Die Welt Kompakt - 18.10.2019

(Barré) #1

S


eit die Türkei ihre Of-
fffensive in Nordsyrienensive in Nordsyrien
gestartet hat, wächst
international die
Angst, die Terrormiliz IS könnte
wieder erstarken. Denn das Cha-
os der militärischen Auseinan-
dersetzungen nutzen IS-Kämp-
fffer offenbar zur Flucht. In derer offenbar zur Flucht. In der
Region sitzen etwa 90.000 IS-
Anhänger in kurdisch bewachten
Lagern und Gefängnissen, unter
ihnen gefährliche Kämpfer, von
denen mehrere Hundert aus Eu-
ropa kommen. Am Wochenende
konnten bereits 780 Anhänger
der Terrormiliz aus einem Lager
in Ain Issa entkommen.
Doch schon zuvor war der
Umgang mit ausländischen Ter-
roristen im Irak und in Syrien
ein Streitpunkt zwischen den eu-
ropäischen Ländern auf der ei-
nen Seite und den arabischen
Ländern sowie den USA auf der
anderen. Denn viele europäische
Regierungen zögern, ihre Staats-
bürger oder früheren Einwohner
unter den gefangenen IS-Kämp-
fffern zurückzuho-ern zurückzuho-
len und in der
Heimat vor Ge-
richt zu stellen.
Der Irak und die
Bürgerkriegspar-
teien in Syrien
sind mit der Un-
terbringung und
Sicherung der ge-
fffangenen Kämpfer schon langeangenen Kämpfer schon lange
üüüberfordert, und die USA verlan-berfordert, und die USA verlan-
gen von den Europäern lautstark
die Rücknahme ihrer IS-Mitglie-
der. So gehen die Europäer mit
diesem Problem um:

DEUTSCHLAND

Die Bundesregierung hat in Sa-
chen IS-Kämpfer einen restrikti-
ven Kurs eingeschlagen. Anders
als andere Staaten hat Deutsch-
land bisher keine erwachsenen
IS-Mitglieder zurückgeholt. Und
dabei soll es auch nach der türki-
schen Offensive bleiben. „Es
kann keine pauschale Übernah-
me geben“, stellte ein Sprecher
des Bundesinnenministeriums
(BMI) fest und fügt hinzu: „Der-
jenige, der nach Deutschland
üüübernommen wird, darf für diebernommen wird, darf für die
hiesige Bevölkerung keine Ge-
fffahr darstellen.“ Aktuell regis-ahr darstellen.“ Aktuell regis-
trieren Bundesbehörden rund 110
IS-Haftfälle mit Deutschlandbe-
zug in Nordsyrien. Männer sind
in Gefängnissen, Frauen und
Kinder in Zeltlagern unterge-
bracht. Rund 70 Prozent von ih-
nen sind deutsche Staatsbürger;
etwa ein Drittel sind laut inter-
nen Dokumenten sogenannte
Doppelstaatler, besitzen also
noch eine weitere Staatsbürger-
schaft. Einige bekleideten hohe
Funktionen beim IS, sollen an
Folter und anderen Kriegsver-
brechen beteiligt gewesen sein.
IBRAHIM NABER

GROSSBRITANNIEN

Innenministerin Priti Patel sta-
tuierte jüngst ein Exempel, als
sie das Rückkehrgesuch einer
jungen Londonerin kategorisch
aaablehnte. „Unsere Aufgabe istblehnte. „Unsere Aufgabe ist

es, unser Land zu sichern. Wir
brauchen keine Leute, die Böses
getan und unser Land verlassen
haben, um sich einem Todeskult
anzuschließen und dessen Ideo-
logie zu verbreiten.“ Im konkre-
ten Fall geht es um die aus Lon-
don stammende Shamima Be-
gggum. Als 15-Jährige war sie 2015um. Als 15-Jährige war sie 2015
heimlich mit zwei Freundinnen
in ein Flugzeug in die Türkei ge-
stiegen und hatte sich dem IS in
Syrien angeschlossen. Dort wur-
de sie mit einem aus den Nieder-
landen stammenden Kämpfer
verheiratet und bekam von ihm
drei Kinder. Zwei starben in der
Terroristenhochburg Rakka an
Krankheiten. Ein weiteres kam
in einem Flüchtlingslager zur
WWWelt, starb aber kurz daraufelt, starb aber kurz darauf
ebenfalls. Im Interview mit ei-

nem „Times“-Reporter, der sie
im Februar 2019 in dem Lager
aufgespürt hatte, zeigte sie sich
„unbeeindruckt“ von IS-Gräuel-
taten, die sie selbst mit angese-
hen hatte. Britische Behörden
schätzen, dass sich rund 800 Bri-
ten dem Kalifat angeschlossen
haben.

BELGIEN

Im Verhältnis zur Einwohner-
zahl kamen aus keinem anderen
Land mehr islamistische Kämp-
fffer als aus Belgien. Nach offiziel-er als aus Belgien. Nach offiziel-
len Angaben sind 422 Belgier aus
dem Land ausgereist, um für den
IS zu kämpfen. 142 starben, 130
sind zurückgekehrt. Zwar haben
sich die belgischen Behörden be-
reit erklärt, die Kinder von IS-
Anhängern zurückzunehmen,
nicht aber ihre Mütter – und
schon gar nicht die männlichen
Kämpfer. Von ihnen befinden
sich noch 55 mit Bezug zu Bel-
gien in Syrien. Die Terrorkoordi-
nierungsstelle des Landes
(OCAD) fordert, Belgien solle
seine IS-Anhänger zurückholen,
um sie vor belgische Gerichte zu
stellen. Doch die Regierung
sträubt sich vehement dagegen.

Am Mittwoch wurde bekannt,
dass zwei belgische IS-Kämpfer
aus ihrer Haft in Syrien fliehen
konnten. Zuvor war schon drei
belgischen IS-Frauen und ihren
Kindern die Flucht gelungen.
OCAD-Direktor Paul Van Tig-
chelt vermutet, es sei nicht un-
möglich, aber „unwahrschein-
lich, dass die ausländischen Ter-
roristen den europäischen Kon-

tinent unbemerkt und unkon-
trolliert erreichen“ – zumindest,
solange der Migrationsdeal mit
der Türkei halte. CAROLINA DRÜTEN

FRANKREICH

Nach Umfragen sind mehr als 80
Prozent der Franzosen gegen die
RRRückkehr französischer Dschiha-ückkehr französischer Dschiha-
disten. Auch die Tatsache, dass
unlängst elf Franzosen von ei-
nem irakischen Gericht zum To-
de verurteilt wurden, ändert
nichts daran. Dennoch hatte die
Regierung unter Präsident Fran-
çois Hollande 2014 einen Vertrag
mit der türkischen Regierung
unterzeichnet. Das sogenannte
„Protokoll Cazeneuve“ erlaubt
es rückkehrwilligen Dschihadis-
ten nach Frankreich zurückzu-

kehren, um dort vor Gericht ge-
stellt zu werden. Rund 200 Per-
sonen, darunter zahlreiche Frau-
en und Kinder, sollen dank die-
ses Abkommens nach Paris über-
ffführt worden sein.ührt worden sein.
Konservative Politiker hatten
an diesem Verfahren kritisiert,
dass die Beweislage fernab der
Tatorte oft so schwierig zu prü-
fffen sei, dass die Rechtslage einenen sei, dass die Rechtslage einen
Rechtsstaat wie Frankreich am
Ende womöglich zwinge, Täter
ungestraft freizulassen. Spezia-
listen und Geheimdienste schät-
zen die Zahl der französischen
Dschihadisten auf 1300.
MARTINA MEISTER

BALKAN

In den Balkan-Staaten ist die Be-
reitschaft zur Rückholung von
IS-Kämpfern aus dem eigenen
Land höher als andernorts in Eu-
ropa. Der Kosovo etwa ließ im
AAApril 110 kosovarische Staatsbür-pril 110 kosovarische Staatsbür-
ger aus Syrien einfliegen. Vier
von ihnen wurden verdächtigt,
fffür den IS gekämpft zu haben,ür den IS gekämpft zu haben,
der Rest waren Frauen und Kin-
der. Die US-Botschaft lobte den
Schritt als „wichtiges Beispiel“,
dem die internationale Gemein-
schaft folgen solle.

Europas verdrängtes


Terrorproblem


In Syrien könnten zahllose gefangene IS-Kämpfer fliehen –


darunter viele Europäer. Wie gehen ihre Heimatländer damit um?


8 POLITIK DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT FREITAG,18.OKTOBER


K


obani ist hart umkämpft:
Etwa 20 Kilometer vor
der Stadt haben türki-
sche Truppen Position bezogen.
Zu denen, die die Stadt verteidi-
gen wollen, gehört Nessrin Ab-
dalla. Sie ist Kommandeurin ei-
ner kurdischen Frauenbrigade,
die für die YPG kämpft.


VON GABRIELLA COLARUSSO

WELT:Frau Abdalla, wie lau-
ten die Vereinbarungen mit
dem syrischen Regime?
NESSRIN ABDALLA:Es geht
um die Schaffung gemeinsamer
Operationstruppen zum Schutz
der syrischen Grenze zur Türkei
und vor allem um die Abwehr
türkischer Angriffe.


Wie ist die Situation auf dem
Feld in Kobani?
Die türkischen Soldaten und
Milizen sind fast 20 Kilometer
entfernt. Wir sind schwerem
Artilleriefeuer ausgesetzt, es
gibt andauernde Luftangriffe.


Wie viele Menschen haben die
Stadt verlassen?
Es gibt überall Kämpfe, es ist
schwierig, genaue Zahlen zu
nennen. Wir schätzen, dass es
ungefähr 10.000 Menschen
sind. Viele sind vor allem aus
Ghasaniyeh, einer Stadt südlich
von Kobani,
geflohen. Sie
haben kein
Essen, kein
Wasser, des-
halb schlafen
viele Leute im
Freien. Sie
haben Angst,
in geschlosse-
nen Räumen
getroffen zu
werden.


Viele westliche politische
Führer haben die türkische
Offensiveverurteilt, aber die
internationale Gemeinschaft
hat es versäumt, eine einstim-
mige Position einzunehmen.
Was fordern Sie von den euro-
päischen Regierungen?
Europa muss diese Verantwor-
tung übernehmen, Worte sind
nicht genug, um die Türkei auf-
zuhalten. Im Moment kämpfen
Tausende von aFrauen an der
Front, meine Freundinnen. Wir
kämpfen für alle, für die gesam-
te Menschheit, nicht nur für
uns. Wir bekämpfen den Islami-
schen Staat, dessen Anhänger
auch ein Problem für Europa
sind. Wir kämpfen für Freiheit
und Demokratie.


„Kein Essen,


kein Wasser“


Nessrin Abdalla über


den Kampf um Kobani


Nesrin
Abdullah


GETTY IMAGES

/ AWAKENING

Aus dem Italienischen von Eva
Marie Kogel


Leonora (l.),
111 9, und Sabina,9, und Sabina,
3 4, die Frauen
des in Syrien
inhaftierten
deutschen
IS-Kämpfers
Martin Lemke

AFP/ GETTY IMAGES

US-Vize-Präsident Mike Pen-
ce hat sich nach eigenen An-
gaben mit dem türkischen
Präsidenten Recep Tayyip
Erdogan auf eine Waffenruhe
für den Nordosten Syriens
verständigt. Die Türkei habe
zugesichert, alle militäri-
schen Aktionen für 120
Stunden zu unterbrechen,
sagte Pence am Donnerstag
in Ankara. Während der Waf-
fenruhe könne die Kurdenmi-
liz YPG aus der Region ab-
ziehen. Der Militäreinsatz der
Türkei werde enden, sobald
die YPG komplett abgezogen
ist. Die Türkei will jenseits

ihrer Südgrenze in einem rund
3 0 Kilometer breiten Streifen
auf syrischem Territorium
eine sogenannte Sicherheits-
zoneerrichten. Mit seinem
„Quelle des Friedens“ ge-
nannten und seit einer Woche
dauernden Angriff will das
türkische Militär die YPG aus
dem Gebiet vertreiben. US-
Präsident Donald Trump
lobte die „großartige Neuig-
keiten“ des Treffens von US-
Vize-Präsident Pence und
dem türkischen Präsidenten
Erdogan. „Millionen von Le-
ben werden gerettet werden“,
kündigte er an. rtr/AP

Pence: USA und Türkei vereinbaren Waffenruhe
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