DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT FREITAG,18.OKTOBER2019 WISSEN 27
Daher spricht man auch vom
Bauchhirn. Mit seinen mehr als
100 Millionen Neuronen ist das
ENS sogar größer als das Ner-
vensystem im Rückenmark.
„Das ENS ist zentral für alle
Aspekte der Verdauung und
Darmbeweglichkeit“, erklärt
der irische Neurowissenschaft-
ler John Cryan vom University
College Cork. „Mit wachsenden
Forschungsergebnissen erken-
nen wir aber immer deutlicher,
welche wichtige Rolle das ENS
auch für die Gesundheit des
Gehirns spielt.“
Nicht nur Erkenntnisse über
das ENS, sondern auch zahlrei-
che neue Studien über das Mi-
krobiom geben Aufschluss über
die Wirkweise des Darms: Bis
zu 1,5 Kilogramm wiegen die
Bakterien bei jedem Menschen,
das entspricht rund 100 Billio-
nen Exemplaren. Etwa 1.000
Arten wurden bisher entschlüs-
selt. „Wie viele es insgesamt
A
ls der Franzose Jo-
seph Pujol Ende des
- Jahrhunderts
Abend um Abend auf
die Bühne trat, um mit gezielten
Lüftchen aus dem Hintern die
„Marseillaise“ und andere Stü-
cke zu intonieren, staunte das
Publikum nicht schlecht. Rei-
henweise fielen die Damen vor
Lachen über den Kunstfurzer in
Ohnmacht, stets standen Kran-
kenschwestern bereit. Selbst
berühmte Persönlichkeiten wie
der belgische König Leopold II.
liebten die Show von „Le Pét-
omane“ – „dem Pupsomanen“.
Hätten sie geahnt, welch Talen-
te im Darm noch schlummern –
es hätte ihnen erneut den Atem
verschlagen.
VON KAROLINE NUCKEL
Heute, 130 Jahre später, ge-
hen Forscher davon aus, dass
der Darm zu weit mehr dient
als zur Belustigung und Verdau-
ung. Immer mehr Wissen-
schaftler sind sicher: Charak-
tereigenschaften wie Schüch-
ternheit, aber auch Krankheiten
wie Depressionen und Multiple
Sklerose können mit dem
Bauch zusammenhängen. So
ließen sich Leiden, die bisher
mit Psychopharmaka, Kortison
oder anderen Medikamenten
therapiert werden, künftig mit
aufbereiteten Darmbakterien
behandeln. Eine hoffnungsvolle
These für Mediziner und Pa-
tienten – und noch lange nicht
vollends erforscht.
In Deutschland erreichte das
Thema Verdauung spätestens
mit dem Bestseller „Darm mit
Charme“ (2014) von Giulia En-
ders eine breite Masse. 2,4 Mil-
lionen Mal verkaufte sich das
Buch allein im deutschsprachi-
gen Raum, inzwischen ist es in
40 Sprachen übersetzt. Enders
verschriftlichte das, was Kinder
intuitiv tun und durch Erzie-
hung verlernen (siehe Interview
Seite 13): Sie ersetzte die Scham
über menschliche Verdauung
durch Faszination. Und wurde
damit Teil einer Forschungswel-
le, die sich aktuell mit einem
Feld auseinandersetzt, das nie
zuvor so umfassend beachtet
wurde: die Gesamtheit aller im
Darm vorkommenden Mikroor-
ganismen – das Mikrobiom.
Im Verdauungstrakt eines je-
den Menschen steckt ein kom-
plexes System, das sehr oft ei-
genständig arbeitet und im Ge-
gensatz zu anderen Organen
nicht immer den Befehlen des
Gehirns folgt, sondern wieder-
um dem Gehirn Signale vermit-
telt, etwa über den Sättigungs-
grad. Durch den Vagusnerv sind
Darm und Hirn direkt mitei-
nander verbunden. 90 Prozent
der Informationen gehen vom
Darm an das Hirn, und nur
zehn Prozent sendet das Hirn
an den Darm.
Das sogenannte enterische
Nervensystem (ENS), das sich
in den Wänden des rund sieben
Meter langen Darms befindet,
kommuniziert ebenso wie das
Gehirn mit Neurotransmittern.
sind, ist allerdings schwer zu
sagen, da sich der Stand der
Forschung so schnell ändert“,
sagt Mikrobiologin Erica Son-
nenburg von der Universität
Stanford, Kalifornien.
Die Wissenschaftlerin er-
forscht seit Jahren mit ihrem
Mann Justin Sonnenburg das
Mikrobiom des Menschen. „Die
Gesamtheit aller Darmbakte-
rien ist vergleichbar mit dem
komplexen Ökosystem eines
Regenwalds“, sagt die Forsche-
rin. „So wie die verschiedenen
Spezies in einem Ökosystem in-
teragieren auch Mikroben in
unserem Darm, wodurch das
System stabil bleibt. Kommt es
zu einer Störung, etwa durch ei-
nen Salmonellenbefall, ist das
gesamte Ökosystem nicht mehr
intakt.“
Für das Mikrobiom gilt: Je
mehr unterschiedliche Bakte-
rien im Darm vorkommen, die
wichtige Moleküle produzie-
Wunderwelt
im Darm
Wer glaubt, das Hirn sei Chef des Körpers,
irrt: Im Darm bestimmen 100 Billionen
Bakterien nicht nur, was wir essen –
sondern auch, wie wir uns sozial verhalten
Unser Bauch – Die wunder-
bare Welt des Mikrobioms.
Wissenschaftsdoku.
Samstag, 19. Oktober,
2 1.40 Uhr Arte. Bis 17.12.
in der Mediathek.
Quelle:
Arte
Die Darm-Hirn-Achse
Wie der Kopf erfährt,
was der Bauch
braucht
Zentrales Nervensystem (ZNS)
Über Nervenzellen senden Hirn
und Rückenmark Signale an
bestimmte Körperregionen
VagusnervVagusnerv
Der Darm kommuniziert über Der Darm kommuniziert über
diesen Weg direkt mit diesen Weg direkt mit
dem Gehirndem Gehirn
Enterisches NervensystemEnterisches Nervensystem
Dieser eigenständige Teil Dieser eigenständige Teil
des ZNS, das Bauchhirn, umfasst des ZNS, das Bauchhirn, umfasst
mehr als ��� Millionen Nerven-mehr als ��� Millionen Nerven-
zellen in der Darmwandzellen in der Darmwand
Schnitt durch den DarmSchnitt durch den Darm
Darmwand
Nervenzellen
Bakterien
Krankheitsabwehrer Darmzotten
StimmungsaufhellerStimmungsaufhellerStimmungsaufhellerStimmungsaufhellerStimmungsaufheller
Verdauungs-
helfer Die mehr als ��� Billionen Darmbakterien
senden Signale in Richtung Gehirn.
Rund ���� Bakterienarten gibt es
Ballaststoff-Ballaststoff-Ballaststoff-
verwerterverwerter
Mikrobiom
Immunsystem-
Entzündungs-hemmer trainer
Mucosa
oder Medikamente. Ob eine Di-
ät einen Wandel bringen kann,
können wir bisher noch nicht
sagen.“
Was sollte man aber essen,
damit das Mikrobiom von vorn-
herein so divers wie möglich
bleibt? Hinweise fand Justin
Sonnenburg in Tansania: Der
dortige Stamm der Hadza
zeichnet sich durch ein sehr ab-
wechslungsreiches Mikrobiom
aus. „Das liegt vor allem an der
hohen Konzentration an Bal-
laststoffen in der Nahrung“, so
Sonnenburg. Chronische
Darmerkrankungen oder Dia-
betes gibt es dort praktisch
nicht. Wie relevant Ballaststof-
fe sind, belegte auch Erica Son-
nenburg: In einem Versuch
zeigte sie nicht nur, dass Mäuse
durch Ballaststoffe ein ausge-
prägteres Mikrobiom besitzen.
Sie bewies auch, dass sich ein
gestörtes Mikrobiom vererbt –
über vier Generationen. „Unser
Experiment erklärt, wie sich
Volkskrankheiten durch unsere
westliche Lebensart ausbreiten.
Das wird künftig zum globalen
Problem.“ Was Ballaststoffe so
wichtig macht, sind die enthal-
tenen Präbiotika: Daneben
spielen Probiotika eine Rolle:
Bakterien, die in Joghurt oder
Kimchi enthalten sind.
Ist das Mikrobiom dauerhaft
geschädigt, braucht es mitunter
aber mehr als gesunde Ernäh-
rung – die Zuführung von Bak-
terien wird zum Beispiel in
Form von Stuhltransplantatio-
nen durchgeführt. Dabei wird
Patienten der Stuhl eines ge-
sunden Menschen verabreicht –
aufbereitet als Einlauf oder
Kapseln. In den USA wurden
Patienten mit dem gefährlichen
Krankenhauskeim Clostridium
difficile auf diese Weise erfolg-
reich behandelt: Oft tritt schon
nach 24 Stunden Besserung ein.
Heilmethoden dieser Art er-
öffnen ein völlig neues Feld in
der Medizin, in der nicht Symp-
tome behandelt, sondern Bak-
terien verabreicht werden, da-
mit das sich regenerierende Mi-
krobiom Krankheiten lindert.
Eine körpereigene Apotheke al-
so. „Eines Tages werden wir al-
le Stoffe, die Darmbakterien
produzieren, identifizieren und
herausfinden, wie sie unsere
Gesundheit beeinflussen“, sagt
Justin Sonnenburg. „So werden
wir gezieltere Therapien entwi-
ckeln als eine Stuhltransplanta-
tion, und Bakterien werden ei-
ne Vielzahl von Krankheiten
heilen können.“
ren, desto besser ist es um die
Gesundheit bestellt. Fehlen ge-
wisse Arten, löst das zum Bei-
spiel ein Reizdarmsyndrom aus
- darüber hinaus kann es aber
auch zu Diabetes, Allergien,
Multipler Sklerose oder einer
Depression kommen. „Wir fin-
den immer mehr Beweise, dass
Hormone, die im Darm freige-
setzt werden, unsere Hirnplas-
tizität, einschließlich der Aus-
bildung neuer Neuronen, be-
einflussen“, sagt John Cryan.
Damit sind die Auswirkungen
eines gestörten Mikrobioms
umfassender als bislang ange-
nommen.
Sowohl Krankheitserreger als
auch Antibiotika schädigen das
Mikrobiom. In den ersten Le-
bensjahren formt sich die indivi-
duelle Zusammensetzung. Be-
kommt ein Kind Antibiotika,
kann sich das auf das Mikrobiom
im Erwachsenenalter auswirken.
AAAuch Kaiserschnittkinder habenuch Kaiserschnittkinder haben
laut Studien ein weniger ab-
wechslungsreiches Mikrobiom.
Der Grund: Sie kommen bei der
Geburt nicht mit dem Vaginal-
schleim der Mutter in Berüh-
rung, der für ein gutes Mikro-
biom-Starter-Kit sorgt. Mit „Va-
ginal Seeding“ soll dem entge-
gengewirkt werden – Neugebo-
rene werden dabei direkt nach
der Geburt mit dem Vaginalse-
kret der Mutter eingerieben.
Neben diesen Faktoren be-
stimmt zudem die Ernährung
das (Un-)Gleichgewicht des
Mikrobioms: Zu viel Zucker,
Fett, Alkohol und Zusatzstoffe
schädigen es. Aitak Farzi von
der Universität Graz bewies in
einer Studie, dass sich Mäuse,
die mit Fast Food gefüttert
wurden, eher zurückziehen als
ihre mit Ballaststoffen genähr-
ten Artgenossen. Das Mikro-
biom unterschied sich – und be-
einflusste das Sozialverhalten.
Ob Tierversuche aussagekräftig
sind für Menschen, ist indes un-
klar: „An Mäusen untersuchen
wir grundlegende Konzepte“,
so Farzi. „Inwieweit die Ergeb-
nisse auf Menschen übertrag-
bar sind, muss von Fall zu Fall
untersucht werden.“
Genau das tat Jeroen Raes
von der Katholieke Universiteit
Leuven: Er wertete die Daten
von 1.054 Belgiern aus, die unter
Depressionen litten. So stellte
er einen Zusammenhang zwi-
schen der Krankheit und einer
verringerten Keimzahl von Bak-
terien der Gattungen Copro-
coccus und Dialister fest.
Je mehr Forschungsergebnis-
se veröffentlicht werden, desto
deutlicher wird der Zusammen-
hang zwischen Psyche und Mi-
krobiom. Auch Neurowissen-
schaftler Cryan wies in einem
Test mit Medizinstudenten
nach, dass Kaiserschnittkinder
auch im Alter ein erhöhtes
Stressempfinden haben. Dane-
ben untersucht er, wie sich Ess-
verhalten auf das Gehirn aus-
wirken kann. „Das Mikrobiom
festigt sich in den ersten Le-
bensjahren. Im Erwachsenenal-
ter ändert es sich nicht grundle-
gend, nur durch Krankheit etwa