Focus - 19.10.2019

(Jacob Rumans) #1

WISSEN


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niken, so hat die Hans-Böckler-Stiftung
ermittelt, haben ein elektronisches System
zur Verschreibung von Medikamenten. In
Dänemark sind es 94 Prozent.

Das Ende der Zettelwirtschaft
Hierzulande gilt das Universitätsklinikum
Essen als Pionier der Vernetzung – neben
dem UKE in Hamburg-Eppendorf. Im
Norden führte man 2011 als erste Uni-Kli-
nik Europas die digitale Patientenakte
ein. Auch an der „Silicon Ruhr“ fließen
die Daten längst papierlos – angefangen
in der zentralen Notaufnahme. Dort erhält
jeder Patient ein Gerät, das die Mitarbei-
ter „Knochen“ oder „X3“ nennen: einen
kleinen, weißen Kasten, der über WLAN
mit dem Kliniknetz verbunden ist. Der
kluge Knochen speichert alle Daten und
Untersuchungsergebnisse. Angedockt ans

Krankenbett, wandert er auch mit auf die
Station.
Notfallmediziner Clemens Kill baute
die Aufnahme ab 2017 neu auf, seit An-
fang 2018 leitet er sie. Sein Grundprinzip
lautet: „Digitalisierung zuerst.“ Stolz führt
der Macher durch die Räume im Erdge-
schoss. Er verweist darauf, was nicht zu
sehen ist – Zettelwirtschaft –, und deutet
auf Bildschirme, die auch die Daten des
Patienten Schowald angezeigt hatten. Hin-
ter einer Klappe an der Wand verbirgt sich
ein Rohrpostsystem. Die Mitarbeiter der
Notaufnahme stellen dort die Behälter mit
Blut- oder Urinproben ein. Und
innerhalb von 40 Sekunden rasen
diese die Strecke zum 500 Meter
entfernten Zentrallabor. Zurück
kehren die Ergebnisse als Daten
auf den Bildschirm. Bei einem
Notfalltest nach 30 Minuten, in
allen anderen Fällen nicht später
als 60 Minuten, so die Vorgabe.
Blutzucker, Enzyme, Fette, ver-
dächtige Proteine, alles da.
In Kürze, so versichert Lothar
Volbracht, Leiter des Zentral-
labors, wird an seiner Analyse-
straße in einem Raum von der
Größe eines Handballfeldes nie-
mand mehr arbeiten – abgesehen
von Technikern, die auf kleine
Überwachungsbildschirme bli-
cken. Die Analysen sollen bald
vollautomatisch ablaufen. Nur so
sei der große Bedarf zu decken,
der an der Uni-Klinik Essen im
Jahr 2018 bei 1,2 Millionen Pro-
benröhrchen lag. „Ohne Robotik
und Automation kann das moder-
ne Labor eines Universitätsklinikums
nicht mehr funktionieren“, sagt Volbracht.
Das Smart Lab produziert einen Teil der
Daten in einem Smart Hospital. Künst-
liche Intelligenz (KI) wertet sie aus und
erledigt Diagnosen. „Als Erstes wird die
KI Vorsorgeuntersuchungen vereinfa-
chen“, sagt Michael Forsting, Direktor
der Klinik für diagnostische und interven-
tionelle Radiologie und Neuroradiologie.
„Bisher schauen sich bei der Mammogra-
fie zwei Radiologen die Bilder an. Einen
der beiden Experten wird die Software
bald ersetzen.“
Ähnliche Analyse-Software ist für Lun-
genkrebs, Weichteilgeschwulste (Sarko-
me), Leber- oder Pankreastumoren in der
Entwicklung. „Beim Lungen-Screening
fallen pro Patient 600 bis 800 Bilder an,
das kann sich kein Radiologe alles

schirme werden immer mehr und immer
größer. Bilder, Blutanalysen, Diagnosen
und Therapien – was einen Menschen im
Krankenhaus ausmacht, wandert gesam-
melt in eine zentrale Datei auf dem Server,
die digitale Patientenakte. Das erlaubt
Informationen überall und jederzeit: Noch
bevor der Neurologe am Morgen die Kli-
nik betritt, hat er den aktuellen Report
über den nachts eingelieferten Schlag-
anfallpatienten auf seinem Handy. Die
Pfleger erhalten den Medikamentenplan
mit möglichen Hinweisen auf Wechsel-
wirkungen elektronisch geliefert und sind
nicht länger auf unter Zeitdruck
gekritzelte Zettel angewiesen.
Die Verwaltung weiß jederzeit
über freie Betten und Material-
bestände im Lager Bescheid. In
der Radiologie untersucht künst-
liche Intelligenz, ob ein Tumor
gestreut hat. Und am Ende ist
alles mit allem vernetzt – über
alle Standorte und sogar Länder-
grenzen hinweg.
„Das Smart Hospital ist schnel-
ler, gründlicher, umfassender,
wirtschaftlicher und für den Pa-
tienten sicherer und menschli-
cher“, verspricht Jochen Werner,
Ärztlicher Direktor des Univer-
sitätsklinikums Essen. 34 Mil-
liarden Euro, so errechnete die
Unternehmensberatung McKin-
sey, könnten digitale Technolo-
gien im Gesundheitswesen jähr-
lich einsparen. Daten, dessen
ist sich der frühere Kopfchirurg
Werner sicher, werden nicht nur
Kosten senken – sie sind das neue
Gold der Medizin. In Essen sind sie ent-
schlossen, die Claims nicht den Technolo-
gieriesen wie Google, Amazon, Facebook
oder Apple zu überlassen.
Noch geht es allerdings nur holprig vo-
ran. Einer Studie der Bertelsmann-Stiftung
zufolge hat die Bundesrepublik bei der
Digitalisierung der Medizin noch Rück-
stand. Unter 17 untersuchten Ländern
belegte Deutschland nur den 16. Platz,
einen Rang vor Polen. Vorn liegen Estland,
Kanada und Israel. In Estland können
Patienten die Ergebnisse ihrer Untersu-
chungen, Medikationspläne oder Impf-
daten in ihrer Krankenakte online einse-
hen. Zugriffsmöglichkeiten für Ärzte und
Pfleger verwalten sie selbst. In Kanada
und Israel sind Ferndiagnosen und Fern-
behandlungen per Video selbstverständ-
lich. Nur neun Prozent der deutschen Kli-


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Das Smart Hospital ist
schneller, gründlicher,
umfassender und für
den Patienten sicherer

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Jochen Werner,
Ärztlicher Direktor Uni-Klinik Essen
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