Süddeutsche Zeitung - 18.10.2019

(Jacob Rumans) #1
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A


uf einmal hat es Andrea Costa ge-
reicht. Wer das ist? Der Bürger-
meister von Luzzara, einer Klein-
stadt in der Emilia-Romagna, der
inseinerKommuneeinBoshaftigkeitsver-
bot erlassen hat. Die Sprache der Öffent-
lichkeit und der sozialen Medien, so der
angewiderte Mann, habe sich in den letz-
ten Jahren dermaßen barbarisiert, dass
selbst jene, die das beklagen, sich der Ver-
rohung oft nicht mehr zu entziehen wis-
sen. Bürgermeister Costa zeigte dabei
nicht denunziatorisch auf andere, son-
dern irritiert auf sich selbst, und grübelte
darüber, was mit ihm geschehen sei, dass
ausgerechnet er unlängst einen politi-
schen Gegner zum gefährlichen Idioten
stempelte. Freilich, eine Verordnung, die
der Gehässigkeit im kommunalen Raum
sprachpolizeilich beikommen möchte –
klingt das nicht schon gefährlich so, als
träumehierjemandvonseinerkleinenRe-
publik der Tugend?
Doch Andrea Costa schwebt kein
ZwangssystemdesGuten,sonderneinkul-
tureller Feldzug vor. Als Sanktion von Re-
den im Gemeinderat, die ordinär, von
Kommentaren im Internet, die denunzia-
torischgerieten,emp-
fiehlt er, dass der
sprachliche Wüterich
ins nahe Padua ge-
schickt werde, um
dort in Giottos Kapel-
le das Wunder der
Schönheit zu erfahren
und dabei zur ruhigen
Betrachtung der Din-
ge zurückzufinden.
Gegen rassistisch im-
prägnierte Tiraden
sieht er die Lektüre
von Büchern wie „Ist
das ein Mensch?“ von
Primo Levi vor. Das
hat, finde ich, der ich
ansonsten nicht viel
davon halte, dass Bücher strafweise gele-
sen werden sollen, durchaus etwas für
sich.
Die Freude an der verächtlichen Rede
prägt den Streit im digitalen Raum, aber
was wir dort als Gefahr erkannt haben, ist
in die analoge Welt herübergeschwappt.
Dass es überfällig ist, die öffentliche Rede
zu zivilisieren, ist so klar, dass es längst in
zahllosen öffentlichen Reden verlangt
wird. Im Internet wiederum pflegen Het-
zer neuerdings Hetzer empört der Hetze
zu bezichtigen, was noch nicht bedeutet,
dasssiedamiteinenProzessderSelbstrei-
nigung anstoßen wollten. Mittlerweile
gibt es ein ziemliches Gedränge von Sau-
bermännern, die selbst sprachlichen
Schmutz verbreiten, und von rhetori-
schen Hooligans, die gekränkt beklagen,
dasssieböswillignurimmer missverstan-
den und in ein falsches Licht gerückt wer-
den. Wie ja heute überhaupt immer mehr
Leute versessen darauf sind, einen dauer-
haften Status der Gekränktheit zu erlan-
gen, weil dieser es ihnen erlaubt zu toben,
wann immer und gegen wen immer es ih-
nen beliebt.
Der Philosoph Thomas Macho hat in
einerStudieüberdieHöflichkeitgeschrie-
ben, dass diese zu einer Art von universel-
ler Kompetenz werden müsse, damit
globales Engagement – sei es in der
Politik, in Handel und Ökonomie oder im
Tourismus – überhaupt gewährleistet
undgesichert werdenkönne.Das istleicht
zu begreifen: Die Kulturen auf der einen
gemeinsamen Erde haben sich über die
Epochen verschieden entfaltet und über-
all andere Eigenheiten, Obsessionen,
Traditionen ausgeprägt; und da die
Menschen von da wie dort nie mehr für
sichalleineundinfröhlicheroderstumpf-

sinniger Abgeschiedenheit voneinander
existieren werden, muss es Formen ge-
ben, in denen ihre Kommunikation gelin-
gen kann. Deswegen bieten international
agierende Konzerne ihren Managern und
spezialisierten Fachkräften ja Lehrgänge
ininterkulturellerKommunikationan,da-
mit der deutsche Ingenieur, wenn er in
derjapanischenTochter-oderSchwester-
firma arbeitet, nicht unbeabsichtigt seine
japanischen Kollegen vor den Kopf stößt
oder, notabene, kränkt; und vice versa,
denn auch wer nach Deutschland kommt,
mussvonmanchem,wasihnfremdanmu-
tet, erst lernen, dass es den meisten Deut-
schen nicht nur vertraut, sondern gerade-
zu lieb ist und daher von ihm zwar nicht
zwangsweise nachgeahmt, aber immer-
hin respektiert werden sollte.
Wer je in Japan war, der weiß, dass
dort das bei uns übliche Händeschütteln
wenigbeliebtist,esstattdessenfür Begrü-
ßung und Verabschiedung einen unge-
mein fein differenzierten Code von Ver-
beugungen gibt. Unvergessen wird daher
bleiben, wie Donald Trump den japani-
schen Ministerpräsidenten Shinzō Abe
beim Besuch im Weißen Haus zu einem
über zwanzig Sekun-
den währenden Wett-
kampf nötigte, wer
die Hand des anderen
fester drücken könne,
was Abe mit einer
Miene über sich er-
gehen ließ, in der sich
zuerst ungläubiges
Staunen,danngerade-
zu Fassungslosigkeit
abzeichnete. Inzwi-
schen haben wir uns
an das Bild aus dem
Weißen Haus ge-
wöhnt: Trump, sei-
nem Besucher schräg
gegenübersitzend,er-
greift dessen Hand,
um den Gast mit festem Griff bald heran-
zuziehen, bald fortzudrücken und nach
schmerzenden Momenten der Pein und
Peinlichkeitmit derlinken Prankebegüti-
gend die gequetschte Hand zu tätscheln.
So wird aus dem Händeschütteln eine in-
fantile Bekundung von Kraft und Macht,
während es einst doch symbolisiert hat,
dass zwei Menschen sich als gleichrangig
anerkennen und gegenseitig ihrer friedli-
chen Absichten versichern.
Selbst eine so simpel anmutende Sa-
che wie das Händeschütteln kann also ge-
fechtstauglich gemacht werden, nicht nur
wenn sich muslimische Eiferer weigern,
Frauen dieHand zureichen, sondernauch
wennwestlicheGeifererihreStärkeimfes-
ten Drücken demonstrieren möchten.
Und erst die Wörter! Keines, das nicht
missbraucht, in seiner Bedeutung ins Ge-
genteil verkehrt werden könnte. Im Krieg
um die Wörter geht es oft gerade um die
hehrsten Begriffe. Wo immer neuerdings
der Abbau sozialer Errungenschaften be-
trieben wird, ist es zuvor „die Gerechtig-
keit“, der es an den sprachlichen Kragen
geht.Dasistschlimm,aberschlimmerwä-
rees,bestimmteGestenundWörteraufzu-
geben, weil andere sie sich für ihre rüden
Zwecke angeeignet haben. Der wackere
italienische Bürgermeister Andrea Costa
kann die Welt nicht retten, aber wir müs-
sen wissen, dass seine Gemeinde Luzzara
überall ist.

N


ach dem Anschlag in Halle ha-
ben sich Fragen aufgedrängt:
WiesowurdederRechtsterroris-
mus so lange ignoriert? Haben
wirunszusehraufdenislamistischenAn-
tisemitismus konzentriert und den der
Rechtsradikalen vergessen? Wieso wer-
den rechte Terroristen immer wieder als
Einzeltäter verharmlost? Muss sich die
AfD als geistige Brandstifterin bezeich-
nen lassen?
Der antijüdische Hass des Täters scho-
ckiertebensowiedieTatsache,dasserum-
standslos nach anderen Opfern Ausschau
hielt, als der Anschlag auf die Synagoge
scheiterte. Auch die medientechnologi-
sche Seite des Terrors gerät in den Blick,
wenn Täter per Livestream ein weltweites
Publikum adressieren. Andere Themen
kamen hingegen kaum zur Sprache, wie
etwa die anhaltende Bedeutung faschisti-
scher Männlichkeitsfantasien.
Aberes gilt noch einen anderen Aspekt
zu beleuchten: Der Täter hatte sich nicht
nur offenkundig den höchsten jüdischen
Feiertag ausgesucht. 30 Jahre zuvor, am
9.Oktober1989,fanddieerstegroßeMon-
tagsdemonstration im knapp 50Kilome-
ter entfernten Leip-
zig statt. Es drängt
sich die Frage auf, ob
wires bei antisemiti-
schem Rechtsterro-
rismus mit einem
ProblemderWieder-
vereinigung zu tun
haben. Das Mantra
lautet, dass Morde
wie in Halle in eine
lange ostdeutsche
Traditionslinieeinge-
ordnet werden müs-
sen. Und es stimmt
ja: Viele Gemeinden
und Städte in den
neuen Bundeslän-
dern haben seit Jah-
ren größte Schwierigkeiten mit gewaltbe-
reiten Rechtsextremisten. Während bis in
den Sicherheitsapparat die Meinung vor-
herrscht, man werde zu Unrecht von den
„Westmedien“ stigmatisiert.
Es gehört zu diesem in ganz Deutsch-
land beliebten Narrativ, den ostdeutschen
RechtsextremismusalsErbederDDRhin-
zustellen.Richtigist,dassderoffizielleAn-
tifaschismus der DDR der Neonazi- und
Skinheadszene der Achtzigerjahre nichts
entgegenzusetzenhatte.Dievereinigungs-
bedingten Umbrüche und die Orientie-
rungsprobleme bereiteten dann gerade in
ländlichen Regionen den Nährboden für
die rechtsterroristische Welle der Neunzi-
gerjahre,dievonOstdeutschlandausging,
aber nicht darauf beschränkt blieb. Aus
diesem Schoß erwuchs jener Attentäter,
den in Halle nur eine Holztür von einem
Massaker unvorstellbaren Ausmaßes ab-
hielt.
Dochvieles andieser Erzählungistun-
vollständig, weil sie die Effekte der Wie-
dervereinigung ignoriert. Diese liegen auf
personeller, struktureller sowie mentali-
tätsgeschichtlicher Ebene: Die Entwick-
lung des Rechtsextremismus nach 1989
lässt sich gerade nicht ohne den Westen
verstehen.AuchdortwarderRechtsterro-
rismus bereits seit Jahrzehnten auf mör-
derische Weise virulent. Das westdeut-
sche Terrorjahr war keineswegs der Deut-
sche Herbst 1977 mit zehn Toten der RAF,
sondern das Jahr 1980 mit 18 Toten, die
vor allem von Mitgliedern der Wehrsport-
gruppe Hoffmann und der Roeder-Grup-
pe umgebracht wurden.
Es geht nicht um Aufrechnung. Statt-
dessen ließe sich eine Geschichte der un-
terschiedlichen Wahrnehmungen durch
die politische Elite und die Medien erzäh-

len: Die RAF zielte auf Staatssekretäre
und Arbeitgeberpräsidenten, die rechten
Terroristenschon damalsaufvietnamesi-
sche Asylbewerber, auf Juden oder auch
auf Besucher des Oktoberfestes.
Die gewaltbereite Mobilisierung des
rechtsextremen Milieus im Westen ließ
sich nach 1989 in die neuen Bundesländer
ausdehnen. Die erfahrenen westdeut-
schen Kader organisierten im Hinter-
grund die rechtsterroristische Gewaltex-
plosionderNeunzigerjahre.Dasorganisa-
torische Muster hält sich bis heute: Viele
Führungspersonen in ostdeutschen AfD-
LandesverbändenstammenausdemWes-
tenundbringensehroftrechtsextremeEr-
fahrungen mit. Es ist nicht übertrieben zu
sagen: Die radikale Rechte gehört zu den
Vereinigungsgewinnern.
Auch mentalitätsgeschichtlich wirkt
die Wiedervereinigung fort. Die Freude
über die friedliche Revolution von 1989
wich schnellderNotwendigkeit,eingeein-
tes Deutschland aufzubauen. Der bis heu-
teanhaltendenSelbsterforschung,obbei-
de Teile des Landes schon zueinander ge-
funden hätten, liegt eine nationalistische
Schimärezugrunde:eineechteinnereEin-
heit, ohne Konflikte.
Kannesdaheutewirk-
lich überraschen, dass
rechte Kräfte diese
Sinnsuche in ihre Ho-
mogenitätsformeln
umgießen: „Wir sind
das und vor allem ein
Volk!“
Juden dienten bei
diesem so deutschen
Verlangen nach inne-
rer Reichsgründung
seit dem 19. Jahrhun-
dert als Gegenmodell.
FürdieradikalenRech-
ten verkörpern sie
nochimmerdasantina-
tionale,internationalis-
tische und heimatlose Prinzip, gegen das
sich eine gefestigte deutsche Identität be-
haupten muss. Genau darauf zielt Björn
Höcke,wennerjetztvondem„völkerauflö-
senden und als pervers zu bezeichnenden
Geist eines George Soros“ (wie die „Roth-
schilds“ inzwischen eine internationale
Chiffre für Juden) schwafelt. Auch der At-
tentäter von Halle begründete seine Tat
mit der Verschwörungstheorie vom „Gro-
ßenPlan“undzieltezugleichaufdieweite-
renFeindedesrechtenHomogenitätsden-
kens („Ausländer“, Flüchtlinge, Feminis-
tinnen, Homosexuelle etc.).
Die neue Rechte und ihr parlamenta-
rischer Arm, die AfD, haben die Vereini-
gungsrhetorik,dieRedevoneinemhomo-
genen Ganzen, seit Langem radikalisiert,
während die gesellschaftliche Mitte noch
um ein plurales Narrativ für die deutsche
Nation ringt. Der Rechtsterrorismus
dreht die Schraube weiter: Homogenität
soll gewaltsam hergestellt und jegliche
Pluralität beseitigt werden.
Es geht nicht darum, die Wiederver-
einigung zu verdammen, deren national-
staatlicheLogikdurchdieVereinigungEu-
ropas konterkariert wurde. Es gilt zu be-
denken, dass die radikale Rechte und der
rechte Terror zu den Gewinnern der deut-
schen Einheit gehören. Sicherlich verdre-
hen sie deren Logik, wenn sie sie aufgrei-
fen und in ihrem Sinne radikalisieren. Für
die Demokraten kommt es daher darauf
an, 30Jahre nach dem glücklichen Fall
der Mauer endlich ein plurales, inklusives
und gewaltfreies Einheitsnarrativ herzu-
stellen –und dannentschlossenzu vertei-
digen.

Uffa Jensen, 50, ist Historiker am Zentrum für Anti-
semitismusforschung der TU Berlin.

Karl-Markus Gauß, 65,
ist österreichischer
Schriftsteller und Essayist.
Er lebt in Salzburg.

Nutznießer


Der terroristische Anschlag in Halle weist auf
ein lange verdrängtes Problem: Die radikale Rechte
gehört zu den Gewinnern der Wiedervereinigung

VON UFFA JENSEN


Die Rhetorik von der Einheit
wird in Homogenität
umgedeutet:
„Wir sind das
und vor allem ein Volk.“

Bei Donald Trump
wird sogar
eine so simple Sache
wie das Händeschütteln
gefechtstauglich

(^6) MEINUNG Freitag, 18. Oktober 2019, Nr. 241 DEFGH
ZEICHNUNG: ULRIKE STEINKE
STEINKES ANSICHTEN
Herbstliche Klänge
Wir Barbaren
Nicht nur im Netz verroht die Sprache, bezichtigen Hetzer
sich gegenseitig der Hetze. Doch wer die Höflichkeit
verliert, stürzt zurück in stumpfsinnige Abgeschiedenheit
VON KARL-MARKUS GAUSS
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München
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Stugart
05.11.
Dresden
06.11.
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