Süddeutsche Zeitung - 18.10.2019

(Jacob Rumans) #1
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Das Milieu all jener, die im mittelöstli-
chen Europa, in den Gefilden der
Kaczyńskis,Babiš undOrbáns also,unbe-
irrt mit solch bunten Ideen wie Rechts-
staat, Transparenz, Pressefreiheit und ei-
ner humanen, gesamteuropäischen
Flüchtlingspolitiksympathisieren,hatei-
ne neue Lichtgestalt. Gergely Karácsony,
44,istAnfangdieserWochezumOberbür-
germeister von Budapest gewählt wor-
den, der Hauptstadt jenes Landes, dessen
Regierung sich und ihre Bürger haar-
scharfandieAbbruchkantedersogenann-
ten europäischen Werteunion geschleift
hat. Aus jenem Ungarn, das sein Regie-
rungschef Viktor Orbán flächendeckend
mit dem Etikett „illiberale Demokratie“
beklebthat,ragtjetzteinesolidelinksgrü-
ne Insel heraus, nebst einer Reihe weite-
rer Städte, wo Fidesz die Mehrheit verlor.
50,1 Prozent der Budapester haben
also für jenen Mann gestimmt, dem die
Fidesz-Wahlkämpfer nachriefen, er sei
ein„Clown“; densiemit der Standardlüge
überzogen, er plane eine Verschwörung
mit denen da oben in Brüssel, das schöne
christlicheUngarnmitMassenvonmusli-
mischen Migranten unkenntlich zu ma-
chen.Diese Schmähungen ansich abpral-
len zu lassen, dabei halfen Gergely Karác-
sony nicht zuletzt die Blößen, die Fidesz
sichzuletztselbstgab,undzwarimdurch-
aus körperlichen Sinne. Der Bürgermeis-
ter einer anderen Großstadt, ein stram-
mer Fidesz-Kämpfer für das christliche
AbendlandunddiedazugehörigenFamili-
enwerte, war im Mai 2018 bei einer Sex-
party auf einer Yacht vor der kroatischen
Adriaküste zugegen, und zwar beileibe
nicht als passiver, kritischer Beobachter.
DasdabeientstandeneVideotauchtewäh-
renddes Wahlkampfs imInternet aufund

warf landesweit Fragen auf, die die natio-
nalkonservative Regierungspartei aus
Sicht vieler nicht ganz so ideologiefester
Wähler nur unzureichend beantworten
konnte.
Gergely Karácsony,der bereitsvor fünf
Jahren zum Bürgermeister des 14. Stadt-
bezirksvonBudapestgewähltwurde,ver-
körpert in vielem einen Gegenentwurf
zum Fidesz-Establishment. Statt Krawat-
te trägt er in der Öffentlichkeit lieber den
schrägenSchultergurtseinerUmhängeta-
sche, zum Wahlkampfauftakt erschien er
mit seiner Gitarre, er warb mit Slogans
wie „Freiheit statt Angst“. Aufgewachsen

ist er in einem, wie er selbst sagt, ärmli-
chen Haushalt im Nordosten des Landes,
Vater und Mutter arbeiteten als Garten-
bauingenieure, auf den Tisch kam Gemü-
se ohne Pestizide aus dem eigenen Gar-
ten. Gergely Karácsony studierte Soziolo-
gie und Politologie, arbeitete an einem
Wahlforschungsinstitut, wo ihm bei sei-
nen Statistiken immer wieder das doch
rechtgroßeTortenstückderWechselwäh-
ler auffiel.
Karácsony, der selbst einer kleinen
grün-liberalenParteimitdemNamenPár-
beszéd („Dialog“) vorsteht, hat zudem er-
kannt, dass Orbán seine Macht wesent-
lich auf das Prinzip „teile und herrsche“
baut; die Opposition ist zersplittert, das
unter Fidesz geänderte Wahlsystem be-
vorteilt große Parteien zusätzlich. Karác-
sonytratalsgemeinsamerKandidatmeh-
rerer linker und liberaler Parteien an. Zu-
dem holte er sich Rat in Istanbul, wo sich
kürzlich der Kandidat der Opposition ge-
gendieErdoğan-Partei AKP durchgesetzt
hatte – eine „aggressive, illiberale Macht,
dieinvielerleiHinsichtOrbánsRegimeäh-
nelt“, wie Karácsony sagte.
NunfrohlockenOptimisten,dieBürger-
meisterwahl in Budapest sei der Start-
schuss für einen Siegeszug der Oppositi-
on auch bei der Parlamentswahl 2022.
Skeptiker dagegen verweisen auf Polen,
wo die Hauptstadt Warschau sich letztes
Jahr einen liberalen Pro-Europäer zum
Bürgermeister wählte – und wo dessen
ungeachtet die rechtsnationale Regie-
rungspartei PiS bei der Parlamentswahl
wieder die absolute Mehrheit holte. Zwei-
fellos: Karácsonys Wahlerfolg hat dem
System Orbán einen Riss verpasst. Aber
zwischen Riss und Niederreißen liegt
noch ein sehr langer Weg. tobias zick

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B


oris Johnson ist immer wieder
als Spieler bezeichnet worden.
Nun spielt der britische Premi-
er erneut Vabanque – diesmal
mit ungeheuer großem Ein-
satz. Johnson war wegen der Brexit-Plä-
neseinerVorgängerinTheresaMayalsAu-
ßenminister zurückgetreten. Er hat sich
vehement gegen eine Lösung ausgespro-
chen, die Nordirland anders behandelt als
denRest des Königreichs.Auf dem Partei-
tag der nordirischen DUP 2018 hat er eine
flammende Rede gehalten, dass es nie-
malseineZollgrenzeinderIrischenSeege-
bendürfe.Nun hater einenDealmit Brüs-
sel gemacht, der genau das alles vorsieht.
Seiner Vorgängerin hatte er wegen eben
dieser Ideen noch Versagen vorgeworfen.
Seine eigene Partei und die Leave-Fans
werden ihm verzeihen. Denn es zählt der
kurzfristige Erfolg. Boris Johnson hat ein
Dutzend Kröten geschluckt, er hat große
Kompromisse gegenüber den EU-27 ge-
macht. Er hat aber auch die EU dazu ge-
bracht, einige ihrer roten Linien zu strei-
chen und den Backstop, die Notfalllösung
für Nordirland, zu überarbeiten. Das Er-
gebnis der Verhandlungen ist eine Mixtur
aus ungeheuer komplizierten juristischen
und ökonomischen Regelungen, deren
Umsetzbarkeit und langfristige Kosten
sich erst noch erweisen müssen.

Der Brexit ist und bleibt ein schwer ab-
schätzbaresRisiko.DieFrage,obereinhis-
torischer Fehler ist, ist längst in den Hin-
tergrund getreten. Die Briten werden
wohlerstineinigenJahrenoderJahrzehn-
ten wissen, wie hoch der Preis war, den sie
gesellschaftlich und politisch zahlen. Ob
das Vereinigte Königreich noch vereint
seinwird.UndobdiegroßartigenFreihan-
delsverträge, welche die Tories verspre-
chen, jemals die vielen Vorteile einer EU-
Mitgliedschaft kompensieren werden.
Aber das ist Vergangenheit – und Zu-
kunftsmusik. Für jetzt gilt: Johnson hat
den Deal geschafft, den May nicht ge-
schafft hat. Auf der Basis ihrer Arbeit
kann er ein Ergebnis vorweisen. Er ist ein
Siegertyp; die Tories hatten darauf ge-
setzt.Damit habensierechtbehalten.Und
auch die EU-27 können sich rühmen, alles
richtig gemacht zu haben. Sie haben alle
Türen offen gehalten, haben ihre Einig-
keitnichtaufgegeben,habendieRepublik
Irland nicht im Regen stehen lassen, ha-
ben Großbritannien immer wieder einge-
laden, Vorschläge zu machen – trotz des
unbestreitbaren politischen Chaos, das in
London seit knapp drei Jahren herrscht.

Die Euphorie auf beiden Seiten des Ka-
nals ist also verständlich. Sie rührt aus der
Erleichterung darüber, dass der erste Akt
des Brexitdramas zu Ende sein könnte. Es
werden ohnehin noch viele weitere Akte
kommen; die politische Erklärung über
die künftigen Beziehungen ist ja nur eine
vage Grundlage für künftige Handels-
und Kooperationsverträge. Die Euphorie
rührt aber auch aus der Erkenntnis, dass
Nachhaltigkeit, Geduld, Professionalität
und Wohlwollen eine gute Grundlage für
politische Beziehungen sind.
Und zugleich ist die ganze Begeiste-
rung verfrüht. Es gebe einen „großartigen
Deal“,twittertJohnson.Aberselbstderbri-
tische Premier weiß vorerst nicht, ob der
neue EU-Austrittsvertrag, der in großen
Teilen der alte EU-Austrittsvertrag ist, je-
mals umgesetzt wird. Johnson hat einen
Deal, aber möglicherweise keine Mehr-
heitfüreinen Deal.Damitkönntesich wie-
derholen, was seine Vorgängerin Theresa
May und die EU in den vergangenen Jah-
ren erlebt haben: intensive Verhandlun-
gen,einVertrag–unddasScheiternimUn-
terhaus. Auch Johnson könnten die nöti-
genStimmen fehlen, wenn die Vorlage am
Samstag vor das britische Parlament
geht. Es ist ein abgedroschener Satz, aber:
Geschichte wiederholt sich.
Die DUP, die nordirische Kleinpartei,
die mit ihren zehn Stimmen im Unterhaus
eine Schlüsselrolle spielt, verweigert die
Unterschrift. Damit fehlen den Tories, die
vor wenigen Wochen 21 ihrer Abgeordne-
ten aus der Fraktion geworfen hatten,
weil diese ein No-Deal-Szenario verhin-
dern wollten, wichtige Stimmen. Die Bre-
xiteers sind nicht alle an Bord; Labour
sieht endlich die Chance, sich zu profilie-
ren, und will am Samstag für ein zweites
Referendumstimmen.DieLage imUnter-
haus ist also schwer einzuschätzen. Der
notorische Spieler Johnson setzt darauf,
dass das Bedürfnis nach innerem politi-
schen Frieden so groß ist, dass zum
Schluss genügend Stimmen zusammen-
kommen.Wennnicht,stehterda, woThe-
resa May stand: ohne Deal.
Es gibt Insider in London, die vermu-
ten, dass es Johnson darauf anlege: zu
scheitern, um No Deal zu erzwingen und
in Neuwahlen zu triumphieren – als Sie-
ger, der seinen Sieg wegen unerträglicher
RänkeimParlamentnichteinfahrendurf-
te. Tatsächlich hält er die Drohkulisse ei-
neshartenBrexitsaufrecht, indemermit-
teilt, er werde keinesfalls um eine weitere
Verlängerung bitten. Und die EU spielt
mit. Es werde keinen Aufschub mehr ge-
ben, heißt es aus Brüssel. Auch hier spielt
Johnson Vabanque, er sagt: No Deal oder
mein Deal. Er übt maximalen Druck aus
und lässt es darauf ankommen. Was eine
Metapher für den ganzen Brexit ist.

von meredith haaf

E


shatnieeinBullerbügegeben.Die-
ses idyllische Dorf, in dem sieben
Kinder und ihre netten Erwachse-
nen wohnen, wo das gefährlichste Wesen
einunfreundlicherZiegenbockist,wurde
von Astrid Lindgren vor gut 70Jahren er-
funden.Trotzdembekommenvieledeut-
sche Mittelschichtseltern bei dem Wort
leuchtende Augen. Eine „Bullerbü-Kind-
heit“, also die naturnahe, provinzielle
Freilaufjugend, ist auch und ganz beson-
ders zurzeit ein Leitbild für das, was viele
für ein gelingendes Aufwachsen halten.
AllerdingshatdiesmitderRealitätvon
immer weniger Familien etwas zu tun.
Im Jahr 2050, schätzt das Kinderhilfs-
werkUnicef,werdensiebenvonzehnKin-
dernurbanaufwachsen.Schonheutelebt
einer von drei Menschen weltweit in
einer Stadt. Es ist also zukunftsweisend,
dass Unicef dieser Tage in Köln einen in-
ternationalen Gipfel veranstaltet zu der
Frage, wie Kommunen kinderfreundli-
cherwerdenkönnen.ZumAbschlusswer-
den Politiker, Experten und viele jugend-
liche Teilnehmer an diesem Freitag ge-
meinsame Empfehlungen geben.
Diese sollten sich Stadtpolitiker genau
ansehen. Denn auch wenn immer mehr
Kommunen sich derzeit sehr um um-
welt-undverkehrspolitischeFortschritte
bemühen: Aus der Perspektive einer Ein-
Meter-20-Person gehört die Stadt den
GroßenundfunktioniertnachderenPrio-
ritäten. Kindheit findet heute zwischen
Massen von gestressten Erwachsenen in
Pkws, auf E-Rollern und in U-Bahnen
statt. Kein einziges Kind etwa profitiert
von der individuellen E-Mobilisierung,
imGegenteil:DieGerätschaften,dieüber-
allherumstehen,bildennurneueHinder-
nisseundnehmenPlatzzumRennen,Rol-
lern oder Radeln weg. Die Luft, die Stadt-
kinder einatmen, riecht nicht nach Flie-
der oder Heu, sondern nach Abgasen und

Müllladungen, und solange die Innen-
städte nicht autofrei werden, wird das so
bleiben. AproposAbfall:NichtinDeutsch-
land, aber in viel zu vielen Ländern spie-
len die Kleinsten auf Müllhalden und
nicht zwischen Wiesen und Wäldern.

Das ist mehr als unidyllisch. Es ist le-
bensgefährlich. Beispiel Verkehr: Im ver-
gangenenhalbenJahrwurdeninDeutsch-
land mindestens fünf neunjährige Kin-
der auf Rädern von Lkws erfasst, allein
imOktoberstarbeneinMädcheninLever-
kusenundeinJunge imSchwarzwald.Sie
waren in diesem magischen Alter, in dem
Kinder beginnen, sich selbständig zu be-
wegen,eigeneRäumezuerobern.Sieerle-
benindieserZeitneueAbenteuer.Berufs-
tätige Eltern erleben Entlastung: endlich
nichtmehrzwischenArbeitsplatz,Super-
markt und Betreuung hin und her het-
zen, denn der Nachwuchs kann die Wege
nun allein zurücklegen. Doch einfach ist
es nicht, der Welt das Liebste, was man
hat,anzuvertrauen.UndsolcheNachrich-
ten machen es richtig schwer.
Wer sich für Familienpolitik verant-
wortlichfühlt,solltedaheraufdieUnicef-
Empfehlungen achten. Familienleben ist
heute von Städten geprägt. Für Eltern ist
es eine unerträgliche Belastung, wenn sie
ihren Nachwuchs im eigenen Umfeld
nicht sicher wissen. Wer Vereinbarkeit
vonFamilieundBerufwill, mussfürStra-
ßen und Plätze sorgen, auf die Eltern ihre
Kinder beruhigt schicken können. Nicht
nur in Vorstädten und Reihenhaussied-
lungen. Eine kinderfreundliche Stadt
wärekeinebullerbühafteWohlfühlfanta-
sie. Sondern ein Ort, der das Leben für
alle leichter, freundlicher, sicherer
macht, egal wie alt oder jung.

von christina kunkel

W


enn es um ein Tempolimit auf
deutschen Autobahnen geht,
werden Diskussionen schnell
emotional. Selbst Menschen, die im Bio-
markteinkaufenundderenKinderbeiFri-
days for Future demonstrieren, gerät der
Klimaschutz aus dem Sinn, wenn es ums
Schnellfahren geht. Dann fallen Begriffe
wieFreiheitsverlust,Verbotsstaat,Ökodik-
tatur – manchmal scheint dem deutschen
AutofahrerdasRechtauffreieFahrtsohei-
lig zu sein wie dem Amerikaner das Recht
auf Waffenbesitz. Entsprechend sind die
Grünen am Donnerstag mit ihrem Antrag
im Bundestag gescheitert, Autofahrer bei
130km/h einzubremsen. Dennoch ist es
wichtig, darauf aufmerksam zu machen,
wie absurd die freie Fahrt ist.
Denn die gleichen Menschen, die ein
Tempolimit als Eingriff in ihre persönli-
che Freiheit ablehnen, empfinden es als
angenehm, wenn sie auf dem Weg in den
UrlaubdiedeutscheGrenzepassierenund
nur noch mit Tempo 120 oder 130 dahin-
rollen dürfen. Es ist dagegen alles andere
als entspannend, mit 200 auf der linken
Spur zu fahren und ständig Angst zu ha-
ben, dass auf der Nebenspur jemand aus-
schert. Schnellfahren ist oft reiner Stress.
Natürlich käme man im Ausland nie
auf die Idee, trotzdem ein bisschen mehr
aufs Gaspedal zu drücken. Denn die Stra-
fen reißen oft ein größeres Loch in die Ur-
laubskasse als ein Knöllchen auf deut-
schen Straßen. Auch die Erkenntnis, dass
die Limits für einheimische Autofahrer
selbstverständlichsind,weilmandortnur
selten Raser erlebt, trägt dazu bei, sich
auch selbst an die Regeln zu halten.
Für die Verkehrssicherheit wäre ein
Tempolimit schon lange hilfreich. Dass es
im Klimapaket dergroßen Koalitionkeine
Rolle spielt, vor allem wegen des Wider-
standesderCSUundihresVerkehrsminis-
ters, ist eine verpasste Chance. Die Bun-

desregierung könnte damit ein Zeichen
setzen, dass man auch mit vergleichswei-
se kleinen Maßnahmen den CO2-Ausstoß
im Verkehr senken kann. Eine Studie der
Denkfabrik Agora Verkehrswende ergibt,
dasseinTempolimitvon130aufAutobah-
nenvon2020andieKohlendioxid-Emissi-
onen des Autoverkehrs in Deutschland
um 1,1 bis 1,6 Prozent senken würde – das
entspricht mehr als einer Million Tonnen
CO2. Das klingt wenig spektakulär. Aber
umdiegleicheReduktionmitwenigerAu-
tos zu erreichen, müssten 500000 Mittel-
klassewagen auf einen Schlag aus dem
Verkehr verschwinden. Dazu kostet die
Maßnahme nicht mehr als die Montage
von ein paar Schildern. Günstiger kann
ein Beitrag zum Klimaschutz nicht sein.

EinTempolimitkönnteauchdenMobi-
litätswandel hin zu automatisierten und
elektrischen Fahrzeugen vorantreiben.
Viele E-Autos haben bereits eine abgerie-
gelte Höchstgeschwindigkeit. Beim ID3,
mitdemVWdasElektroautoaufdenMas-
senmarkt bringen will, ist zum Beispiel
bei 160 km/h Schluss, beim Renault Zoe –
aktuell der meistverkaufte Stromer in
Deutschland – schon bei 140. Und auch
wenn ein Tesla theoretisch mehr als
200km/h fahren kann, macht das kaum
jemand auf Dauer. Denn das würde die
Reichweiterapide schrumpfen lassen und
den Fahrer alle hundert Kilometer an die
Ladesäulezwingen.AuchfürdieZukunfts-
vision des autonomen Fahrens ist es im
Grunde unabdingbar, dass die Geschwin-
digkeiten aller Fahrzeuge möglichst nah
beieinander liegen. Weil ein Robotaxi
dann nicht damit rechnen muss, dass
beim Spurwechsel von hinten ein Wagen
mit Tempo 250 angerast kommt.

I


n Syrien wird noch gekämpft, aber
eigentlichstehtschonfest,weramEn-
de Gewinner und wer Verlierer sein
wird. Zu Letzteren wird die Türkei gehö-
ren. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat
einst die Allianz gegen den syrischen Dik-
tator Baschar al-Assad angeführt, sein
Land hat Rebellentruppen finanziert und
der syrischen Opposition Obdach gege-
ben. Nun bewirkt ausgerechnet der türki-
sche Einmarsch in Nordsyrien, dass As-
sads Armee sich auch diesen Teil Syriens
zurückholen kann, den Damaskus davor
den Kurden überlassen hatte.
Damit ist der Diktator der größte Ge-
winner der schon jetzt ins Leere laufen-
den türkischen Militäroffensive. Auf der

Verliererseite stehen auch die syrischen
Kurden, die ihre weitgehende Autonomie
gegen die Sicherheit eingetauscht haben,
die ihnen Assad nun verspricht. Verloren
haben zudem jene, denen Erdoğan die
Rückkehr nach Syrien versprach. Denn
wer einst vor Assad geflohen ist, wird sich
nun dreimal überlegen, ob er in ein Land
zurückkehren will, in dem der alte Dikta-
tor sich wieder als Sieger fühlen darf.
DieKämpfeinNordsyriensindwomög-
lich die letzten Gefechte in diesem viel zu
langen Bürgerkrieg. Aber auch dann,
wenn – hoffentlich bald – die Waffen
schweigen, werden sie Syrien einem inne-
ren Frieden kein Stück nähergebracht
haben. christiane schlötzer

M


an kann dem AfD-Gründer
Bernd Lucke vieles vorwerfen:
dass sein Geschöpf von Anfang
an engherzig und muffig war. Dass er naiv
war und nicht erkannte, was für Figuren
eine Partei rechts von der Union anziehen
würde.AbereineskannmanLuckekeines-
falls vorwerfen: dass er ein Rassist oder
Rechtsextremist wäre. Im Gegenteil, er
hat die AfD verlassen, als er erkannte: Der
Kampf gegen die Extremisten ist nicht zu
gewinnen. Soll er nun zurück an die Uni?
Unbedingt. Wo, wenn nicht dort, muss
Raum sein für unterschiedlichste Auffas-
sungen? Die Studierenden, der Hambur-
ger Uni-Präsident und die Wissenschafts-
senatorin wollten von diesem Wert einer

Universität am Mittwoch nichts wissen,
als die einen Luckes Vorlesung mit Ge-
brüll blockierten und die anderen dies in
einer erst tags darauf korrigierten Erklä-
rung mit den Worten guthießen, eine Uni
müsse eine „diskursive Auseinanderset-
zung“ aushalten.
Dabei haben siegrobverkannt: Wer auf
dem Boden des Grundgesetzes steht, der
muss seine Lehrtätigkeit fortsetzen dür-
fen. Er (oder sie) erweist Andersdenken-
den sogar einen Dienst: indem sie an ihm
ihr eigenes Urteil schärfen können. Mit
Blockaden sollte man warten, bis viel-
leicht eines fernen Tages der Geschichts-
lehrer Björn Höcke wieder an einer Schule
einrücken will. detlef esslinger

D


ie Zeit der Berater-Hörigkeit in der
Bundeswehr steuert auf ihr Ende
zu. Nach noch nicht einmal drei
Monaten im Amt, hat die neue Verteidi-
gungsministerin Annegret Kramp-Kar-
renbauer zwei Privatisierungsvorhaben
ihrer Vorgängerin gestoppt. Weder wird
es mit ihr die Radikalreform für das Be-
schaffungsamt in Koblenz geben, die sich
Ursula von der Leyen gewünscht hatte,
noch die Privatisierung der Panzer-Repa-
raturwerke. Richtig so. Die Bundeswehr
soll wachsen. Das muss sie aber von innen
heraus und nicht, indem weiter Expertise
nach außen abfließt.
Ursula von der Leyen war besessen von
dem Gedanken, nur mit Hilfe von Exter-

nen und mehr Einfluss der Industrie sei
die marode Truppe wieder flottzubekom-
men, seien die Beharrungskräfte im Haus
zu brechen. Ein Untersuchungsausschuss
des Bundestages legt derzeit offen, wozu
das geführt hat: Externe haben sich im
Haus breitgemacht und die Schwächen
der Truppe zu ihren Gunsten ausgenutzt.
Nebenbei wurde prächtig verdient. Nur,
wirklich schneller, effizienter ist die Bun-
deswehr seither auch nicht geworden.
Fest steht: Truppe und Industrie sind
aufeinander angewiesen. Zu komplex ist
die Technik. Was aber die Truppe selbst
zu leisten vermag, sollte auch in ihrer Zu-
ständigkeit bleiben. Alles andere führt in
totale Abhängigkeit. mike szymanski

Ein Soldat muss, um innere
und äußere Disziplin einzu-
üben,ersteinmallernen,vor-
schriftsmäßig zu stehen, zu
marschieren, zu salutieren.
„Der militärische Gruß erfolgt in straffer
Haltung“, so steht das in der Formal-
dienstordnung der Bundeswehr. Die An-
weisungengehen insDetail:rechte Hand,
Fingeraneinanderliegend,Daumenange-
legt, so muss die Spitze des Mittelfingers
dicht über der Schläfe an den Kopf oder
an die Kopfbedeckung geführt werden.
Handrückennachoben,HandundUnter-
arm auf einer Geraden, Ellenbogen auf
Schulterhöhe. Sucht man nach Ursprün-
gen des militärischen Grußes, wird häu-
fig auf Ritter verwiesen, die ihr Visier
hochklappen.DieVorschriftenfürdasSa-
lutieren unterscheiden sich von Land zu
Land. In der polnischen Armee pflegt
man den Zwei-Finger-Gruß mit Zeige-
und Mittelfinger – in deutschen Kaser-
nen hielte man das für eine Provokation.
US-Soldaten empörten sich, als Präsi-
dent Barack Obama, ihr Oberbefehlsha-
ber, mit Kaffeebecher in der Hand salu-
tierte. Wenn Zivilisten militärisch grü-
ßen, geht das häufig schief. Die türki-
schen Fußballnationalspieler lösen nun
Empörung aus, weil sie Erfolge salutie-
rendfeiern,umSolidaritätmitden Solda-
ten zu bekunden, die in Syrien einmar-
schiert sind – eine unangemessene
Vermengung von Sport und Krieg. jok

(^4) MEINUNG Freitag, 18. Oktober 2019, Nr. 241 DEFGH
BREXIT
Nur der erste Akt
von cathrin kahlweit
Boris Johnson hat einen
„großartigen Deal“. Aber kommt
er damit durchs Unterhaus?
FOTO: REUTERS
STÄDTE
Kein Platz für Kinder
AUTOBAHNEN
Volle Fahrt ins Verderben
SYRIEN
Am Ende jubelt der Diktator
BERND LUCKE
Freiheit des Lehrers
BUNDESWEHR
Ausgemusterte Berater
Umwelt-Akrobatik sz-zeichnung: burkhard mohr
AKTUELLES LEXIKON
Militärischer Gruß
PROFIL
Gergely
Karácsony
Gegenspieler
von Viktor Orbán
in Budapest
Wer Familien helfen will,
muss Straßen und Plätze
viel sicherer machen
Eine Höchstgeschwindigkeit
von 130 würde Stress mindern
und dem Klimaschutz helfen
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