Süddeutsche Zeitung - 18.10.2019

(Jacob Rumans) #1
schnell besser wird. Ich bin einfach immer
weitergefahren. Bei den heutigen Jungen ist
das was anderes. Hoher Lebensstandard,
aber auch gelegentlich ein noch höherer
Jammerstandard.
2003 änderte sich alles. Ihre Frau
wurde krank.
Zunächst änderte sich gar nicht so viel. Wir
waren zu Hause, als meine Tochter ent-
deckte, dass mit Christines Gesicht etwas
nicht stimmte. Ein Arzt diagnostizierte eine
Fazialislähmung. Vier Jahre lang reisten wir
weiter, erst 2007 entdeckte ein HNO-Arzt,
dass es sich um einen bösartigen Tumor han-
delte. Nach umgehender OP und Strahlen-
therapie hatte sie in der Genesungsphase die

Kraft für eine weitere Reise, die zu einem
unserer Highlights wurde: Wir bereisten
neun Monate lang die Karibik.
Wie kamen Sie von Insel zu Insel?
Wir mussten Otto verschiffen, wieder und
wieder, oft nur auf einem Bananenkutter.
Einmal, von St. Kitts und Nevis nach Mont-
serrat, luden wir ihn auf eine Nussschale,
Otto stand vorne und hinten über, wir sa-
ßen 17 Stunden lang wie gebannt im Auto
und hofften, dass wir bei der Schaukelei
nicht im Wasser landen. In Kuba unter-
zeichnete Raúl Castro persönlich unsere
Einreisegenehmigung, auf St. Lucia war
unsere Ankunft ein Tagesordnungspunkt
bei der wöchentlichen Kabinettssitzung.
Auf Jamaika schliefen wir auf einem
Friedhof neben dem Mausoleum dieses be-
rühmten Reggae-Sängers, wie hieß der
noch?
Bob Marley?
Genau. Christine kannte ihn. Mir sagte der
Name wenig.
Nach der Karibiktour musste Ihre Frau
dann unbedingt in Behandlung.

Sie bekam eine Chemotherapie. Es ging ihr
schlechter, sie wollte allein sein. Mir sagte sie,
ich solle ohne sie weiterreisen. Auch Martin
besuchte sie nur einmal die Woche.
Sprachen Sie über den Tod?
Wir haben über alles gesprochen. Wenn man
zusammen im Auto sitzt, tagein, tagaus. Sie
sagte immer, sie würde mir bald von oben
auf Wolke 13 sitzend zuschauen, wie ich un-
sere Tour beende.
Vorher heirateten Sie noch.
Wir wollten es längst gemacht haben, aber
immer war uns was dazwischengekommen.
Wir heirateten in unserer Heimatgemeinde
am Chiemsee. Sie war schon unglaublich
schwach, das Gesicht eingefallen. Die Stan-

desbeamtin fragte sie, ob sie zum Ja-Wort
aufstehen wolle. Sie sagte im Scherz: »Ich
weiß noch gar nicht, ob ich Ja sage.« Zwei
Wochen nach der Hochzeit starb sie.
Sie brachen kurz darauf erneut auf,
zusammen mit Martin. War das Ihre Art
zu trauern?
Ja, wir hängten ein Bild von Christine an
den Rückspiegel und fuhren los. Sie hat uns
wahrscheinlich von oben zugeschaut. Inner-
halb von drei Monaten fuhren wir durch
den Nahen Osten und verschifften nach Sri
Lanka. Später nach Singapur und Hong-
kong. Dann folgten Macau und 30 000 km
in China. Wir durften auch nach Tibet und
eine Nacht im Everest Base Camp verbrin-
gen, auf 5200 m Höhe. Auf drei Hauptpro-
bleme wurde ich im Laufe der ganzen Jahre
aufmerksam. Erstens: Wir sind heute schon
zu viele Menschen auf der Welt. Zweitens:
Jeder will, was verständlich ist, morgen bes-
ser leben als heute. Daraus folgt, drittens:
Die Ressourcen der Welt werden der Nach-
frage ihrer Bevölkerung nicht standhalten.
Die Grundlage für den Klimawandel.

Sie machen sich Zukunftssorgen?
Das sollten wir alle. Politiker bei uns kön-
nen sich nur bedingt vorstellen, was uns
droht. Oder sie sprechen nicht darüber. Zu
befürchten sind Flüchtlingsbewegungen in
gigantischem Ausmaß, Kriege um Wasser
und andere Ressourcen. Millionen Chine-
sen nutzen heute Toiletten und Duschen
und verbrauchen plötzlich mehr Wasser, als
verfügbar ist. Die Bevölkerung wächst jedes
Jahr um 80 Millionen Menschen, das sind
220 000 Menschen am Tag, das ist die Ein-
wohnerzahl von Mainz. Andererseits: Der
Schengen-Raum, das grenz- und kriegsfreie
Europa, ist eine der gigantischsten Errun-
genschaften, die es jemals gab in der Ge-
schichte der Menschheit.
Sie haben auch Länder gesehen, die sich
abschotten. Nach dem Tod Ihrer Frau
reisten Sie 2011 mit Ihrem Sohn Martin
nach Nordkorea.
Als erster ausländischer Tourist mit dem ei-
genen Auto! Eine unglaubliche Geschichte.
Wir schilderten der deutschen Botschaft in
Pjöngjang unser Anliegen. Die Botschaft
schickte eine Verbalnote ans Außenministe-
rium. Fünf Monate lang hörten wir nichts.
Plötzlich bekamen wir die Bestätigung,
mussten aber weitere fünf Monate auf die
Einreise warten. Von Dalian in China aus
durften wir Otto mit einem Containerschiff
nach Nampo verschiffen. Das Problem: Die
Chinesen erlaubten nicht, dass wir auf dem
Schiff mitfahren, nur Otto durfte das. Da
passierte etwas Merkwürdiges: Pjöngjang
ließ das Schiff zwei Tage warten und machte
so lange Druck auf die Chinesen, bis wir an
Bord durften.
Warum glauben Sie, wollten die Nord-
koreaner Sie ins Land holen?
Die erhofften sich Goodies von Deutschland,
das sagte uns ein Botschaftsvertreter.
Was haben Sie gesehen?
Wir setzten nach Nampo über, dort begann
das Programm mit zwei deutschsprachigen
Aufpassern, die wiederum vom Fahrer des
Begleitfahrzeugs kontrolliert wurden. Au-
ßer uns gab es kaum ein anderes Auto auf
den Straßen, alle paar Kilometer mussten
wir Checkpoints passieren, an jeder Kon-
trolle wusste man, dass und wann wir kom-
men. Ich musste auf Toilette und durfte
nicht, weil sogar die Pinkelpausen Teil der
Choreografie waren. Wir haben natürlich
vor allem gesehen, was die wollten. Die Ar-
mut aber konnten sie nicht verbergen. Ein-
mal fotografierte ich heimlich eine Frau, die
Gras am Straßenrand abschnitt. Vermutlich,
um es zu essen.

20 SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN

»IN NORDKOREA HABEN


WIR NATÜRLICH VOR ALLEM


GESEHEN, WAS DIE WOLLTEN.


DIE ARMUT ABER KONNTEN


SIE NICHT VERBERGEN«


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