Focus - 19.10.2019

(Jacob Rumans) #1

Der schwarze Kanal


Foto: Susanne Krauss

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eder nutzt die Gunst der Stunde, so gut er kann.
Der Attentäter von Halle war noch nicht dem Haft-
richter vorgeführt, da erinnerte die Amadeu Anto-
nio Stiftung aus Berlin bereits daran, dass ihr Pro-
jektgelder gekürzt worden seien.
„Statt Mittel zu kürzen, muss Arbeit gegen
Rechtsextremismus endlich konsequent unterstützt
werden. Wenn die Politik das nicht leistet, bleiben
alle Bekundungen rund um Halle leere Worte“, schrieb
die Initiative, die noch zwei Tage vor dem Anschlag hatte
bekannt geben müssen, dass sie ein Büro in Hannover
schließen werde. „Never let a good crisis go to waste“, hat
Winston Churchill einmal gesagt: Lass niemals eine Krise
ungenutzt verstreichen.
Die Juden in Deutschland hatten
lange nicht mehr so viele Freunde
wie derzeit. Sie waren seit Langem
auch nicht mehr so nützlich. Wenn
man es einigermaßen clever an-
stellt, fällt ein wenig von der Anteil-
nahme für einen selbst ab. Oder
man kann einen Feind, dem man
schon lange einen verpassen wollte,
mit einem flotten „Nie wieder“ ein
Bein stellen.
„Einen Angriff auf uns alle“ hat
der Bundespräsident den Anschlag
genannt, dabei ist er genau das
nicht. Es macht nämlich einen
Riesenunterschied, ob man sich
mit einem Kreuz oder dem David-
stern um den Hals in der Öffent-
lichkeit bewegt (so wie es übrigens
auch im Alltag einen großen Unter-
schied macht, ob man schwarze
oder weiße Hautfarbe hat).

Ich war zwei Tage vor dem Anschlag in Halle bei der
jüdischen Gemeinde in Duisburg. Der Gemeindevorstand
hatte mich eingeladen, die Festrede zum Neujahrsemp-
fang zu halten. Für die jüdische Welt hat am 1. Oktober
das Jahr 5780 begonnen. Vor mir sprach die Bürgermeiste-
rin, eine brave Sozialdemokratin, die daran erinnerte, wie
wichtig der Kampf gegen rechts und jede Form der Aus-
grenzung sei. Man applaudierte höflich.
Das Thema meiner Rede war die Meinungsfreiheit, also was
man sagen darf und was tabu ist und tabu bleiben sollte. Da-
bei kam ich auch auf den Aufstieg der neuen Rechten und die
Reaktion darauf zu sprechen. Mir erschiene das Engagement
gegen rechts noch glaubwürdiger, sagte ich, wenn es auf der
Linken nicht ausgerechnet beim Antisemitismus eine seltsame
Übereinstimmung mit dem politischen Gegner gäbe.
Linker Antisemitismus sei unmöglich, hat der Schriftsteller
Gerhard Zwerenz einmal gesagt. Mit diesem selbst ausge-
stellten Persilschein segelt man seitdem durch die Debatten.
Aber schon ein Blick in führende linksliberale Zeitungen und
Zeitschriften zeigt, dass auch Leute, die sich für aufgeklärt
halten, stärkere Vorbehalte gegen Juden haben, als sie je
zugeben könnten.

A


nschließend gab es einen Empfang, bei dem die
Gäste noch etwas beisammenstanden. Was ich
bemerkenswert fand, war, dass viele Zuhörer die
Passage zu der unheiligen Allianz zwischen links
und rechts als besonders gelungen lobten. Die Leute wissen,
so muss man daraus schließen, auf wen sie sich verlassen
können und auf wen nicht. Sie wissen
auch, vor wem sie sich in Acht neh-
men müssen, wenn sie auf die Straße
gehen.
Was die AfD angeht, ist man gespal-
ten, so mein Eindruck. Alle Trans-
gressionen, die sich die Partei leistet,
werden aufmerksam registriert. Dass
viele AfD-Anhänger es gerne hätten,
wenn nicht mehr vom Holocaust die
Rede wäre, darüber machen sie sich in
der jüdischen Gemeinde keine Illusio-
nen. Andererseits sind es nicht Leute
wie Gauland und Höcke, die ihnen
die Kippa vom Kopf schlagen, sondern
in der Regel junge arabische Männer,
die nur die Schwulen noch mehr has-
sen als die Juden.
Gibt es in der AfD Antisemiten?
Aber ja! Ist die Zahl größer als in
anderen Parteien? Auch das. 55 Pro-
zent der Anhänger dieser Partei stim-

JAN FLEISCHHAUER


Lass niemals eine


Krise ungenutzt


Die Juden in Deutschland hatten lange nicht
mehr so viele Freunde wie derzeit. Sie waren
seit Langem auch nicht mehr so nützlich.
Wer dem politischen Gegner am Zeug flicken
will, muss nur laut „Nie wieder“ rufen

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Linker Antisemitismus


sei unmöglich, hat


der Schriftsteller


Gerhard Zwerenz einmal


gesagt. Mit diesem


selbst ausgestellten


Persilschein segelt


man seitdem durch die


Debatten


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