Süddeutsche Zeitung - 18.10.2019

(Jacob Rumans) #1
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interview: christine dössel

A


ndreas Beck empfängt in seinem In-
tendantenbüro im Münchner Resi-
denztheater, das von seinem Vorgän-
ger Martin Kušej sehr teuer und sehr chic
eingerichtet wurde. Mit eigenem Designer-
badezimmer und einem nussbaumfeinen
Hochglanz-Chef-Schreibtisch, den Beck ei-
nen „Oschi“ nennt. Wir nehmen an einem
Besprechungstisch Platz. An der Wand die
Porträts aller Ensemblemitglieder, auf
dem Fußboden Mops Oskar, der anders als
sein Herrchen miese Laune hat. Beck, 1965
im Ruhrgebiet geboren, hat in München
studiert und war am Resi schon mal Drama-
turg. Als Dramaturg arbeitete er auch am
Wiener Burgtheater, in Stuttgart und am
Hamburger Schauspielhaus. Von 2007 bis
2015 leitete er erfolgreich das kleine Schau-
spielhaus Wien, danach noch erfolgreicher
das Theater Basel, von dem er nun sein
Team mitbringt. Die Spielzeit beginnt am
Samstag mit dem Stück „Die Verlorenen“
von Ewald Palmetshofer in der Regie von
Nora Schlocker. Eigentlich hätte am Tag zu-
vor schon eine Uraufführung des Theater-
lieblings Simon Stone Premiere haben sol-
len. Aber Stone sagte ab, weil er einen Hol-
lywoodfilm dreht.

SZ: Wie steht es um Ihre Nerven kurz vor
demStart,nachdemdieEröffnungspremi-
ere von Simon Stone weggebrochen ist?
Andreas Beck: Da die Absage im Sommer
kam, hatte ich genügend Zeit, mich aufzu-
regen und abzuregen. Ich war in Griechen-
land und wusste, dass es keinen Sinn ma-
chen würde, jetzt wie wild herumzutelefo-
nieren, weil die anderen ja auch in den Feri-

en waren. Erst habe ich die verschiedens-
ten Modelle durchdacht, um dann zu ent-
scheiden: Es ist eine Lücke und wird eine
Lücke bleiben. Wir stopfen sie, indem wir
„Die drei Musketiere“ vorziehen. Aber von
den vier geplanten Anfangspremieren
sind es jetzt nur noch drei.

Das ist ja erst mal eine Katastrophe...
Nein, ich habe eine Freundin, die sterbens-
krank ist. Das würde ich als eine Katastro-
phe bezeichnen. Die Absage von Simon Sto-
ne ist einfach nur ein Haufen Scheiße.

Was hat das für Konsequenzen für Ihr
künftiges Verhältnis zu Simon Stone?
Hätten wir uns nicht gekannt und hätte ich
nicht gewusst, wie lange er schon an die-
sem Film arbeitet, dann hätte ich wahr-
scheinlich kein Verständnis gehabt. Jetzt
wusste ich aber, dass er seit fast vier Jah-
ren an diesem Film arbeitet, von dem er
noch im Sommer dachte, dass er gestorben
sei, weil die Finanzierung geplatzt war.
Plötzlich wurde das durch Netflix revitali-
siert, wenn auch mit anderem Cast.

Das klingt verständnisvoll. Wird Stone
auch in Zukunft zu Ihrem Team gehören?
Ich möchte vor allen Dingen, dass wir diese
Produktion, die ja schon geprobt wurde,
fertigstellen. Das ist mir das Wichtigste.
Auch wegen der Schauspieler.

„Die drei Musketiere“, die Sie als Ersatz
zeigen, sind eine Übernahme aus Basel.
Überhaupt bekommt München nun sehr

viel am Theater Basel Erprobtes. Inwie-
weit lässt sich Ihr Konzept einer „Basler
Dramaturgie“ auf München übertragen?
Das zu übertragen, wäre ja unsinnig. Wir
waren in Basel in der Situation, dass wir so
etwas wie einen „Leuchtturm“ schaffen
mussten. Das Theater stand unter Be-
schuss, besonders das Schauspiel wurde
ständig infrage gestellt: Wozu braucht
man das? Also haben wir, die wir alle aus
der Autorenarbeit und Stückentwicklung
kamen, uns überlegen müssen, wie wir mit
unseren Erfahrungen dem gerecht werden
können, was man gemeinhin unter Stadt-
theater versteht – die Pflege der Klassiker,
sag ich jetzt mal, und in möglichst großer
Bandbreite ein Publikum anzusprechen.
Da ist uns die „Basler Dramaturgie“ einge-
fallen. Lustigerweise noch bevor ich wuss-
te, dass während der Intendanz von Wer-
ner Düggelin schon Hermann Beil als jun-
ger Dramaturg zusammen mit Friedrich
Dürrenmatt die „Basler Dramaturgie “ er-
funden hat. Dürrenmatt sagte: „Jetzt müs-
sen wir den Goldschnittwert des Klassi-
kers überprüfen.“ Daran knüpften wir an.

Und in München nun analog dazu eine
„Münchner Dramaturgie“?
Anders als in Basel sind wir in München
nicht das alleinige Stadttheater. Hier eine
Dramaturgie für die Stadt entwickeln zu
wollen, wäre kokett. Die Frage ist eher:
Gibt es einen Stil oder eine Handschrift,
für die das Residenztheater stand, steht
oder stehen könnte.
Und?
Na ja, wir fangen jetzt erst an, das herauszu-
finden. Wir haben natürlich frühere Spiel-
pläne analysiert. Haben geschaut, was die
Vorgänger gemacht haben, wo sie Akzente
gesetzt haben und wo nicht.

Was lässt sich darüber sagen?
Das Verständnis als „Bayerisches Staats-
schauspiel“ stand lange stark im Vorder-
grund. Man kann sagen, dass das Haus erst
mit Günther Beelitz und Eberhard Witt ei-
ne deutlich modernere Prägung bekam.
Unter Dieter Dorn, der ja von den Kammer-
spielen kam und so etwas wie ein staatli-
ches Stadtschauspiel machte, gab es keine
originäre Weiterentwicklung dieses Thea-
ters. Während Kušej durchaus versucht
hat, dem Haus andere Seiten zu eröffnen,
allein schon durch das Branding „Residenz-
theater“ statt „Bayerisches Staatsschau-
spiel“. Grundsätzlich ist das Bayerische in
den Hintergrund geraten. Wir fragen uns,
wie wir das besser reflektieren können.

Erfordert ein „Bayerisches Staatsschau-
spiel“ das?
Ich würde sagen, wenn es im Titel steht, ist
es auch eine Arbeitsaufgabe. Wie auch im-
mer man die dann auslegt.

Gibt es diesen Auftrag auch von Seiten des
Ministeriums?
Nein, es gibt natürlich Gespräche, aber kei-
nen Arbeitsauftrag. Aber grundsätzlich ist
für mich Theater immer: lokal. Da, wo es
stattfindet. Das Residenztheater ist aus
der höfischen Tradition hervorgegangen.
Als ehemaliges Hoftheater hat es eine ganz
andere DNA als die Kammerspiele.

Die Kammerspiele waren auch immer das
modernere, innovativere Haus.
Weil es das Bürger- und Künstlertheater
war. Das Haus steht in einer ganz anderen
Tradition. Weil es auch jünger ist. Die Kam-
merspiele sind viele Experimente einge-
gangen, mit unterschiedlichem Erfolg. Am
Residenztheater, finde ich, sind da noch
sehr viele Optionen offen. Als die Anfrage
kam, das Haus zu übernehmen, fand ich
das auch deswegen interessant, weil ich
das Haus zu kennen glaube und denke: Die-
ses Theater darf schon noch ein bisschen
ausprobiert werden.

Auch für das Wiener Burgtheater waren
Sie ein heißer Kandidat.
Das Burgtheater kenne ich wirklich lange.
Und weiß, dass dort nach der Finanzkrise
bestimmte Innovationen gar nicht mehr
funktionieren können. Weil die sich nicht
mehr rechnen werden in dieser GmbH.

Am Burgtheater ist jetzt Ihr Resi-Vorgän-
ger Kušej und mischt den Laden auf.
Ich wünsche ihm viel Fortune. Die braucht
er auch. Ich denke, dass die Wahl eines ge-
bürtigen Österreichers auf diesen Posten
in der aktuellen – auch politischen – Situa-
tion schon die richtige ist. Da braucht’s
jetzt nicht unbedingt einen Deutschen.

Wie haben Sie sichauf München vorberei-
tet?
Wir waren relativ häufig hier, haben Vor-
stellungen angeschaut. Was uns sehr gefal-
len hat: Das Publikum hat sich im Ver-

gleich zu anderen Theaterstädten immer
mit einer großen Offenheit und einem En-
thusiasmus für die Sache auf die Vorstel-
lungen eingelassen. Auch als in Jean Ge-
nets „Der Balkon“ ein Schauspieler nackt
durch die Zuschauerreihen ging und sein
Hodensack vor den Augen herumbaumel-
te. So etwas muss man ja nicht immer
gleich goutieren. Aber der Abend war so in-
teressant erzählt und der Schauspieler so
bemerkenswert, dass das im Publikum in
keinem Moment ein Skandalon war. Das
fand ich beeindruckend. Diese Bereit-
schaft, Dinge zu entdecken. Das ist wich-
tig. Man braucht eine Komplizenschaft im
Publikum. Ich muss dazu sagen: Wir kom-
men aus der Schweiz, wo die Kunst sich im-
mer gleich existenziell rechtfertigen muss.
Ein sehr guter Abend reicht dort nicht, es
muss ein Knüller sein. Aber man kann
nicht jeden Abend die Kuh fliegen lassen.

Ihr Spielplan für München bietet neben
sehr viel Gegenwartstheater und großen
Gesellschaftspanoramen auch eine Bay-
ern-Schiene als Schmankerl.
Nicht als Schmankerl, sondern als Überprü-
fung. Das ist ja tiefergreifend. Es gibt
Thom Luz’ „Olympiapark in the Dark“ als
Versuch eines akustischen Parcours durch
die Stadt. Oder „Lulu“ als Auseinanderset-
zung mit dem Enfant terrible Frank Wede-
kind. Es gibt eine Wiederbegegnung mit
Marieluise Fleißer, Franz Xaver Kroetz, Ge-
org Ringsgwandl. Dann „M – eine Stadt
sucht einen Mörder“, eine Recherche von
Schorsch Kamerun, die sich weniger auf
den Fritz-Lang-Film bezieht als auf den
Amoklauf in München von 2016. M steht
auch für das Autokennzeichen. Kevin Ritt-
berger schreibt als Auftragswerk „Kassan-
dra / Prometheus“, das auf die Flüchtlings-
welle von 2015 rekurriert. Die Geflüchte-
ten haben in München sehr viel Empathie

erlebt. Haben erlebt, dass Europa nicht nur
eine Trutzburg, sondern auch eine Schutz-
burg sein kann.

Insgesamt wirkt der Spielplan gut austa-
riert und noch etwas vorsichtig.
Finden Sie elf Uraufführungen vorsichtig?
Davon gleich vier zu Beginn? Früher hätte
man einen Intendanten, der so etwas
macht, als Hasardeur bezeichnet. Wir brin-
gen auch aus Basel nicht nur große Titel
mit wie „Amphitryon“, „Leonce und Lena“,
„Woyzeck“ oder „Drei Schwestern“. Son-
dern auch Tony Kushners Aids-Stück „En-
gel in Amerika“ und Ewald Palmetshofers
„Vor Sonnenaufgang“, das ist eine wirklich
radikale Überschreibung von Gerhart
Hauptmanns Sozialdrama. Auch „Spiel
des Lebens“, Knut Hamsuns Kareno-Trilo-
gie, die Stephan Kimmig inszenieren wird,
kennt man kaum.

Wie sehenSie Ihr TheaterimVerhältnis zu
den Kammerspielen, die in dieser Spiel-
zeit noch von Matthias Lilienthal geleitet
werden, danach von Barbara Mundel?
Ich glaube, der Energiepol zwischen die-
sen beiden Häusern über die Straße hin-
weg ist für München ganz wichtig. Das ist
ja wie eine Spule in einem Elektromotor.
Daher muss man nach außen hin klar ma-
chen, dass diese beiden Theater für andere
Dinge stehen. Dass drüben etwas anderes
passiert als hüben. Ich glaube an Drama-
tik. An Dramatik als Kunstform – und dass
Schreibweisen Spielweisen beeinflussen
und umgekehrt.

Das unterscheidet Sie sehr von Lilienthal.
Ist doch gut, wenn jemand sagt, er habe ei-
nen ganz anderen Autorenbegriff. Ich
schätze Matthias Lilienthal, wir waren heu-
te Morgen Kaffee trinken. Was mir aller-
dings widerstrebt, ist, zu behaupten, so
oder so habe Theater heute zu sein. Da ist
mir die Diskussion zu dogmatisch. Es geht
hier nicht um eine Evolution, in der die
Schauspielkunst überwunden wäre, weil
nun neue Ausdrucksregeln gälten. Theater
hat heute viele Formen und Zugänge, es
gibt keine Konventionen mehr. Wichtig ist,
dass es am Abend überzeugt.

DasResihat,wievieleTheater,einÜberal-
terungsproblem im Publikum. Es gilt, das
Hauszu öffnenfürjüngere Zuschauer und
auch andere Publikumsschichten.
Ich war in Basel auch Opernintendant. In
der Oper sagt man schon seit 30 Jahren, sie
sei überaltert, ihr sterbe das Publikum
weg. Wäre dem so, wäre die Oper längst tot.
Es gibt Kunstformen und Institutionen,
die man mit einem bestimmten Alter auf-
sucht. Das Residenztheater zu einem Ort
zu machen, der auch für junge Menschen
attraktiv ist, ist eine Aufgabe, richtig. Aber
mich treibt nicht die Angst um, dass dieses
Haus kein Publikum fände.

Beim Casten eines Ensembles achten heu-
te alle auf Diversität und möglichst auch
einen Ausgleich zwischen Männern und
Frauen. Das Gebot der Stunde, oder?
Ich habe schon immer gleich viel Frauen
und Männer engagiert. Insgesamt hatte
ich meistens sogar mehr Frauen im Team.

Natürlich versucht man, mit einem Ensem-
ble Gesellschaft abzubilden. Problema-
tisch wird es, wenn man es zu gut meint.
Das kann zu einer Form von Exotizismus
führen, die ich schwierig finde. Es müssen
auf eine r Bühne alle gleich gut sein und für
eine bestimmte Qualität einstehen. Das Re-
sidenztheater ist eines der Top-Five-Thea-
ter, da erwartet man das auch. Es nutzt nie-
mandem, wenn ich jemanden gut meinend
verheize. Als Intendant habe ich eine Ver-
antwortung. Die fängt da an.

Ist es von Vorteil, dass Sie kein Regisseur
sind?EsistjaimmerdieFrage:Künstlerin-
tendant oder Managerintendant.
Also „Managerintendant“ weise ich für
mich zurück! Ich bin Dramaturg. Ein Dra-
maturgenintendant von mir aus. Ich mana-
ge nicht das Theater, sondern ich denke es.
Ich denke es im Hier und Jetzt. Das Modell
des inszenierenden Intendanten hat frü-
her noch mehr Sinn gemacht, weil jeder an
seinem Ort war und diesen mit seinem Stil
prägte. Und wenn man etwas von Herrn
Stein, Herrn Peymann oder Zadek sehen
wollte, musste man hinfahren. Und einmal
im Jahr, juhu, kamen alle nach Berlin zum
Theatertreffen, zum großen „Reichstag“

der Kurfürsten. Heute wollen die meisten
Regisseure gar nicht mehr Intendanten
werden, weil sie auf möglichst vielen „Guts-
höfen“ inszenieren wollen. Das einzig Be-
ständige in diesem Hin und Her ist die Dra-
maturgie. Die Dramaturgen bleiben als
Produzenten vor Ort. Da ist es nur konse-
quent, dass ein Dramaturg Intendant ist.

Gibt jemanden, der Sie geprägt hat?
Ich habe von allen Intendanten gelernt, bei
denen ich gearbeitet habe. Einer der klügs-
ten war sicher Nikolaus Bachler. Den fand
ich nicht nur mit allen Wassern gewa-
schen, sondern immer wieder überra-
schend, auch in seiner Hinwendung zu Din-
gen, die ihm nicht gefallen haben. Wo man
genau wusste: Mögen tut er das jetzt nicht,
aber er sieht die Notwendigkeit, das zu ma-
chen und unterstützt die Sache. Das ist
wichtig. Man darf nie als Intendant nur das
produzieren, was einem gefällt.

Wie führt man ein neues Ensemble von 50
Leuten zusammen? Gibt’s da Coachings?
Die machen das schon selber ganz gut mit-
einander. Die treffen und besprechen sich
und wollen im Marstall eine Bar aufma-
chen. Eine von Schauspielern betriebene
Bar, wie in Basel. Für mich war das immer
ein Guerilla-Ort, wo ich nicht hingegangen
bin. Oder wenn, nur ganz kurz. Ich finde es
gut, wenn es einen Ort gibt, wo ich nicht ge-
nau weiß, was da passiert.

Worauf freuen Sie sich am meisten?
Ich freu mich jetzt erst mal, dass es losgeht.
Wir haben so lange auf diesen Tag hingear-
beitet und hoffen, dass wir den richtigen
Ausdruck finden. Und wenn nicht sofort,
dann nach und nach. Ich bin da inzwischen
ein bisschen cooler. Das Tolle ist, dass hier
richtig viele Könner am Start sind, auf die
man sich verlassen kann. Trotzdem muss
das unbekannte Dritte dazukommen. Wie
meine Mutter immer so schön sagt: Du
kannst zehnmal den selben Kuchen ba-
cken, er schmeckt jedes Mal anders.

„Die Absage von Simon Stone
ist einfach nur
ein Haufen Scheiße.“

„Man braucht
eine Komplizenschaft
im Publikum.“

„Man darf nie als Intendant
nur das produzieren,
was einem gefällt.“

Bloß nicht zu viel Nähe und vor allem keine
Sentimentalität, schien sich Lutz Seiler ge-
sagt zu haben, als er beim Empfang in der
Frankfurter Villa des Suhrkamp-Verlages
aus dem Manuskript zu seinem nächsten
Roman „Stern 111“ las. Der 1963 im thürin-
gischen Gera geborene Schriftsteller hatte
dazu allen Grund. Denn der Stoff seines Ro-
mans ist das Leben ihm sehr naher Perso-
nen, das Leben seiner Eltern, die sich
gleich nach dem Mauerfall im November
1989 auf den Weg in den Westen aufmach-
ten, um ein neues Leben zu beginnen. Und
der Sohn, der davon berichtet, ist er selbst.
„Stern 111“ ist kein Kleinplanet in den
Galaxien des Westens, so hieß ein Koffer-
radio aus dem Stern-Radiowerk in Ostber-
lin. Und es passte gut in die auf der Buch-
messe allgegenwärtigen Rückblicke auf
das Jahr 1989, wenn Seiler auf den Arbeits-
platz seiner Mutter in der schon sehr spä-
ten DDR zurückblendete, wo im VEB Groß-
bäckerei die nicht mehr lieferbaren Zuta-
ten mit nicht nachlassender Energie durch
etwas anderes ersetzt werden, dem irgend-
wann neben dem Geschmack auch der Na-
me „Ersatz“ abhandenkommt, weil er näm-
lich durch „Austausch“ ersetzt wird.
Die Slapstick-Auftritte dieser Details
sind Teil einer ernsten, aber zugleich
grundkomischen Familienumkehrung.
Die Eltern, jahrzehntelang in der DDR von
unerschütterlicher Immobilität, verwan-
deln sich in atemberaubender Geschwin-
digkeit in Figuren der Flucht und Rastlosig-
keit, der Sohn rückt in die Position von El-
tern, deren Kinder das Haus verlassen.
Viel Beifall auf der Vorderbühne. Und
der Verleger Jonathan Landgrebe begrüß-
te die anwesende literarische Republik,
passend zu Seilers lakonischer Rhapsodie,
maximal nüchtern, und wünschte anstelle

von kunstreligiösen Erklärungen nur gut-
bürgerlich einen „schönen Abend“.
Aber was war auf der Hinterbühne los?
Immerhin ist Suhrkamp ja auch der Verlag
von Peter Handke, dem frisch gekürten
und sogleich hierzulande wie international
heftig attackierten Literaturnobelpreisträ-
ger. Demonstrative Gelassenheit im Hause
Suhrkamp auf der Vorderbühne, große
Freude, aber keine öffentliche Erklärung

dazu, auch wenn auf der Hinterbühne eine
Nebenhandlung stattfindet, auf der der
Verlag falschen Behauptungen entgegen-
treten will, die über seinen Autor kursie-
ren. Nach der 2018 erschienenen Gesamt-
ausgabe, die der Verlag jetzt natürlich stolz
nach vorne rückt, werden im kommenden
Frühjahr zwei weitere Bücher von Peter
Handke bei Suhrkamp erscheinen, im Fe-
bruar „Das zweite Schwert – Eine Maige-
schichte“, im Juni die Theaterszene
„Zdeněk Adamec“. Diese wird in Salzburg
uraufgeführt werden und handelt von ei-
nem jungen Mann, einem Selbstverbren-
ner im Prag des Jahres 2003, an den Hand-
ke bereits im Roman „Die Obstdiebin oder
Einfache Fahrt ins Landesinnere“ (2017)
erinnerte.jsl, lmue  Seite 14

DEFGH Nr. 241, Freitag, 18. Oktober 2019 11


Der Theaterdenker


„Man kann nicht jeden Tag die Kuh fliegen lassen“: Andreas Beck, der neue Chef des Münchner


Residenztheaters, glaubt an Dramatik als Kunstform. Ein Gespräch zum Beginn seiner Intendanz


Demonstrativ gelassen


Empfang bei Suhrkamp, dem Verlag Peter Handkes


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„Theater ist lokal“: Resi-Intendant Andreas Beck. FOTO: LUCIA HUNZIKER

Beifall für eine Familienumkehrung – der Schriftsteller Lutz Seiler (links) beim Suhrkamp-Empfang in Frankfurt. FOTO: REGINA SCHMEKEN

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