DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT FREITAG,18.OKTOBER2019 THEMA DES TAGES 3
nicht in den ungeordneten EU-
Ausstieg zwingt. Eine Verlänge-
rung will Johnson aber unbedingt
vermeiden.
Angesichts des wachsenden
Unmuts in der Bevölkerung über
das sich hinziehende Brexit-Dra-
ma wird eine Ablehnung des neu-
en Deals aber vor allem für La-
bour-Abgeordnete, deren Wahl-
kreise für den Brexit gestimmt
hatten, schwierig werden. Auf
solche Stimmen wird es für John-
son ankommen, da ihm seit dem
Rauswurf von Fraktionskollegen,
die Anfang September einen No
Deal blockiert hatten, 23 Stim-
men zur Mehrheit fehlen.
Am Samstag wollen in London
zudem zahlreiche Brexit-Gegner
für ein zweites Referendum de-
monstrieren. Sowohl Labour als
auch Liberaldemokraten wollen
dem Deal möglicherweise zu-
stimmen, wenn damit ein zwei-
tes Referendum verbunden wäre.
DPA
/ FRANCISCO SECO
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Chef Jeremy Corbyn, sprach mit
Blick auf das neue Abkommen
von einem „Ausverkauf“ und
kündigte die Ablehnung durch
seine Partei an. Johnson habe ei-
nen noch schlechteren Deal aus-
gehandelt als seine Vorgängerin
May. Auch die nordirische DUP-
Partei und die EU-freundliche
Scottish National Party (SNP)
kündigten ein Nein an. Der EU-
feindliche britische Populist Ni-
gel Farage kritisierte die neue
Brexit-Einigung. Trotz der Ver-
besserungen in Fragen der Zoll-
union sei die Vereinbarung ange-
sichts der vorgeschlagenen
Nordirland-Lösung „kein Bre-
xit“, erklärte der Chef der Brexit-
Partei. Die britischen Liberalde-
mokraten beharren auf einer
zweiten Volksabstimmung über
den EU-Austritt.
EU-Chefunterhändler Michel
Barnier sagte, das Abkommen
schaffe Rechtssicherheit. Es wer-
de eine Übergangsphase bis Ende
2020 geben. Eine harte Grenze
zwischen der britischen Provinz
Nordirland und dem EU-Mitglied
Irland sei ausgeschlossen. Nord-
irland werde im Güterverkehr
weiter EU-Regeln unterliegen.
Zugleich werde die Provinz auch
der britischen Zollhoheit für Wa-
ren unterstehen, wenn diese dort
verbleiben – damit würden briti-
sche Handelsabkommen mit
Drittstaaten auch in Nordirland
gelten.
Die deutsche Industrie hat
die Einigung bei den Brexit-
Verhandlungen als „ersten
Lichtblickseit langer Zeit“
gewürdigt. Das Austritts-
abkommen könnte Folgen
für deutsche Unternehmen
abfedern, erklärte der Prä-
sident des Deutschen Indus-
trie- und Handelskammer-
tages (DIHK), Eric Schweit-
zer. Der Außenhandels-
verband BGA zeigte sich
„sehr erleichtert“.
Deutsche Wirtschaft
reagiert erleichtert
nug. Es müsse endlich ein klarer
Schnitt her, heißt es dort.
Dabei geht die neue Einigung
von Premierminister Boris John-
son, das deutet sich jetzt schon an,
deutlich stärker auf Distanz zur
EU als das Austrittsabkommen,
das seine Vorgängerin Theresa
May ausgehandelt hatte. Und das
werde teuer für die britische Wirt-
schaft, argumentieren Hanwei
Huang, Jonathan Portes und Tho-
mas Sampson von der Denkfabrik
„UK in a Changing Europe“ in ei-
ner aktuellen Analyse. „Die Aus-
wirkungen auf das Pro-Kopf-Ein-
kommen sind in allen Szenarien
negativ, aber Johnsons Vorschläge
werden [der Wirtschaft] mehr
schaden als Mays.“ Unter dem
Strich verliere jeder Brite auf
mittlere Sicht 2000 Pfund (
Euro) an verfügbarem Einkom-
men im Jahr. Mays Deal hätte ein
Minus von 1500 Pfund bedeutet,
ein No Deal 2500 Pfund.
Letztlich bedeutet der Plan ei-
nen härteren Brexit als Mays Vari-
ante. Während May an einem
möglichst reibungsfreien Waren-
austausch interessiert war, ist es
Johnson wichtig, dass sich das
VVVereinigte Königreich weit vonereinigte Königreich weit von
W
eißer Rauch über Brüs-
sel. Die Unterhändler
fffür Großbritannienür Großbritannien
und die Europäische Union haben
sich am Donnerstagvormittag auf
einen neuen Rahmen für den Aus-
stieg der Briten aus der Europäi-
schen Union geeinigt. Als „Tour-
nedos Rossini“, ein exquisites
fffranzösisches Rindersteak, lobteranzösisches Rindersteak, lobte
der erzkonservative Abgeordnete
und „Leader of the House“ Jacob
Rees-Mogg den zäh ausgehandel-
ten Kompromiss.
VON CLAUDIA WANNER
AUS LONDON
An den Devisenmärkten war die
Stimmung nicht ganz so eupho-
risch. Zwar machte das Pfund ge-
genüber Euro und Dollar nach Be-
kanntgabe der Einigung einen
Sprung – ein Pfund Sterling ent-
sprach 1,16 Euro. Einen großen
Teil der Gewinne hat der Sterling
aaaber im Tagesverlauf wieder abge-ber im Tagesverlauf wieder abge-
geben. „Große Hürden verblei-
ben“, urteilt John Wraith, Stratege
bei der UBS.
Tatsächlich sind noch zahlrei-
che Fragen offen, nicht zuletzt die
nach der Zustimmung des briti-
schen Parlaments. Eine für Sams-
tag geplante Abstimmung zu der
Einigung in Brüssel ist ungewiss,
da die nordirische DUP, die die
konservative Regierung in einer
losen Koalition unterstützt, ihr
Einverständnis zu dem Deal bis-
her verweigert hat. Die Abgeord-
neten sind unzufrieden mit der
neuen Lösung für Nordirland. Es
ist vor allem der Streit um die iri-
sche Grenze, der einen Kompro-
miss bisher unmöglich gemacht
hatte.
Doch hat der Fokus auf die
Landgrenze zwischen der Repu-
blik Irland und Nordirland, das
zum Vereinigten Königreich ge-
hört, den Blick auf das größere
Bild verstellt? „Während wir atem-
los genau die stündlichen Ent-
wicklungen studieren, [...] verlie-
ren wir da nicht völlig aus den Au-
gen, was für eine miserable lang-
fffristige Strategie der Brexit fürristige Strategie der Brexit für
dieses Land ist?“, warnte Simon
Fraser, früherer Leiter des diplo-
matischen Dienstes, Anfang der
WWWoche auf Twitter. Am entgegen-oche auf Twitter. Am entgegen-
gesetzten Ende des ideologischen
Spektrums gilt der neue Plan da-
gegen als nicht weitreichend ge-
der EU lösen kann. Auf der ande-
ren Seite will er die in Aussicht ge-
stellten Freihandelsverträge mit
Drittstaaten, unter anderem den
USA, abschließen. Der neue Plan
lässt Großbritannien die Freiheit,
sich aus dem Regulierungsrahmen
der EU zu verabschieden. Das be-
deutet im Umkehrschluss aber
mehr Hemmnisse für den Handel,
mehr Bürokratie, mehr Kontrollen
an den Grenzen, zusätzliche Zerti-
fffizierungen. Der Handel mit Wa-izierungen. Der Handel mit Wa-
ren und Dienstleistungen wird da-
durch komplizierter und teurer.
Nichttarifäre Hemmnisse für
den Handel und höhere adminis-
trative Kosten für Unternehmen
werden unter dem Johnson-Vor-
schlag bis 2030 zu einem Pro-
Kopf-Einkommen führen, das um
2 ,5 Prozent niedriger liegt, als
wenn Großbritannien in der EU
geblieben wäre. Der Effekt des
May-Vorschlages wäre mit 1,7 Pro-
zent geringer ausgefallen, ein No-
Deal-Brexit unter den Vorgaben
der Welthandelsorganisation wür-
de das Pro-Kopf-Einkommen so-
gar um 3,3 Prozent senken.
Berücksichtigt sind dabei nur
die zusätzlichen Kosten, die für
den Außenhandel entstehen. Die
hohen Kosten stimmen mit ande-
ren Untersuchungen überein, et-
wa mit den Szenarien, die das Fi-
nanzministerium vor einiger Zeit
fffür verschiedene Brexit-Alternati-ür verschiedene Brexit-Alternati-
ven durchgerechnet hat. Erst An-
fffang des Monats wurde eineang des Monats wurde eine
Schätzung der Finanzbehörde be-
kannt, die davon ausgeht, dass Un-
ternehmen allein für das Ausfüllen
von Zollformularen und deren
Überprüfung im Jahr Kosten von
1 5 Milliarden Pfund entstehen
werden. Diese Formalitäten sind
auch im Falle eines Freihandelsab-
kommens nötig, sie berücksichti-
gen noch nicht das Problem der
Mehrwertsteuer.
Die Handelshemmnisse haben
Folgewirkungen, können die Pro-
duktivität einschränken, Zurück-
haltung bei Investitionen auslö-
sen. Zudem plant die britische Re-
gierung eine umfassende Überar-
beitung ihres Zuwanderungsre-
gimes, was wiederum Einfluss auf
die wirtschaftliche Entwicklung
haben könnte. Auch diese Fakto-
ren haben Huang, Portes und
Sampson versucht, zu modellie-
ren. Sie lassen nicht auf Erleichte-
rung hoffen, im Gegenteil. Ange-
passt um Produktivität und Mi-
gration fällt das Pro-Kopf-Ein-
kommen im Johnson-Modell um
5 ,8 Prozent bei einer liberalen Zu-
wanderungspolitik, um sieben
Prozent bei restriktiven Grenz-
kontrollen.
Angesichts dieser Perspektiven
fffiel auch die Reaktion der briti-iel auch die Reaktion der briti-
schen Wirtschaft eher verhalten
aus. Zwar sei zu begrüßen, dass
der Deal eine Übergangsfrist und
damit mehr Vorbereitungszeit in
AAAussicht stelle, sagte Carolyn Fair-ussicht stelle, sagte Carolyn Fair-
bairn, Geschäftsführerin des In-
dustrieverbandes Confederation
of British Industry (CBI). „Doch
die Wirtschaft hat ernste Sorgen
was die Richtung des künftigen
VVVerhältnisses zwischen Großbri-erhältnisses zwischen Großbri-
tannien und der EU betrifft. Ein
jahrzehntelanger freier und rei-
bungsfreier Handel mit dem größ-
ten britischen Markt, von Tausen-
den kleinen und großen Unter-
nehmen erarbeitet, darf nicht
preisgegeben werden.“
Weicher Brexit,
knallharter Deal
Neues Austrittsabkommen konzentriert
sich auf die irische Grenzfrage. Die
wirtschaftlichen Folgen aber könnten
jeden Briten Tausende Euro jährlich kosten
Restriktive Politik schadet der Wirtschaftsleistung
Quelle: The UK in a Changing Europe
Wirtschaftliche Auswirkungen der Handels- und Migrationspolitik in
unterschiedlichen Brexit-Szenarien (BIP pro Kopf in Prozent)
Vorschlag von Theresa May
Vorschläge von Boris Johnson
Liberales Migrationsszenario
Restriktives Migrationsszenario
WTO-Szenario
ohne Produktivitätsanpassung mit Produktivitätsanpassung
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