Süddeutsche Zeitung - 18.10.2019

(Jacob Rumans) #1
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über http://www.sz-content.de

Der Sognefjord ist der längste und tiefste
Fjord Europas. An seinem nordöstlichen
Ende liegt das Dörfchen Skjolden. Hinter
dem Ende des Fjords kommt dann noch
ein See, der Eidsvatnet. Und am Ende die-
ses Sees liegt Kleinösterreich.
Lille Østerrike,so nannten dieBewohner
von Skjolden die Hütte, die der seltsame
Wiener hier 1914 hatte errichten lassen,
der im Herbst zuvor erstmals aufgetaucht
war und die Einheimischen fragte, wo es
denn bitte am allerstillsten sei. Sie zeigten
ihmeinHochplateau–erdrehtesofortum,
weil er Fußspuren entdeckte. Ein anderer
Ortschiedaus,weil inderNäheeineZiegen-
herde graste. Dann fand er selbst den Fels-
vorsprung hoch über dem See. Kein Weg.
NurdasRauschendesWasserfalls.Undum
nach Skjolden zu kommen, musste man
mit dem Ruderboot den gletscherblauen
Eidsvatnet überqueren. Perfekt.
Zehn Monate zuvor, im Oktober 1913,
war Ludwig Wittgenstein in Bertrand Rus-
sells Büro in Cambridge aufgetaucht, um
ihm zu eröffnen, dass er sich nach Norwe-
gen zurückzuziehen wolle, bis er alle Pro-
bleme der Logik ein für alle Mal gelöst ha-
be. „Ich sagte ihm, da oben sei es dunkel“,
schriebRussellaneineFreundin,„daerwi-
derte er, er hasse Tageslicht. Ich sagte, es
werde sehr einsam sein, aber er meinte,
mit intelligenten Menschen zu reden hei-
ße, seine Seele zu verkaufen. Ich sagte, er

sei verrückt, er sagte, Gott möge ihn davor
schützen, normal zu sein (ich bin mir si-
cher, sein Gebet wird erhört werden).“
Wittgenstein war damals 24, Russells
Meisterschüler, er arbeitete an genau den
Problemen,dieerspäterim Tractatuslogi-
co-philosophicusdingfestzumachenhoff-
te: Was können wir sagen und wissen? Wie
können wir die Fallen, die uns die Sprache
stellt, umgehen? Um tiefer ins philosophi-
sche Unterholz eindringen zu können, ließ
er sich hier sein Haus nach eigenen Plänen
errichten: sieben mal acht Meter, Blick auf
den See und die steil aufragenden Berge,
drei kleine Räume, ein Balkon (sehr unty-
pisch für Norwegen), alles aus Holz, auf
einem Steinfundament.

Fünfmal kam Wittgenstein im Verlauf
seines Lebens hierher, 1936/37 sogar für
ein knappes Jahr, damals hatte er Notizen
dabei, aus denen später die „Philosophi-
schen Untersuchungen“ werden sollten.
Bei jedem seiner Aufenthalte schwärmte
er in Briefen davon, wie gut ihm diese Um-
gebung tue, ja er ist überzeugt davon, dass
er hier mehrfach „neue Denkbewegun-
gen“ gefunden habe.

Es gibt natürlich viele Anekdoten dar-
über, wie eisern Wittgenstein hier seine
Einsamkeit und Stille verteidigt hat, ein-
mal soll er den Postboten angeschrien ha-
ben, sein Klopfen habe Tage, wenn nicht
Monate des Nachdenkens zunichte ge-
macht. Andererseits hatte Wittgenstein
das Haus auch deshalb bauen lassen, da-
mit er Freunde empfangen konnte.
Auf der Buchmesse in Frankfurt, genau-
ergesagtimPavillondesdiesjährigenGast-
landes Norwegen, kann man zwar nichts
von diesem Haus sehen, aber da steht im-
merhin ein Ruderboot, na ja, früher war es
malein Boot. Die Überreste wurden vor ein
paarJahrenausdemEidsvatnet-Seegebor-
gen und sollten angeblich bei einem Sonn-
wendfeuerverbranntwerden.DieKünstle-
rinMarianneHeskehatdieTrümmergeret-
tet und sagt, es könne doch theoretisch
sein,dassdiesWittgensteinsBootsei.Wes-
halb das Ganze in ihren Augen ein Symbol
darstellt, nämlich für „Denkbewegungen“
und für das „Unterwegssein“. Und man
fragt sich still und leise, ist das jetzt clever,
Kitsch oder doch so etwas wie Kunst?
Nach Wittgensteins Tod im Jahre 1951
wurde sein Haus zunächst abgebaut und,
in hässlich modernisierter Form (Eternit!),
im Dorf wieder errichtet. Dann wurden die
Überreste in einer Garage eingelagert. Bis
Harald Vatne, ein pensionierter Lehrer aus
Skjolden, einen Verein gründete, der es

sich zur Aufgabe machte, an Wittgensteins
Zeit hier am Fjord zu erinnern. Der Verein
hatdasHaus nunoriginalgetreu anseinem
ursprünglichen Ort, 30 Meter über dem
See, wieder aufgebaut. Im Juni wurde es
eröffnet.EssollStudiengruppenundPhilo-
sophen für Aufenthalte zur Verfügung ge-
stellt werden.
Der wichtigere norwegische Ort für alle,
die an Wittgensteins Werk interessiert
sind, liegt allerdings 200 Kilometer weiter
südlich, ist völlig unscheinbar, aber dafür
für jeden digital erreichbar: In der Stadt
Bergen, wo Wittgenstein auf seinen Reisen
in die Skjoldener Stille das Schiff wechseln
musste, ist im obersten Stock der
philosophischen Fakultät das Wittgen-
stein Arkivet untergebracht, das seit 1990
daran arbeitet, alle Texte des Philosophen
online verfügbar zu machen
(http://wab.uib.no).
Diese Seite wurde von dem Südtiroler
Philosophen Alois Pichler ins Leben geru-
fen. Man kann darauf die Transkripte aus
Wittgensteins Nachlass durchstöbern so-
wie unter anderem die Cambridger Mit-
schriftenseinesFreundesG.E.Moore,dem
er 1936 in einem Brief aus Skjolden
schrieb: „Ich kann mir nicht vorstellen,
dassichanirgendeinemanderen Ortsoar-
beiten könnte wie hier. Es sind die Stille
unddiewunderschöneUmgebung;ichmei-
ne, ihr stiller Ernst.“ alex rühle

Es ging um ganze zwei Wörter. Von denen
eines nicht gesagt werden sollte, sondern
ersetzt wurde durch „N-Wort“. Das andere
war das englische Wort „race“. Trotzdem
wurde daoffenbarkeinabseitigesProblem
besprochen:EingroßesPublikumsammel-
te sich auf der Messe zu einer Podiumsdis-
kussion darüber, wie man in der Literatur
mit solchen Begriffen umgeht: „Wie poli-
tisch korrekt sind Übersetzungen?“
Die Antwort in einem Satz: Das ist im-
mer eine Frage des Kontextes. Das klingt
nichtüberraschend,erklärt abervielleicht,
warum nur Übersetzer anglo-amerikani-
scher Literatur an der Diskussion teilnah-
men. Je unterschiedlicher die kulturellen
Zusammenhänge werden, in denen Texte
stehen, desto schwerer kommt man auf ei-
nenNenner.DieBemerkungderKulturwis-
senschaftlerin Mithu Sanyal, die neben
dreibedeutendenÜbersetzernaufdempo-
dium saß, Sprache sei nun einmal immer
im Wandel und gerade diese Beweglichkeit
seiihrReiz,bezeichneteIngo Herzke,Über-
setzer und Moderator der Veranstaltung,
als wenig praxistauglich. Etwas muss ja
am Ende auf dem Papier stehen, etwa für
die unterschiedlichen Begriffe, die es im
Amerikanischen für Schwarze gibt.
DamithatsichMiriamMandelkowbeiih-
rer jüngsten Übersetzung von James Bald-
wins „The FireNext Time“ beschäftigt. Für
das Wort „negroe“, das Baldwin verwen-
det, sei die deutsche Entsprechung nie
wirklich tauglich gewesen. Die Geschichte
der Gewalt gegen Schwarze, aber auch des
Widerstandes dagegen, die es im Engli-
schen konnotiert, schwingen im Deut-
schen nicht mit: „Auf Englisch ist es eine
Selbstbezeichnung,aufDeutschwaresim-
mer nur die Fremdbeschreibung.“ Wie im
mündlichen Gespräch sei in der Überset-
zung die Frage: Wer spricht?

Ausschlaggebend sei, wieBaldwin selbst
sich in den Sechzigerjahren genannt hätte.
Sie habe schließlich sowohl für „negroe“
als auch für „black“ das Wort „Schwarzer“
benutzt. Außer wenn ein abwertendes
Wort die Deformation der Weißen zeigen
sollte, die ihn benutzten, sei es stehen ge-
blieben: „Man muss den Feind nennen.“
Am Originalzusammenhang hielt der
Übersetzer Andreas Nohlnoch stärker fest.
In seiner Übertragung von Mark Twains
„Huckleberry Finn“ gibt es die Figur Nig-
gerJimnochunterdiesemNamen,derheu-
te als verletzend empfunden wird. Das
BuchseischonbeiseinemErscheinenpoli-
tisch äußerst inkorrekt gewesen. Es habe
dokumentarischen Charakter, im Beina-
menvonHuckFinnsbestem Freundlagere
sichdasUnrechtgegendieschwarzenSkla-
ven ab, das die Geschichte ja auch verhan-
delt. Gerechtigkeit lasse er aber zum Bei-
spielFigurenwiderfahren,derenMargina-
lisierung sich in früheren Übersetzungen
in einer fehlerhaften Sprache niederge-
schlagen habe: „Das ist die Chance von
Neuübersetzungen: Auf dem Papier den
LeutendieWürdezurückgebenzukönnen,
damit sie sprechen wie Menschen.“
Natürlich sei es illusorisch, „die richtige
Sprache“ verwenden zu wollen, sagte Mit-
hu Sanyal dazu, aber man könne sie eben
doch verändern. Nicht rückwirkend, ent-
gegnete Nohl: „Wenn wir uns nur auf die
Seite der Guten und Gerechten stellen und
das, was davor lag, sprachlich nicht ernst
nehmen, machen wir uns gefühlsärmer,
empfindungsärmer und gedankenärmer.“
In deutscher Literatur komme das N-Wort
seltenvor,bei Schillerund Kleistetwa,und
werde dort nicht in einem rassistischen
Sinngebraucht.Dassdasmöglichsei,woll-
te Mithu Sanyal aber nicht gelten lassen.
Im Grunde war man sich zwar einig auf
diesem Podium: Größtmögliche Rücksicht
musssein.Nurwiemansiewaltenlässt,da-
zu gibt es widerstreitende Haltungen. Die
historisch-positivistische will die Dinge
so, wie sie waren, stehen lassen, sie nicht
im Sinne der Nachwelt interpretieren. Da-
gegen steht die idealistische Vorstellung,
dass Menschen sich immer weiter verbes-
sernundverfeinern unddeshalbauchanal-
te Texte neue Maßstäbe anlegen dürfen.
marie schmidt

von gustav seibt

N


ach dem Ende des Zweiten Welt-
kriegs wurden überall in Osteuropa
diedeutschsprachigenBevölkerun-
gen, die dort oft seit dem späten Mittelal-
ter ansässig waren, bedrängt und vertrie-
ben, schließlich planmäßig ausgesiedelt,
wennsienicht vonselbst flohen.DieserRie-
senvorgang war vor allem am Beginn, un-
mittelbar bei Kriegsende, von zahllosen
Übergriffen, Menschenjagden, Internie-
rungen, Vergewaltigungen, wilden Mor-
den und planmäßigen Tötungen begleitet.
Die osteuropäischen Deutschen muss-
ten nun unterschiedslos für die Exzesse
der Nationalsozialisten, die Herrenmen-
schen- und Vernichtungspolitik von SS
und Wehrmacht büßen. Es traf alle: Täter,
Kollaborateure und Profiteure der Deut-
schen, aber auch Kinder und Alte, zahllose
unschuldige Menschen.

Diese gewaltige ethnische Flurbereini-
gung beendete im großen Bogen zwischen
Ostsee und Balkan ein jahrhundertelanges
Zusammenwohnen von Deutschen mit
den slawischen Bevölkerungen der Polen,
Tschechen,Slowaken,SlowenenundKroa-
ten. Zu ihrem Ende gelangten dabei auch
sogenannte Volkstumskämpfe, die sich
erst im Zeitalter des Nationalismus, seit
dem Ende des 19. Jahrhunderts vor allem
im Habsburgerreich entsponnen hatten
undzusammenmiteinemrabiatenAntise-
mitismus dessen letzte Jahrzehnte vergif-
teten. Martin Pollack, 1944 in Bad Hall in
Oberösterreich geboren, Journalist und

Dokumentarerzähler, hat nun ein Einzel-
schicksal aus dieser größeren Geschichte
recherchiert, und wieder ging er dabei zu-
rück in die eigene Familiengeschichte.
Schon im Jahr 2004 hatte er in dem
Bericht„DerToteimBunker“dieGeschich-
te seines eigenen, 1947 zu Tode gekomme-
nen Vaters, der als Mitglied der Gestapo
ein Kriegsverbrecher gewesen war, erkun-
det. Daran schließt nun „Die Frau ohne
Grab“ an. Dieser „Bericht über meine Tan-
te“ erzählt die Geschichte einer Schwester
von Pollacks Großvater. Pauline Bast, so
ihrMädchenname, lebte von1875 bis1945.
Als Siebzigjährige kam sie in einem auf ei-
ner Burg eingerichteten Gefangenenlager
slowenischer Partisanen unweit ihrer Hei-
matstadt Tüffer, slowenisch Laško, zu To-
de und wurde, soweit man weiß – aber ge-
nau weiß man es nicht – in einem Massen-
grab verscharrt.
Laško liegt in der einst sogenannten
Untersteiermark, einem Teil der österrei-
chischenErblande,der1919durchdenVer-
sailler Vertrag im Zeichen des Selbstbe-
stimmungsrechts der Völker an das neue
KönigreichderSlowenen,KroatenundSer-
ben kam, zum späteren Jugoslawien also.
In diesem Tüffer-Laško lebte eine klein-
städtische deutsch-slowenische Mittel-
schichtinmitteneinerüberwiegendslowe-
nischen Landbevölkerung.
Paulines Vaters, Pollacks Urgroßvater,
ein Lederfabrikant, war aus dem Rhein-

land eingewandert und hatte sich bald im
ersten Haus am Hauptplatz wohlhäbig-
sichtbar niedergelassen. Seine Tochter,
Pollacks Großtante, lebte bis zu ihrem Tod
in ihrem Vaterhaus. Spät, als Fünfzigjähri-
ge, heiratete sie einen slowenischen Mit-
bürger,denOrganistenundHostienbäcker
der örtlichen Gemeinde.

IhrLebenverliefunauffällig.Ausdenwe-
nigen Überlieferungen seiner Familie
zeichnet Pollack das Bild einer zurückhal-
tenden, stillen, womöglich etwas men-
schenscheuen Kleinstadtdame, geachtet,
ja beliebt, eine sanftmütige Frau, die sich
auspolitischenFragenheraushielt.Sieteil-
te offensichtlich nicht den rabiaten deut-
schen Volkstumsnationalismus, dem ihre
gesamte Verwandtschaft, vor allem ihre
vier Brüder,anhing. DietodbringendeVer-
schleppung traf eine Unschuldige.

SiebüßtefürIdeologienundUntatenan-
derer, nicht zuletzt ihrer eigenen Familie.
Martin Pollack zeichnet beklemmend und
präziseeinedurchvölkischeundantisemi-
tische Vorstellungen geprägte Bildungs-
welt nach, die alle Niederlagen – erst die
von 1918 und dann die von 1945 – überleb-
te. Einer von Pollacks Onkeln, ein Bruder
vonPauline,ließ sichnoch 1977die„Proto-
kolle der Weisen von Zion“ kommen.
Schon vor dem Zweiten Weltkrieg war die
Familie, deren Männer meist denNotarbe-
ruf ausübten, großenteils nach Österreich
übergesiedelt,sogarihrenBesitzhattensie
bewahren können. Bis an ihr Lebensende
bliebenPaulinesBrüderüberzeugte Natio-
nalsozialisten.
Warum ließ sich Pauline nicht anste-
cken? Pollacks plausible Vermutung ist:
Siestudiertenicht.Dieantisemitisch-völki-
sche Imprägnierung der Brüder fand an
derUniversitätstatt,vorallemineinerBur-
schenschaft, die den Lehren des fanati-
schenAntisemitenRitter vonSchönereran-
hing. Das völkische Denken war ein Bil-
dungsphänomen, zugleich stabilisierte es
sichinburschenschaftlichenKarrierenetz-
werken, die die Männer bis an ihr Lebens-
ende trugen.
Der akademische Nationalismus und
Antisemitismusverbandsichmitdenloka-
len Gegebenheiten in der Südsteiermark,
wo eine privilegierte, wohlhabende deut-
sche Oberschicht auf die slowenische Be-

völkerung herabsah. Wie sich das dreimal
umdrehte, erst im Jahr 1919, dann wieder
1941 und 1945, am Ende des Zweiten Welt-
krieges,spiegeltsichindemkleinenMehr-
generationenroman, den Pollack Stück für
Stück entfaltet. Er zitiert aus alten Zeitun-
gen und Briefen, er zeigt Familienfotos
und lässt Zeugen zu Wort kommen.
Der Rassenwahn als Bildungsphänomen
findet sein überraschendes Gegenbild in
demUmstand,dassauchinPaulinesFami-
lie Eheschließungen nicht nur mit Slowe-
nen, sondern sogar mit einem Juden mög-
lich waren. Ein aus einer solchen Ehe ent-
sprungener Neffe hätte eigentlich als
„Mischling“ gelten müssen, allein er war

Teil der Familie, und sein Halbjudentum
spielte gar keine Rolle. Die Ideologie war
ein Phantasma, ein zweifellos bösartiges,
aberes konnteimEinzelfall einfachausge-
knipst werden. Der mörderische Irrsinn
war wirklichnureinIrrsinn,wennauch ein
höchst wirkmächtiger.
Die stille und etwas rätselhafte Frau oh-
ne Grab, von der nur so wenig bekannt ist,
blieb unberührt vom Wahn ihrer Zeit, ihrer
UmgebungundihrerBrüder.Späterwurde
nie mehr von Tante Pauline gesprochen,
berichtet Pollack, sie blieb im Familienge-
dächtnis ohne Spur. Im Übrigen aber, au-
ßerhalb und mit ihrer Ideologie, war diese
Familie denkbar normal, ja so, dass Pol-
lack sie mit Erinnerungen an eine glückli-
che Kindheit verbindet.
Aus diesen Widersprüchen wird ein
nicht langes, aber großes, genaues, er-
schütterndes Buch.

Die Schwedische Akademie hat ihre Ent-
scheidung verteidigt, den Literaturnobel-
preis an Peter Handke zu verleihen. „Die
Schwedische Akademie hatte natürlich
nicht die Absicht, einen Kriegstreiber und
Leugner von Kriegsverbrechen oder Völ-
kermordauszuzeichnen“,schriebderStän-
dige Sekretär der Akademie, Mats Malm,
in derDonnerstagausgabeder ZeitungDa-
gens Nyheter.
In dem 1996 veröffentlichten Reisebe-
richt „Eine winterliche Reise zu den Flüs-
sen Donau, Save, Morawa und Drina oder
Gerechtigkeit für Serbien“ stelle Handke
„das Massaker in Srebrenica nicht in Fra-
ge“, erklärte Malm. Die Akademie habe
auch keine Belege dafür gefunden, dass
Handke mit der Teilnahme an der Beerdi-
gungdesjugoslawischenEx-DiktatorsSlo-
bodan Milošević dem Blutvergießen Tri-
but gezollt, ein Monster verehrt oder
Kriegsverbrechen geleugnet habe. dpa

Frankfurter BuchmesseDie Literatur als Echoraum der Geschichte, Norwegen als Utopie


Von Tante Pauline wurde
nie mehr gesprochen, sie blieb im
Familiengedächtnis ohne Spur

Kleinösterreich am Ende des Fjords


1914 ließ sich Ludwig Wittgenstein in Norwegeneine Hütte bauen. Seit Kurzem kann man sie wieder besuchen


Oben: Wittgenstein beim Rudern
in Skjolden. Unten: Marianne
Heskes Boot auf der Buchmesse.
FOTOS: ARVID SJÖRGEN, WITTGENSTEIN ARCHIVE,
CAMBRIDGE; DPA

Wer


spricht?


Übersetzer diskutierten über den
Umgang mit dem N-Wort

Akademie verteidigt


Nobelpreis für Handke


Martin Pollack:Die Frau
ohne Grab. Bericht über
meine Tante. Paul Zsolnay
Verlag, Wien 2019.
180 Seiten, 22 Euro.

Ohne Tränen forschend


Im steiermärkisch-slowenischen Grenzgebiet:


Martin Pollacks erschütternder Bericht über seine Großtante Pauline


In Wörtern und Namen ist
Geschichte abgelagert. Was bleibt
davon, wenn man sie aktualisiert?

Ein pensionierter Lehrer machte
es sich zur Aufgabe, am
Fjord an Wittgenstein zu erinnern

Pauline kam als Siebzigjährige
in einem Gefangenenlager
slowenischer Partisanen zu Tode

(^14) LITERATUR Freitag, 18. Oktober 2019, Nr. 241 DEFGH
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich an irgendeinem anderen Ort so arbeiten könnte wie hier.“ Wittgensteins Hütte, seit Juni rekonstruiert. FOTO: SJUR HAGA BRINGELAND
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über http://www.sz-content.de

Free download pdf