Focus - 19.10.2019

(Jacob Rumans) #1
KOLUMNE

FOCUS 43/2019 7

Den Autor dieser Kolumne erreichen Sie unter:
[email protected], Twitter: @janfleischhauer

Kein Angriff
auf uns alle
Illustration von
Silke Werzinger

JAN FLEISCHHAUER


men in Umfragen der Aussage zu, dass Juden in der Welt zu
viel Einfluss hätten, ein Wert, der mehr als doppelt so hoch ist
wie bei anderen Parteien.
Der Antisemitismus zieht sich bis in die Spitze. Der Bun-
destagsabgeordnete Stephan Brandner, immerhin Vor-
sitzender des Rechtsausschusses, vermochte nach dem
Anschlag in Halle nicht einmal zwei Tage stillzuhalten.
Dann musste er per Twitter die Frage weiterleiten, warum
Politiker in Synagogen „lungern“ würden, wenn doch die
wahren Opfer ein „Bio-Deutscher“ und eine Deutsche mit
Vorliebe für Volksmusik seien.
Eine ganz andere Frage ist, inwieweit die neue Rechte für
eine Tat wie den Angriff auf die Synagoge in Haftung genom-
men werden kann. So etwas kommt von so etwas, lautet, kurz
gesagt, die Verdächtigungsthese. Man kennt das Muster:
Wenn ein Syrer messerschwingend durch eine Einkaufspassa-
ge rennt, kann man die Uhr danach stellen, bis Alice Weidel

den Islam anklagt. Jetzt wendet man diese
Form der geistigen Inhaftnahme eben auf die
andere Seite an.
Auch verwirrte Köpfe entnehmen ihre Stichworte aus der
aktuellen Debatte. Nur, was folgt daraus? Dass man bei
allem, was man sagt oder schreibt, bedenken sollte, was je-
mand in seiner Wahnwelt daraus macht? Der Terrorist bringt
den Gedanken an sein ultimatives Ende, das führt ihn ja
zum Terrorismus. Dieser Radikalitätsschub gilt theoretisch
allerdings für alles, was einen ideologischen Kern besitzt:
die Islamkritik, den Tierschutz oder den Kampf gegen gen-
veränderten Mais.

D


er nächste Attentäter ist möglicherweise ein Öko-
Terrorist, der sich auf die grünen Untergangs-
prophezeiungen bezieht. Wer kann ausschließen,
dass nicht morgen ein verwirrter 17-Jähriger eine
Drohne in das Triebwerk eines startenden Jumbos lenkt,
weil er ein Zeichen gegen das massenhafte Artensterben
setzen will, von dem er in der Zeitung gelesen hat? Wollen
wir dann auch, analog zum Umgang mit rechts, ein Auf-
trittsverbot für Robert Habeck und Annalena Baerbock im
ZDF-„Morgenmagazin“ fordern, weil wir sie für die geisti-
gen Brandstifter halten?
Verantwortung ist konkret, oder sie ist gar nicht, das
ist jedenfalls meine Erfahrung. Ich finde, man kann zum
Beispiel von einem Parteiführer wie Alexander Gauland
erwarten, dass er eine Wahlkampfrede unterbricht, wenn
er unter seinen Zuhörern Leute sieht, die Plakate hoch-
halten, auf denen die Mitglieder des Bundeskabinetts an
Galgen baumeln. Es würde sich für mich auch gehören,
dass jemand Herrn Brandner zur Seite nimmt und mit ihm
über seine Twitter-Aktivitäten redet. Oder dass man im
Parlament seinem Fraktionskollegen auf die Schulter tippt,
wenn er beim Totengedenken an einen ermordeten Politi-
ker wie den Regierungspräsidenten Walter Lübcke als Ein-
ziger sitzen bleibt.
Am Sonntag retweetete der Grünen-Politiker Volker Beck
ein Foto von einem Aufzug der Jugendorganisation der
Linkspartei in Köln, auf dem für Palästina, die Intifada und
damit den Tod von Juden demonstriert wurde. „Hallo, die
Linke, könnt ihr das bitte erklären“, schrieb er darunter:
„Antisemitismus im Alltag bekämpfen, wo wir ihn treffen,
das ist eine Lehre von Halle.“
Ich sehe es genauso wie Volker Beck, in diesem Punkt
sind wir uns 100 Prozent einig. Auch Anti-Antisemitismus
ist unteilbar.n
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