Süddeutsche Zeitung - 18.10.2019

(Jacob Rumans) #1
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von cathrin kahlweit
und alexander mühlauer

M


ichael Gove, geboren in Aberdeen
unter dem Namen Graeme Logan
und als Baby von einer Familie in
Edinburgh adoptiert, hat einen sehr schi-
cken Titel. Er ist Chancellor of the Duchy of
Lancaster. Eigentlich wäre er in dieser
Funktion vor allem für die Verwaltung des
Herzogtums Lancaster zuständig, aber Bo-
ris Johnson gab ihm, weil das wohl nicht
abendfüllend war, als „Minister für Politik-
entwicklung“ zusätzlich den Auftrag, alles
für einen vertragslosen Austritt aus der
EU, also für No Deal vorzubereiten.
Gove war auch schon Bildungs- und Um-
weltminister, er war mal Johnsons Freund,
dann stand er mit ihm an der Spitze der
Leave-Kampagne, nach der Brexit-Abstim-
mung war er Johnsons Feind, jetzt reden
sie wieder miteinander. Der Premier hatte
Gove bei seinem Amtsantritt vor 86 Tagen
den neuen und wichtigen Job des No-Deal-
Kontrolleurs anvertraut, obwohl die bei-
den ein – gelinde gesagt – ambivalentes
Verhältnis haben. Aber er wusste, dass Go-
ve ein Profi ist. In der Rolle des Politprofis,
Referendums-Siegers, Chancellors of the
Duchy of Lancaster und Brexit-Deal-Befür-
worters stand also Michael Gove am Don-
nerstag in der Zentralen Lobby des West-
minster-Palasts. Er stand da, wo Touristen
staunen, Kameras stehen, Interviews ge-
führt werden und der Parlamentssprecher
bei seinem Einzug ins Unterhaus die Para-
de abnimmt. Und sprach amerikanisch.
Na ja, er tat zumindest so, als er kurz in
US-Slang verfiel: „That ain’t gonna hap-
pen. Ain’t gonna be a second referendum.“
Es war seine Antwort auf die Frage eines
Reporters, was passiere, wenn das Parla-
ment, das an diesem Samstag über den zwi-
schen London und Brüssel ausgehandel-
ten EU-Austrittsvertrag abstimmen soll,
die Ratifizierung des Deals vom Donners-
tag mit einer Bedingung verknüpfe – also:
Der Deal wird nur Realität, wenn die Briten
darüber bestimmen dürfen, ob sie diesen
Vertrag haben oder aber in der EU bleiben
wollen. Gove fügte dann noch sehr resolut
hinzu, dass das Parlament an diesem Sams-
tag nicht für ein zweites Referendum stim-
men werde. „Sie werden es nicht tun.“

Was ihn da so sicher macht, ist unklar.
Klar ist derzeit nur, dass die britische Re-
gierung und die Europäische Union sich
auf einen Vertrag geeinigt haben, für den
eine Mehrheit im britischen Parlament
aber mehr als unsicher ist. Die Opposition
hat direkt nach der Verkündung der fro-
hen Botschaft mitgeteilt, wie sie zu stim-
men gedenkt.
Labour wird Nein sagen und, so Partei-
chef Jeremy Corbyn, stattdessen eine zwei-
te Volksabstimmung zur Abstimmung stel-
len. Die Liberaldemokraten werden Nein
sagen, sie wollen in der EU bleiben. Die

Schotten von der SNP, die Waliser von
Plaid Cymru werden Nein sagen. Die DUP,
die nordirische Partei, auf deren zehn Stim-
men Johnson so gehofft hatte, wird nach
langen Verhandlungen und vielen Verspre-
chen aus der Downing Street Nein sagen.
Bleibt das Ja einiger Labour-Parlamentari-
er, überwiegend aus Wahlkreisen, die für
Leave gestimmt haben. Und von einem
Teil der 21 Tory-Abgeordneten, die vor we-
nigen Wochen aus der Fraktion geworfen
wurden. Einige haben die Partei gewech-
selt, einige sind Remainer. Aber einige hof-
fen auf die Wiederaufnahme in die konser-
vative Familie; sie dürften mit Ja stimmen.
Ob das reicht? Es wird sehr knapp werden.

Das, was in Großbritannien unter „Su-
per Saturday“ läuft, wird ein großer und
dramatischer Tag werden für das König-
reich. Nicht nur haben eine Handvoll Initia-
tiven und Organisationen, die gegen den
Brexit sind, wieder zu einer Großdemons-
tration aufgerufen. Sondern erst am Ende
des Tages wird das Land wissen, ob es in
eine neue Runde Brexit-Verhandlungen,
vielleicht in eine Verlängerung geht. Ob Un-
terhaus-Abgeordnete vor Gericht ziehen,
um Johnson zu zwingen, das Anti-No-Deal-
Gesetz einzuhalten. Oder ob Downing
Street es mit dem Vertrag ganz knapp über
die Linie schafft. Johnson gab sich in Brüs-
sel ganz siegessicher: Auf die Frage von
Chefunterhändler Michel Barnier, wie er
daheim für Zustimmung sorgen werde,
sagte er, das Parlament werde er schon
überzeugen. Seine Botschaft: Gebt mir den
Deal, lasst den Rest meine Sorge sein.
Solange aber keine Klarheit über den
Ausgang des Super Saturday besteht, mag
sich im Regierungsviertel keine Erleichte-
rung und schon gar keine Euphorie einstel-
len. Alles hängt am seidenen Faden.
Vor allem für die nordirische DUP birgt
der Deal, wie er jetzt auf dem Tisch liegt,
gleich mehrere Probleme. Da wäre vor al-
lem die Grundsatzfrage: Wird Nordirland
nach dem Brexit anders behandelt als der
Rest des Vereinigten Königreichs? Darauf
gibt es im Vertrag eine klare Antwort: Ja.
De jure bleibt Nordirland zwar Teil der bri-
tischen Zollunion, de facto muss es aber
die EU-Zollregeln anwenden. Alle Güter,
die in den nordirischen Häfen ankommen,
unterliegen erst einmal dem Brüsseler Zoll-
regime. Die DUP befürchtet, dass damit
ein massiver bürokratischer Aufwand auf
die nordirische Wirtschaft zukommt.
Denn im Streitfall müssten die Importeure
beweisen, ob eine Lieferung aus Großbri-
tannien in Nordirland bleibt. Wenn ja, wür-
den die britischen Zollregeln gelten. Wenn
die Waren nach Irland weitergingen, müss-
ten die EU-Vorschriften angewendet wer-
den.
Ähnliche Sorgen hat die DUP bei der
Mehrwertsteuerregelung. Johnson forder-
te bis zuletzt, dass nicht nur London künf-
tig frei entscheiden dürfe, für welche Pro-

dukte wie hohe Mehrwertsteuersätze gel-
ten. Auch Nordirland sollte ganz von den
Brüsseler Steuervorschriften befreit wer-
den. Doch das machte die EU nicht mit. Um
zu verstehen, warum die komplizierten
Mehrwertsteuerregeln in London starke
Emotionen wecken, muss man an den
Wahlkampf vor dem Brexit-Referendum
erinnern. Für die Leave-Kampagne war
die Brüsseler Tampon-Steuer ein Symbol
für die EU-Bürokratie, die man loswerden
wollte. Dass die EU auf Hygieneartikel für
Frauen einen Mindeststeuersatz von fünf
Prozent verfügt hat, galt den Brexiteers als
Beispiel, wie stark Brüssel die nationale
Souveränität beschneidet. Nun fürchtet
die DUP, dass Nordirland sich teilweise wei-

ter an EU-Steuersätze halten muss, was
den dortigen Unternehmern wiederum
allerlei Papierkram bescheren könnte.
Und wären die komplizierten Zoll- und
Steuerfragen nicht schon genug, sieht die
DUP auch noch die Vereinbarung über das
Mitspracherecht Nordirlands äußerst kri-
tisch. Ursprünglich wollte Johnson das
durchsetzen, was DUP-Chefin Arlene Fos-
ter gefordert hatte: Die nordirische Regie-
rung sollte künftig mit darüber befinden,
ob die Provinz sich weiter an die Zollregeln
und Standards des EU-Binnenmarkts hält
oder nicht. Damit hätte die DUP de facto
ein Vetorecht gehabt. Mit dem nun vorlie-
genden Vertrag hätte sie dieses nicht.
Denn künftig bräuchte es einen Mehrheits-

beschluss des Regionalparlaments in Bel-
fast, um die im Austrittsabkommen verein-
barten Zoll- und Steuerregeln zu kippen.
Da aber die DUP im Stormont über keine
absolute Mehrheit verfügt – und auch kei-
ne Aussicht darauf hat –, dürfte sich der
nun festgeschriebene Status Nordirlands
auf absehbare Zeit nicht verändern.
Im Kern ist das auch der Unterschied zu
dem Deal, den Johnsons Vorgängerin The-
resa May vereinbart hatte: Die künftige
Dreiecksbeziehung zwischen Nordirland,
Großbritannien und der EU (inklusive Ir-
land) ist damit klar geregelt. Einen Back-
stop, eine Notfalllösung, falls es niemals zu
einem Vertrag zwischen Brüssel und Lon-
don käme, braucht es damit nicht mehr.

Michel Barnier ist spät dran und bittet da-
her um Verzeihung. „Geduld ist eine Tu-
gend, und Brexit ist eine Schule der Ge-
duld“, sagt der Chefunterhändler der EU zu
Beginn der Pressekonferenz. Aber was
sind schon 20 Minuten, wenn es endlich
einen Deal mit der britischen Regierung
gibt? Nach Tagen intensiver Verhandlun-
gen, denen in Brüssel Wochen und Monate
der ungläubigen Beobachtung der Wirren
der britischen Politik vorangingen, haben
sich die Expertenteams geeinigt. Drei Stun-
den vor Beginn des EU-Gipfels ist der
Rechtstext veröffentlicht, und Barnier er-
klärt die wichtigsten Punkte.
„Rechtssicherheit“ für Bürger und Fir-
men liefere die nun gefundene Lösung,
sagt der 68 Jahre alte Franzose und betont
mehrmals, die EU-27 und das Vereinigte
Königreich hätten dies „gemeinsam“ ge-
schafft. Der Diplomat wechselt ins Engli-
sche, als er über den Teil des Austrittsver-
trags spricht, der neu geschrieben werden
musste: das „Protokoll über Irland/Nordir-
land“. Die Ziele sind erreicht: Es gibt keine
harte Grenze, die das EU-Mitglied Irland
vom britischen Nordirland trennt, der Bin-
nenmarkt bleibt intakt und die Stabilität in
der einstigen Bürgerkriegsregion gewahrt.
Die Debatte sei oft um technische Fragen
gekreist, sagt Barnier, doch ihm sei immer
klar gewesen: „Die Leute sind am wichtigs-
ten. Was wirklich zählt, ist der Frieden.”
Ähnlich erleichtert zeigt sich am Nach-
mittag Jean-Claude Juncker, der an der Sei-
te des britischen Premiers Boris Johnson
verkündet: „Bei dem Deal geht es nicht um
uns, sondern um die Menschen und den
Frieden.“ Bevor der Kommissionschef zum
EU-Gipfel aufbricht, der um 15.55 Uhr be-

gann, präsentiert er sich mit „meinem
Freund Boris“ vor den Kameras. Er verkün-
det, dass in seinen Augen keine Verschie-
bung des Austrittsdatums 31. Oktober nö-
tig sei. Davor müssten alle nötigen Texte in
23 Sprachen übersetzt werden und das EU-
Parlament müsste rechtzeitig zustimmen.
Juncker betont, das die EU-27 nach einer
Einigung „ohne Unterbrechung“ über das
künftige Verhältnis verhandeln wolle.
Johnson nennt den Deal „fair und vernünf-
tig“ und wechselt in den Wahlkampfmo-
dus: Das Vereinigte Königreich als Ganzes
könne künftig über seine Zukunft entschei-
den. Über die Zeit nach dem Brexit äußert
sich Johnson konziliant: Großbritannien
bleibe proeuropäisch, und er freue sich auf
die Zusammenarbeit.

Um eine Einigung zu ermöglichen, war
Johnson der EU beim Themalevel playing
fieldentgegengekommen. Diesen fairen
Spielregeln für die Wirtschaft widmet sich
der lange Absatz Nummer 77 im neu vorge-
legten Entwurf der politischen Erklärung.
Johnsons Vorgängerin Theresa May hatte
versprochen, dass sich das Königreich bei
Regeln zum Verbraucher-, Umwelt- und Ar-
beitnehmerschutz sowie zu Subventionen
weiter eng an der EU orientieren werde. Ei-
nen Unterbietungswettlauf, um Konzerne
mit geringerem Schutzniveau anzuziehen,
sollte es nicht geben. Johnson hingegen ist
es wichtig, nach dem Brexit und der Über-
gangsphase eigene Standards setzen zu

dürfen. Bundeskanzlerin Angela Merkel
warnte jüngst, Großbritannien könnte zu
einem „Wettbewerber“ in direkter Nach-
barschaft zur EU werden.
Nun konnte Barnier aber Johnson zu
einer Verpflichtung auf hohe Standards be-
wegen. Die Passage der politischen Erklä-
rung gibt als Ziel „offenen und fairen Wett-
bewerb“ vor und „robuste Verpflichtun-
gen, die einlevel playing fieldgarantieren“.
Beide Seiten sollten hohe Standards und
eine faire Besteuerung beibehalten. Die

Details und der Grad der Übereinstim-
mung sollen demnach davon abhängen,
wie umfassend und ehrgeizig das künftige
Handelsabkommen ausfällt.
Diesen Freihandelsvertrag wollen Brüs-
sel und London während der Übergangs-
phase abschließen, in der sich für Firmen
und Bürger nichts ändern soll. Diese Phase
läuft Ende 2020 aus, kann aber verlängert
werden. Das Abkommen würde verhin-
dern, dass Zölle eingeführt werden bei Ge-
schäften zwischen dem Königreich und

der EU. Die – unverbindliche – politische
Erklärung formuliert Ziele für die künfti-
gen Beziehungen und diesen Vertrag.
Für die britische Wirtschaft ist einfa-
cher Zugang zum Binnenmarkt sehr wich-
tig: Die übrigen EU-Länder sind der mit Ab-
stand größte Exportmarkt. Den Vorschlag
mancher Brexit-Enthusiasten, nach dem
Austritt die Standards zu schleifen, sehen
Wirtschaftsverbände daher skeptisch.
Zwar begrüßen Unternehmer grundsätz-
lich Deregulierung, aber in diesem Fall
befürchten die Manager, dass der Preis für
laxere Regeln – schlechterer Zugang zum
EU-Markt – viel zu hoch wäre.
Barnier macht in seiner Rede auch klar,
dass die EU nun tatsächlich bloß von ei-
nem Handelsvertrag mit den Briten aus-
geht. Andere Varianten, die eine stärkere
Verzahnung ermöglichen wie eine Zolluni-
on oder eine Mitgliedschaft im Binnen-
markt, wünsche die Regierung Johnson
nicht, sagt der Franzose. Ohne Zollunion
müssten jedoch an den Grenzen Laster kon-
trolliert werden – selbst dann, wenn dank
eines Freihandelsvertrags keine Zölle auf
britische oder EU-Produkte anfallen.
Allerdings wollen beide Seiten verhin-
dern, dass an der weitgehend unsichtba-
ren Grenze zwischen dem EU-Mitglied Ir-
land und dem britischen Nordirland Pos-
ten errichtet werden müssen. Brüssel und
London einigten sich nun auf eine kompli-
zierte Regelung, der zufolge britische Zöll-
ner in Nordirlands Häfen EU-Zollregeln an-
wenden, wenn das Risiko besteht, dass die
Ware weiter in die Republik Irland trans-
portiert wird. Welche Produkte darunter
fallen, soll während der Übergangsphase
diskutiert werden. Strittig war bis zuletzt,

welche Regeln für die Mehrwertsteuer in
Nordirland gelten sollen. Doch auch hier
gibt es nun eine Vereinbarung.
Außerdem soll sich Nordirland weiter
an Verbraucherschutz- und Produktstan-
dards der EU halten. Damit wird vermie-
den, dass Zöllner an der Grenze zur Repu-
blik Irland prüfen müssen, ob die Ladung
von Lastern Brüsseler Vorgaben genügt.
Dafür muss dies in Nordirlands Häfen kon-
trolliert werden.
Johnson forderte, dass das nordirische
Regionalparlament und die dortige Regie-
rung regelmäßig entscheiden dürfen, ob
sich die Provinz weiter an die Regeln Brüs-
sels oder lieber Londons halten soll. Der ur-
sprüngliche Vorschlag hätte der nordiri-
schen Partei DUP, die Johnsons Regierung
stützt, de facto ein Vetorecht gegeben. Die
EU lehnte das ab. Eine abgewandelte Versi-
on war jetzt für beide Seiten akzeptabel.
Diese Vereinbarungen drehen sich nur
um Nordirland. Offen ist, wie Kontrollen
zwischen England und dem Festland abzu-
wenden sind. Allein Europas belebtester
Fährhafen Dover fertigt an Spitzentagen
10000 Laster von Schiffen von und nach
Calais und Dünkirchen ab. Zollformalitä-
ten könnten zu Dauerstau führen. In der po-
litischen Erklärung heißt es dazu, das Aus-
maß an Kontrollen hänge davon ab, wie
sehr die Briten bei Zoll und Produktstan-
dards mit der EU zusammenarbeiteten.
Offen ist auch, ob das britische Parla-
ment das Abkommen unterstützt. Barnier
sagt, als Mann aus den Bergen – er kommt
aus der Alpenregion Savoyen – sei er „eher
nüchtern“ und „vorsichtig“. Die Bestei-
gung von Mount Brexit ist noch nicht ge-
schafft. björn finke, matthias kolb

Pünktlich um 11.15 Uhr ging es steil nach
oben. Als am Donnerstag bekannt wurde,
dass sich Boris Johnson mit der EU auf ein
Austrittsabkommen geeinigt hat, stieg der
Deutsche Aktienindex (Dax) binnen weni-
ger Minuten um rund ein Prozent auf
12814 Punkte. Das war der höchste Stand
seit 14 Monaten. Ein Brexit ohne Vertrag
hätte den Handel mit Großbritannien
stark behindert. Wenn er nun nicht
kommt, wäre das gerade für die exportlasti-
ge deutsche Wirtschaft gut.
Im Laufe der nächsten Stunden kehrte
allerdings Ernüchterung ein. Den Händ-
lern an der Börse wurde klar, dass einem
Abkommen noch ein großes Hindernis im
Weg steht. Das britische Parlament müsste
am Samstag zustimmen, und Premiermi-
nister Boris Johnson hat keine Mehrheit.
Vor allem, als die ihm eigentlich wohlge-
sinnten nordirischen Protestanten kundta-
ten, dass sie sich gegen das Abkommen aus-
sprechen werden, ging es mit den Aktien-
kursen wieder nach unten. Am Nachmittag
stand der Dax noch mit 0,3 Prozent im
Plus. Ähnlich dünn waren die Gewinne an
anderen europäischen Börsen. Euphorie
an den Finanzmärkten sieht anders aus.
Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Com-
merzbank, sieht trotzdem einen gewalti-
gen Fortschritt in der Einigung von John-
son mit der EU. „Der Premierminister hat
erreicht, was er wollte, nämlich eine harte
Grenze zwischen Nordirland und Irland zu
vermeiden“, sagt er. Johnson kehre des-
halb gestärkt auf die Insel zurück. Er tue
sich nun leichter, an die staatspolitische Rä-
son zu appellieren und Abgeordnete auf
seine Seite zu ziehen. Seine Chancen stün-
den jedenfalls besser, eine Einigung mit
der EU durch das Parlament zu bekom-
men, als die seiner Vorgängerin Theresa
May. Die Wahrscheinlichkeit einer saube-
ren Scheidung statt eines dreckigen harten
Brexit sei damit weit größer geworden.
Krämer weist darauf hin, dass sich John-
son mit der EU darauf verständigte, ein
Freihandelsabkommen anzustreben. Bis
dahin würde eine Übergangslösung gelten,
die Ende 2020 ausläuft. „Damit bliebe dau-
erhaft alles beim Alten, die Zollfreiheit wür-
de zementiert, die negativen Auswirkun-
gen des Brexit für den Handel wären weit-
gehend vom Tisch“, sagt Krämer.
An einer Stelle war die Erleichterung
der Anleger am Donnerstag schon beson-
ders zu spüren, bei der britischen Wäh-
rung. Der Kurs des Pfunds Sterling legte
um 1,2 Prozent auf 1,2988 Dollar zu. In den
vergangenen sechs Handelstagen sum-
miert sich das Plus auf sechs Prozent. Es ist
die stärkste Rally seit 30 Jahren. Die briti-
sche Währung notiert aber immer noch 13
Prozent niedriger als vor dem Brexit-Refe-
rendum im Juni 2016. Das Pfund stürzte
ab, weil man Störungen des Güterhandels
mit massiven Nachteilen für britische Un-
ternehmen befürchten musste; eine Wäh-
rung ist immer nur so stark wie die Volks-
wirtschaft, die hinter ihr steht. Die Aktien-
kurse der größten britischen Unterneh-
men legten seit dem Referendum dagegen
um mehr als zehn Prozent zu. Sie profitie-
ren von einem schwachen Pfund beim Ex-
port ihrer Waren.
Sollte der Brexit-Deal durchs Parlament
kommen, werde das Pfund auf mindestens
1,35 Dollar steigen, prognostiziert Nigel
Green, Gründer und Chef des Anlagebera-
ters deVere. harald freiberger

Spielregeln für die Scheidung


Faire Steuern, hohe Standards und eine durchlässige Grenze auf der irischen Insel: Wie Brüssel und London zentrale Streitfragen regeln wollen


Warten auf


Super-Samstag


Die Opposition im Unterhaus wird den Deal wohl
ablehnen. Das größere Problem für Boris Johnson
ist aber, dass auch die nordirischen Protestanten,
die ihn lange unterstützten, stur bleiben

Neuer Brexit-DealDie Erleichterung war allen Beteiligten anzumerken. Nach hektischen Verhandlungen stand am Donnerstagmittag


endlich das Austrittsabkommen. EU-Staats- und Regierungschefs nickten beifällig, Britanniens Premier lobte die Vereinbarung


sogar als „großartig“. Aber rasch machten die Nachrichten aus London klar: Das Drama ist längst noch nicht vorbei


(^2) THEMA DES TAGES Freitag, 18. Oktober 2019, Nr. 241 DEFGH
Eine Zollunion soll es nicht geben,
das aber heißt, dass Lastwagen
kontrolliert werden müssen
Johnsons Botschaft war klar:
Gebt mir den Deal,
den Rest erledige ich schon
Sie geben nicht auf: Brexit-Gegner vor dem Parlamentsgebäude in London. FOTO: TOLGA AKMEN / AFP
Labour und Liberale werden
bestimmt Nein sagen,
Schotten und Waliser auch
Im
Zwischenhoch
An der Börse löst der Kompromiss
nur vorübergehend Euphorie aus
Also doch: Der britische Premierminister Boris Johnson (links) besiegelt die
Einigung mit der Europäischen Union per Handschlag mit Kommissionspräsi-
dent Jean-Claude Juncker. FOTO: FRANCISCO SECO /AP
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