Süddeutsche Zeitung - 18.10.2019

(Jacob Rumans) #1
14 SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN

SZ-MAGAZIN Statt zu fragen, wo Sie über-
all waren, beginnt man besser damit, Sie
zu fragen, wo Sie nicht waren.
GUNTHER HOLTORF Im Wesentlichen feh-
len mir drei Länder: der Tschad, Südsudan
und Somalia. In diesen Staaten schießen die
Leute schon mal, bevor sie fragen, was man
eigentlich will. Zum Südsudan muss man
sagen, dass es ihn erst seit 2011 gibt. Dazu
kommen ein paar Atolle in der Südsee, Kiri-
bati zum Beispiel. Aber meine Reisen haben
ja immer im Auto stattgefunden, in einem
Geländewagen von Mercedes, genannt Otto.
Auf einigen Atoll-Staaten kann man aber
nicht mal richtig fahren.
Sie haben einen Autounfall auf Mada-
gaskar überlebt und in Simbabwe einer
Hyäne in die Augen geblickt, so berich-
ten Sie es im Buch Otto, das Sie über Ihre
26-jährige Tour um die Welt geschrie-
ben haben. Nun geben Sie auf, so kurz
vor dem Ziel?
Als es losging, war mein Ziel ja nicht, jedes
einzelne Land der Welt zu bereisen. Heute
höre ich von jungen Menschen, sie hätten so
einen Lebensplan. Ich hatte nicht mal einen
Monatsplan. Mir ging es um Freiheit. Nicht
in einem Abhängigkeitsverhältnis arbeiten
zu müssen, bis mich jemand in eine Holz-
kiste legt.
Ihre große Fahrt begann Ende 1989
mit einer Kontaktanzeige in der Zeit.
Sie dauerte 26 Jahre, führte Sie mehr
als 899 000 Kilometer weit, durch fünf
Kontinente, immer im selben Auto,
Matratzen im Kofferraum ...
Halt, halt, halt. Um zu begreifen, wie es dazu
kam, muss man viel früher beginnen.
Wie viel früher?
Am Anfang, in Göttingen, 1937. Da bin ich
geboren. Zu meinen ersten Erinnerungen
gehört, wie ich mich weigerte, meiner Mut-
ter in den Luftschutzbunker zu folgen. Göt-
tingen lag in der Einflugschneise der Bom-
ber der Alliierten. Ich habe aufgestampft. In
dieses kalte Loch wollte ich nicht. Musste
ich aber, jede Nacht. Einmal explodierte
eine Bombe am Paradeplatz. Sie erwischte
einen Soldaten, der danach tot im Baum
hing.
Wie hat Sie der Krieg und die Nach-
kriegszeit geprägt?
1947 trug ich Winterschuhe, deren Kappen
mein Vater mir vorn abschneiden musste, als
sie zu klein wurden. Das Loch wurde not-
dürftig mit Stofflappen isoliert. In der Schu-
le gab es einmal wöchentlich Tomatensuppe.
Viele Schüler nahmen den Rest davon in
einem Henkelmann, einer Milchkanne, mit

nach Hause. Es war Winter, als eine Mitschü-
lerin mit ihrem vollen Henkelmann in der
Hand auf Glatteis stürzte und die Suppe ver-
schüttete. Ein Kriegsheimkehrer im Militär-
mantel sah das, kniete nieder und löffelte die
Suppe mit einer Kelle vom gefrorenen Bo-
den. Erlebnisse, die man nicht vergisst und
die man sich heute nicht mehr vorstellen
kann.
Erklären Sie sich mit diesen Erlebnissen
Ihren späteren Freiheitsdrang?
In diesen Jahren habe ich Biss entwickelt. Ich
begriff: Wenn ich etwas erreichen will, muss

GUNTHER HOLTORF


ist 82 Jahre alt – und laut dem
Guinness-Buch der Rekorde der Mensch,
der die meisten Staaten im selben
Auto bereist hat, nämlich 180. Holtorf
selbst zählt auch von der UN nicht
anerkannte Länder dazu und kommt
auf 215. Die freundlichsten Leute,
sagt er, leben in Ghana. Auf ottosreise.de
hat er seine Reise Land für Land
dokumentiert. Sein Geländewagen
»Otto« steht mittlerweile im Mercedes-
Benz Museum in Stuttgart.
Fotos: Gunther Holtorf, Sima Dehgani (1)

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