent-Anteil an Thyssenkrupp besitzt und
nach jahrelanger Durststrecke endlich
Kasse machen will. Immer wieder hat-
te Cevian-Gründer Lars Förberg darauf
gedrängt, die Aufzugsparte des Konzerns
und damit eine der wenigen verbliebenen
Ertragsperlen zu verkaufen. Vielleicht
hätte Kerkhoff dem Deal noch zuge-
stimmt, wenn der angepeilte Erlös von
rund 18 Milliarden Euro im Unternehmen
verbleiben würde, um die angespannte
Finanzlage zu verbessern. Doch davon
will Cevian nichts wissen. Der Invest-
mentfonds möchte den Verkauf der Auf-
zugsparte nutzen, um den Aktionären
und damit sich selbst eine Sonderdivi-
dende auszuschütten. Alle Warnungen,
dass Thyssenkrupp in diesem Fall akut
von der Pleite bedroht sei, konnten die
Investment-Manager nicht umstimmen –
Kerkhoff musste Ende September schließ-
lich gehen.
Das rabiate Vorgehen der ausländischen
Firmenjäger bei Thyssenkrupp ist kein
Einzelfall. Deutschland steht seit Jahren
im Fokus von aktivistischen Beteiligungs-
fonds, die vom innovativen Mittelständ-
ler bis zum unterbewerteten Großkonzern

alles aufkaufen, was entweder ein schnel-
les Geschäft verspricht oder den Einstieg
in begehrte deutsche Spitzentechnologie
ermöglicht. Oder beides. Vor allem China
hat im Rahmen seiner Welteroberungsstra-
tegie einen begehrlichen Blick auf deut-
sche Technologieführer geworfen. Über
staatliche Fonds finanziert das Reich der
Mitte gezielte Firmenkäufe zu Preisen, die
aus strategischen Gründen oft weit über
dem jeweiligen Marktniveau liegen. Aber
anders kann China sein Ziel nicht errei-
chen, den Westen bis 2025 technologisch
einzuholen und bis 2050 zu überflügeln.

Die Investoren bleiben nur fünf Jahre
Dagegen engagieren sich die Fonds aus
Europa und den USA vor allem deshalb
in Deutschland, weil sie aus soliden, aber
unterbewerteten Firmen in möglichst kur-
zer Zeit möglichst viel Gewinn heraus-
holen wollen. Entgegen den üblichen
Versprechungen sind die meisten die-
ser Anteilseigner nicht an einem dauer-
haften Investment interessiert. Laut dem
Bundesverband Deutscher Kapitalbe-
teiligungsgesellschaften (BVK) beträgt
die durchschnittliche Verweildauer der
Investoren gerade einmal fünf Jahre –
dann ist das Zielobjekt entweder saniert
oder zerteilt und verkauft.
Obwohl ausländische Beteiligungen
und Übernahmen nach einem steilen
Anstieg zuletzt etwas zurückgingen,
sind internationale Investoren weiterhin
sehr aktiv. Die Wirtschaftsprüfungsgesell-
schaft PricewaterhouseCoopers rechnet
für 2018 mit 838 Transaktionen; im Jahr
davor waren es 818. Dabei geht es um
immer mehr Geld: Im Durchschnitt zah-
len die Investoren pro Beteiligung fast
eine halbe Milliarde Euro.
Unbemerkt von der breiten Öffentlich-
keit, schreitet der Ausverkauf der deut-
schen Wirtschaft kontinuierlich voran.
Inzwischen gehört die Deutschland AG
nicht mehr den Deutschen, wie eine neue
Studie des Deutschen Investor Relations
Verbands (DIRK) enthüllt. Vielmehr
befinden sich die 30 wichtigsten Firmen
im Deutschen Aktienindex Dax bereits
zu 85 Prozent in der Hand ausländischer
Geldgeber. Mehr als die Hälfte davon
stammen aus Nordamerika und Großbri-
tannien. Die heimischen Anleger halten
gerade noch 15,3 Prozent am Dax-30.
Mit diesem ungebremsten Verkauf der
heimischen Industrie geht nicht nur ein
Teil des schwindenden technologischen
Vorsprungs verloren, sondern auch die

THYSSENKRUPP

Fazit: Nach vielen Sanierungsversu-
chen steht der traditionsreiche Kon-
zern vor dem wohl schwersten Kapitel
seiner Geschichte. Investmentfonds
Cevian will trotz hoher Schulden eine
Sonderausschüttung durchsetzen.

Ausländische Investoren
in Prozent

Mitarbeiter:
Umsatz: 161 096
Gewinn: 42 745 Mio. €
Gründung: 1045 Mio. €
1999

Ursula Gather, Vorsitzende der
Krupp-Stiftung, Ex-CEO Guido Kerkhoff
und die neue Chefin Martina Merz

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