DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT FREITAG,18.OKTOBER2019 FORUM 15
I
m Jahre 1970 veröffentlichte der
Wagenbach-Verlag ein Manifest des
„Kollektivs RAF“ mit dem Titel
„Über den bewaffneten Kampf in
Westeuropa“. Das 66-seitige Traktat
enthielt neben langatmigen Analysen im
Jargon der damaligen Linken anderthalb
Seiten über „die nächsten Schritte“.
Wichtig sei die „umfassende Propaganda
für den bewaffneten Kampf“ mittels
„Flugblättern und Wandparolen“. Auf
die gleiche Weise sollten „Anleitungen
für die Herstellung von Waffen, für die
Kampftaktik usw.“ verbreitet werden.
Spontan sollten sich „Kommandotrup-
pen bilden (3er, 5er, 10er Gruppen)“, und
zwar aus Genossen, die „auch im Bett
den Mund halten können“ und wei-
terhin „an der offenen politischen Ar-
beit in den Betrieben, in den Wohn-
bezirken und in der Universität teil-
nehmen“ sollten.
Trotz der fast anrührenden Primitivi-
tät der Propagandamittel und der Naivi-
tät der Vorstellung, man könne als Ter-
rorist eine Art Batman-Doppelexistenz
leben, darf man nicht vergessen, dass
die RAF zwischen 1971 und 1993 eine
blutige Spur durch Deutschland zog und
33 Menschen ermordete. Dennoch haben
Baader, MeinhofMeinhofMeinhof, Mahler und Konsorten, Mahler und Konsorten
nie ernsthaft die Demokratie der Bun-
desrepublik gefährdet. Daran ändert
weder die damalige Hysterie etwas noch
die Tatsache, dass es innerhalb der Lin-
ken viel Sympathie und auch in Teilen
des Bildungsbürgertums eine gewisse
Faszination für die RAF gab.
Heute handeln islamische und rechte
Terroristen in Westeuropa nach dem im
RAF-Manifest entworfenen Muster:
Propaganda soll zur Selbstradikalisie-
rung Einzelner oder kleinerer Kom-
mandos führen, die selbstständig han-
deln und oft bis zu ihrer Tat relativ
unauffällig in ihren Milieus leben. Frei-
lich verfügen die Terroristen mit den
sozialen Netzwerken und anderen Platt-
formen über ungleich wirksamere Ver-
breitungs- und Vernetzungsmöglich-
keiten. Und sie sind tödlicher geworden.
Dem rechten Terror sind seit 1990 in
Deutschland etwa 180 Menschen zum
Opfer gefallen; der islamische Terror
forderte hierzulande bislang zwar etwas
weniger Tote, in Westeuropa jedoch
sehr viel mehr, man denke an die An-
schläge in Madrid, Paris, Brüssel, Lon-
don und Manchester; allein seit 2015
töteten islamische Terroristen über 350
Menschen.
Glück und gute Polizeiarbeit haben
oft Schlimmeres verhindert. Es ist je-
doch nur eine Frage der Zeit, bis isla-
mische oder rechte Terroristen wieder
zuschlagen. Die Strategie der dezen-
tralen Selbstermächtigung macht es den
Sicherheitskräften – selbst wenn sie
nicht so eklatant versagen wie im Fall
des NSU oder des Berliner Weihnachts-
markt-Attentäters Amri– unmöglich,
absolute Sicherheit zu garantieren. Wie
soll man auf diese Situation reagieren?
Jedenfalls nicht, wie es allzu häufig
geschieht, durch eine Ausweitung der
Kampfzone.
Wenn rechte Terroristen zuschlagen,
empfinden große Teile der linken und
linksliberalen Szene eine klammheimli-
che Freude. Liefern ihnen solche An-
schläge ja Munition gegen ihre Lieb-
lingsfeinde, vor allem die AfD, aber auch
gegen konservative Parteien oder die
„Springer-Presse“, die angeblich die
reaktionäre Renationalisierung Europas
betreiben und eine Atmosphäre schaf-
fen, die den Terror fördere.
Nach jedem muslimischen Terror-
anschlag wiederum empfinden große
Teile der rechten Szene eine teilweise
offene Smiley-Freude. Der Terror liefert
ihnen ja Munition für den Kampf gegen
die angeblich drohende Islamisierung
Europas und gegen ihre Lieblingsfeinde:
Gefährlich, aber
wirkungslos
Noch nie ist eine Demokratie durch Terroristen
zu Fall gebracht oder ernsthaft gefährdet
worden – seien sie linksextrem, rechtsextrem
oder islamistisch. Schützen wir uns vor ihnen.
Aber machen wir sie nicht größer, als sie sind!
ALAN POSENER
LEITARTIKEL
Es gibt keinen
direkten
Zusammenhang
zwischen
der politischen
Atmosphäre und
einem Anschlag
die „Systemparteien“ und die „linksgrün
versiffte Lügenpresse“, die angeblich
den Islam beschönigen, die Zuwan-
derung fördern, Europas christliche
Kultur und die homogene Nation des-
avouieren, alles im Interesse einer glo-
balistischen Elite, die über ein wider-
standsloses, heillos zerstrittenes Ras-
sen- und Kulturmischmasch herrschen
wolle.
Eine solche Unkultur des Verdachts
ist, zumal wenn sie die Mitte der Gesell-
schaft erreicht, für die Demokratie ge-
fährlicher als der Terror selbst. Zur
Erinnerung: Millionen Muslime leben
friedlich in Europa; eher kann man von
einer Europäisierung des Islam als von
einer Islamisierung Europas reden. Und
man kann zwar einen Zusammenhang
zwischen dem CO 2 in der Atmosphäre
und dem Klimawandel herstellen, nicht
aber zwischen einer angeblich vorherr-
schenden „politischen Atmosphäre“ und
einer Terrortat.
Die AfD ist gewiss unappetitlich, aber
sie ist eine legale Partei, die sich zum
Grundgesetz bekennt, und bis ihr vom
Verfassungsschutz Verbindungen zu
Terrorgruppen nachgewiesen werden,
sind Äußerungen von der Art, die rech-
ten Terroristen seien „der bewaffnete
Arm der AfD“, so unsinnig wie die da-
malige Unterstellung, die RAF sei der
bewaffnete Arm der Linken oder alle
Muslime seien heimliche Sympathisan-
ten des Terrors. Indem man den politi-
schen Gegner in die Nähe des Terrors
rückt, zwingt man ihn geradezu, aus
Selbstschutz den Terror zu verharmlo-
sen. So spielen oft Muslime und An-
hänger des Multikulturalismus den isla-
mischen Terror und Anhänger der AfD
den rechten Terror herunter.
Noch nie ist eine Demokratie durch
Terror zu Fall gebracht oder auch nur
ernsthaft gefährdet worden. Eher be-
drohten Überreaktionen der Regierung
und Hysterie in den Medien den Rechts-
staat. Deutschland tut gut daran, mit
Gelassenheit und Augenmaß, Wach-
samkeit und Härte auf die terroristische
Herausforderung zu antworten; und
einen gesellschaftlichen und politischen
Konsens zur Ächtung der politischen
Gewalt zu suchen, der von der AfD bis
hin zu den Muslimverbänden reicht.
Wer sich freilich diesem Konsens ver-
weigert, hat das politische Urteil über
sich selbst gesprochen.
Im Mittelpunkt dieses Konsenses
müssen der Kampf gegen den Antise-
mitismus und der Schutz jüdischer Men-
schen und Einrichtungen stehen. Denn
für den rechten und islamischen Terror
- wie für den linken, rechten und musli-
mischen Extremismus – ist der Juden-
hass konstitutiv. Und wenn auch der
islamische Terror unseren Nachbarn
Frankreich nicht in die Knie zwingen
konnte – Frankreichs Juden fühlen sich
bedrohtund verlassen das Land schon
zu Tausenden. Auch hierzulande geht
nicht erst seit Halleunter Juden die
Angst um.
Und sie ist berechtigt. „Judenreine“
Stadtteile und Schulen darf es ebenso
wenig geben wie ungeschützte Synago-
gen. Hier sind Staat, Medien und Zivil-
gesellschaft in der Pflicht. Ein erneuter
Exodus der Juden aus Deutschland wäre
eine moralische und politische Bank-
rotterklärung und ein Sieg der Gewalt-
täter und Terroristen.
[email protected]
ǑǑ
KOMMENTAR
Angriff auf
Lucke – ein
Skandal
K
unst und Wissenschaft,
Forschung und Lehre
sind frei“, heißt es in
Artikel fünf des Grundgesetzes.
Was für ein gewaltiger Satz das
ist, scheinen Studenten immer
weniger zu begreifen. An vielen
Hochschulen macht sich ein
antiintellektuelles, diskurs-
feindliches Klima breit. Und
während viele Angriffe auf unse-
re demokratische Öffentlichkeit
heute vom rechten Rand kom-
men, hat diese studentische
Stimmungsmache linksradikale
Absender. Hörsäle werden be-
setzt, Professoren per Plakat-
kampagne verunglimpft, Lehr-
aufträge blockiert, Instituts-
gründungen sabotiert. In fast
allen Fällen reagieren die Uni-
versitätsleitungen feige. Riesig
ist offenbar ihre Angst, sich
durch Kontakt mit den als
„rechts“ diffamierten Kollegen
selbst zu kontaminieren. Wobei
der Stempel „rechts“ völlig
wahllos Sozialdemokraten tref-
fen kann, FDP- oder CDU-Mit-
glieder.
Im jüngsten Fallwurde die
Nazi-Keule gegen den Wirt-
schaftsprofessor Bernd Lucke
geschwungen. Hunderte von
Studenten hinderten ihn daran,
an der Hamburger Universität
eine Vorlesung zu halten. Sie
riefen „Nazischwein“. Nun kann
man Luckeeine Menge vor-
halten. Man kann seine markt-
radikalen Ansichten ablehnen.
Man kann auch der Meinung
sein, dass es gerade seine wirt-
schaftsprofessorale Naivität
war, die ihn verkennen ließ, wie
schnell die von ihm gegründete
AfD ins echte Rechts abdriften
würde. Man kann über all das
übrigens mit ihm diskutieren,
was zu organisieren vielleicht
die Aufgabe einer Studenten-
vertretung wäre. Aber wer ihn
physisch angreift, wer ihm das
Wort abschneidet, dem bedeutet
die Freiheit der Wissenschaft
offenkundig nichts.
Aber der eigentliche Skandal
besteht darin, dass die Hambur-
ger Universitätsleitung nicht im
Saal war, dass sie Lucke nicht
zur Seite stand – und dass sie
die mobartige Verhinderung
seiner Vorlesung als „diskursive
Auseinandersetzung“ bezeichne-
te, die die Hochschule aushalten
müsse. Genau das war sie aber
nicht – ebenso wenig wie Lucke
ein „Nazischwein“ ist. Wenn die
Universität – selbstverständlich
in Treue zur Verfassung – nicht
mehr frei ist: Wozu braucht man
sie dann noch?
[email protected]
SUSANNE GASCHKE