Süddeutsche Zeitung - 18.10.2019

(Jacob Rumans) #1
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voniramazzoni

E


in vergoldeter Rahmen in einem an-
sonsten leeren Ausstellungssaal: Pa-
thetischer lässt sich der Verlust ei-
nes Schlüsselwerks nicht inszenieren. Der
leere Rahmen, der bis 1937 Vincent van
Goghs Bildnis seines Arztes Dr. Gachet die
Würde eines Altmeisters gab, signalisiert
zugleich, dass alle Bemühungen um eine
Leihgabe des Bildes fehlschlugen.
Aber was heißt leer? In der Ausstellung
„Making van Gogh“ ist das 67 auf 57 Zenti-
meter messende Werk so präsent, dass sei-
ne von Legenden und Geschichten genähr-
te Aura den historischen Rahmen sprengt.
Jeder hat das Bild vor Augen – obwohl es
vor bald dreißig Jahren seinen letzten öf-
fentlichen Auftritt hatte. Letztlich ist der
leere Rahmen auch eine hübsche Parabel
über Wertschätzung, Werte und Derivate,
die leistungslos zur Geldvermehrung bei-
tragen – solange Zeit keine Rolle spielt.
Das Bildnis des nachdenklichen Dr. Ga-
chet ist nicht nur das letzte Portrait, das
der Heilung suchende Vincent van Gogh in
den arbeitsintensiven Monaten vor sei-
nem Suizid am 29. Juli 1890 malte, es gilt –
belegt durch Briefe des Malers – vielmehr
als „sinnbildliches Selbstportrait“. Mit die-
sem Nimbus verkaufte die Erbin Johanna
van Gogh-Bonger das Werk gegen Ende
des Jahres 1896 an den Pariser Kunsthänd-
ler Ambroise Vollard, der es ausstellte und
wenige Monate später an die junge, vermö-
gende dänische Künstlerin Alice Ruben Fa-
ber für 300 Franc verkaufte.
Eine private Fotografie lässt ahnen, wel-
che Bedeutung das Kunstwerk für die
Sammlerin hatte: Sie liegt matt lächelnd in
einem Bett, an dessen Kopfende Maurice
Denis’ Gemälde „Mutter und Kind mit Ap-
fel“ postiert ist. Dieses hatte ihr Mann Poul
William Kuhn Faber 1897 atelierfrisch
beim Künstler erworben. Zu ihrer Seite,
auf dem Nachttisch steht der noch unge-
rahmte Dr. Gachet als hielte er ihre Hand.
Das Foto inszeniert so eine verbindende, in
Paris ausgelebte Kunstliebe anlässlich der
Geburt von Fabers Sohn Frans. Lange
kann das Eheglück der Fabers aber nicht
gehalten haben. 1903 gab der mit Ruben-
Faber befreundete Maler Mogens Ballin
den Van Gogh bei dem Berliner Kunsthänd-
ler Paul Cassirer in Kommission, der sich
leidenschaftlich für die vitale Malerei des
Postimpressionisten stark machte. Auch
das Madonnenbild von Denis landete bei
Cassirer. Beide Werke wurden von dem
Avantgarde-Sammler und Kunstmäzen
Harry Graf Kessler erworben. Das Bildnis
des Dr. Gachet kostete zu diesem Zeit-
punkt bereits 1689 Reichsmark. Bald gab
der dynamisch sammelnde Graf das Spät-
werk van Goghs an den Pariser Kunsthänd-
ler Eugène Druet weiter. Nach einer Post-
impressionsten-Ausstellung in London
war das Porträt museumsreif.
In dem heute leeren, reich verzierten
Rahmen schickte Druet van Goghs letztes
Bildnis am 20. Februar 1911 nach Frank-
furt am Main. Städeldirektor Georg Swar-
zenski machte das Porträt zum Herzstück
der gerade im Aufbau befindlichen Städti-
schen Galerie für moderne Kunst, die er
gleichfalls betreute. Die Anschaffung war

ein politisches Statement: gegen national-
gesinnte Kreise, die sich gegen alles Fran-
zösische wandten; gegen alle Traditionalis-
ten, die nur altmeisterliche Maltechnik
und Naturalismus gelten lassen wollten
und gegen all die, die von van Goghs Wer-
ken profitierten. Ohne das private Engage-
ment von Viktor Mössinger, Stadtrat und
Vorsitzender des Städelschen Museums-
Vereins, wäre die Anschaffung Utopie ge-
blieben. In Raten zahlte Mössinger die von
Druet verlangte Summe von 20 000 Franc
und schenkte das Werk der Stadt.
In dem Museum, das den Charakter ei-
ner weltläufigen Privatsammlung haben
sollte, erwies sich das Bildnis als schwie-
riges Exponat. Dreimal wurde es umge-
hängt. Zuletzt – ab 1931 – war das Schlüs-
selwerk bei den Expressionisten zu fin-
den. Bis die Nationalsozialisten die Macht
ergriffen. Schnell musste Swarzenski
seinen Posten als Generaldirektor der
städtischen Museen räumen und sich für
seine Ankaufspolitik vor einem Untersu-
chungsausschuss verantworten. Zwei Jah-
re später, im November 1935, forderte die
Reichskanzlei dringlich die Herausgabe

des Dr. Gachet, um ihn in der Schweiz zu
verkaufen. Alfred Wolters, Swarzenskis
Nachfolger im städtischen Museumsamt,
widersetzte sich und fand beim Kulturre-
ferenten wie beim Bürgermeister Unter-
stützung: Das Bild sei eine Bürgerstif-
tung, die bedeutendste Schenkung seit
Gründung des Museums.
Indes liefen die ersten Femeausstellun-
gen zur „entarteten Kunst“. In drei Be-
schlagnahmungswellen wurde die städti-
sche Galerie ab 1936 unter dieser Maßgabe
geplündert. Nach den Expressionisten traf
es Ende 1937 auch „problematische Auslän-
der“: Munch, Gaugin, van Gogh. Der Muse-
umsmitarbeiter, der die Transportkiste
schloss, konnte die „vorwurfsvollen blau-
en Augen“ des Doktors Gachet nicht verges-
sen. Hermann Göring persönlich bemäch-
tigte sich des Bildes und verkaufte es 1938
über den Kunsthändler Sepp Angerer an
den Privat-Bankier Franz Koenigs in Ams-
terdam. Noch bis 1940 bemühte sich die
Witwe des einstigen Stifters Viktor Mössin-
ger, das Bild zurückzubekommen.
Das Werk hatte indes erneut den Besit-
zer gewechselt und befand sich bereits in
den USA. Siegfried Kramarsky von der
Bank Lisser&Rosenkranz, – ein Geschäfts-
partner von Koenigs – hatte den Dr. Gachet
über die Amsterdamer Galerie Cassirer,
die von Walter Feilchenfeld geführt wurde,

zu einer geplanten Van-Gogh-Ausstellung
in London und weiter nach New York ge-
schickt, bevor er selbst mit seiner Familie
emigrierte. In der privaten Kunstsamm-
lung der Kramarskys fand Dr. Gachet für
beinahe ein halbes Jahrhundert ein neues
Zuhause. Das Bild soll lange im Salon über
dem Kamin gehangen haben.
Fast genau 100 Jahre nach seiner Entste-
hung wurde das Bild das letzte Mal in der
Öffentlichkeit gesehen. Die Kramarsky-
Kinder hatten das für die Familie so zentra-
le Werk zunächst als Leihgabe an das Me-
tropolitan Museum gegeben, als ihre Mut-
ter hochbetagt schwer erkrankte. Vom
Auktionshaus Christie’s beraten entschlos-
sen sie sich 1990 zum Verkauf. Der Zeit-
punkt schien günstig: Japanische Interes-
senten trieben die Preise für van Gogh in
neue Rekordhöhen. Sohn Wynn Kramars-
ky verfolgte schon länger eigene Samm-
lungsinteressen, förderte Künstler und er-
öffnete nach der Auktion einen eigenen,
nicht kommerziellen Ausstellungsraum
am Broadway.
87 Millionen Dollar ließ sich der japani-
sche Papierfabrikant Saito Ryoei den unbe-
dingten Erwerb des Meisterwerks nach ei-
nem dramatischen Bietergefecht kosten.
Der neue Eigentümer verkündete, er wolle
das Bildnis mit ins Grab nehmen und ver-
schloss es in einem Tresor. Seitdem speist
eine exzellente Fotoreproduktion das kul-
turelle Gedächtnis der Menschheit genau-
so wie die Spekulation über das weitere
Schicksal des legendären Bildnisses.
Die Frankfurter Ausstellungsmacher
sind dem Porträt über Mittelsmänner nä-
her gekommen. Aber ein persönlicher Kon-
takt zu den heutigen Eigentümern kam
nicht zustande. Leihanfragen blieben unbe-
antwortet. In seinem für die Ausstellung
produzierten, hörenswerten Podcast „Fin-
ding van Gogh“ gelangt der Journalist Jo-
hannes Nichelmann bis zu dem unbekann-
ten Kunstsammler, der nicht nur dieses ei-
ne Werk von van Gogh sein eigen nennen
soll. Die Erben dieses italienischen Indus-
triellen sollen sich gerade über die Frage
„behalten oder verkaufen“ zerstritten ha-
ben. Auch der van Gogh-Kenner Stefan Kol-
dehoff hat seine langjährigen Recherchen
weitergeführt und ist an die gleiche Adres-
se des unlängst verstorbenen „Lugano-
Manns“ geraten (art 10/2019).
Der Kunsthandel – Sotheby’s war bei
den jüngsten Transaktionen nicht nur ver-
mittelnd, sondern auch kreditgebend und
zeitweise wohl auch als Eigentümer betei-
ligt – hofft auf eine Rückkehr des Dr. Ga-
chet. Eine neue Rekordsumme beim Ver-
kauf wäre aufgrund der Geschichte des Bil-
des und dem Verlangen der Superreichen
nach sicheren Anlagen wahrscheinlich. Ob
es dafür einer Bieterschlacht im Auktions-
haus bedarf, ist fraglich. Es könnte genau-
so gut sein, dass das Werk ein weiteres Mal
diskret und steuerfrei von einem Tresor-
raum eines Schweizer Zollfreilagers in den
nächsten wechselt, ohne dass die Öffent-
lichkeit davon etwas mitbekommt. Die Zei-
ten, in denen ein museales Bildnis wie das
von Dr. Gachet Teil des Lebens war, schei-
nen endgültig vorbei. Der leere Rahmen in
der Ausstellung Making van Gogh ist so
auch Sinnbild einer Sinnentleerung.

Hermann Göring
sicherte sich das Gemälde
und verkaufte es 1938

Die Irrfahrten


des Dr. Gachet


Von Dänemark nach


Paris über Frankfurt und New York


nach Nirgendwo: die Geschichte


eines Van Gogh


Nur kurze Zeit konnte
sich die dänische
Sammlerin Alice Ruben
Faber (1866 - 1939) das
„Bildnis des Dr. Gachet“
ans Bett stellen, flankiert von
Maurice Denis’ „Madonna
mit dem Apfel“ (oben links).
Das Bild blieb nicht lange
bei ihr: Es ging bald zurück
nach Paris. 1908 kaufte
es der Mäzen Viktor
Mössinger für die
Städtische Galerie
im Frankfurter Städel.
1937 beschlagnahmten
die Nazis das Bild.
Dem Städel blieben
der Rahmen und
die Radierung.
BILDER: BRIDGEMANIMAGES;
STÄDEL MUSEUM (2)

DEFGH Nr. 241, Freitag, 18. Oktober 2019 SZ SPEZIAL – VAN GOGH 19


FOTO VON IRVING PENN, LEE KRASNER, SPRINGS, NY, 1972 , © THE IRVING PENN FOUNDATION

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