Süddeutsche Zeitung - 18.10.2019

(Jacob Rumans) #1
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Berlin– Der Bundestagspräsident setzte
den ersten Akzent. Wolfgang Schäuble
nannte keinen Namen, aber es war klar,
wer gemeint war. Der Anschlag auf die Syn-
agoge in Halle in der vergangenen Woche
habe das bedrohliche Ausmaß rechtsextre-
mer Gewaltbereitschaft erneut offenbart,
sagte Schäuble am Donnerstagmorgen in
einer kurzen Ansprache zu Beginn der Ple-
narsitzung. „Dass noch in Twitter-Reaktio-
nen auf diese vom Judenhass getriebene
Tat weiter mit der Ab- und Ausgrenzung
von Menschen gespielt wird, ist unerträg-
lich.“ Auch wer durch das Verbreiten sol-
cher Nachrichten versuche, „die Grenzen
des Anstands weiter auszutesten“, stelle
sich „außerhalb des Grundkonsenses, auf
dem unsere demokratische Ordnung be-
ruht“, tadelte der Bundestagspräsident.
Und Schäuble fügte hinzu: „Das gilt erst
recht für Mitglieder dieses Hauses.“
Dafür gab es von allen Fraktionen Ap-
plaus, vereinzelt sogar von AfD-Abgeord-
neten – und das obwohl offenkundig ihr
Fraktionsmitglied Stephan Brandner ge-
meint war. Brandner, der auch Vorsitzen-
der des Rechtsausschusses im Bundestag
ist, hatte nach dem Terroranschlag einen
Tweet verbreitet, in dem gefragt wurde,
warum Politiker nach dem Anschlag „mit
Kerzen in Moscheen und Synagogen rum-
lungern“, obwohl die beiden Todesopfer
doch Deutsche gewesen seien. Er war da-
für in den letzten Tagen massiv kritisiert
worden, auch von Abgeordneten anderer
Fraktionen im Rechtsausschuss.

Auch in der folgenden Debatte zum Anti-
semitismus in Deutschland spielte dieser
Vorgang immer wieder eine Rolle, nicht zu-
letzt als Symbol für den Streit über eine
Mitverantwortung der AfD für die Tat in
Halle. Bundesinnenminister Horst Seeho-
fer (CSU) sprach den Fraktionsvorsitzen-
den der AfD direkt an: „Lieber Herr Gau-
land“, so Seehofer, „ich fordere Sie einfach
auf, distanzieren Sie sich von solchen Äuße-
rungen.“ Doch Alexander Gauland dachte
gar nicht dran. „So lange ein Mitglied der
Bundesregierung sagen kann, die AfD sei
der politische Arm des Rechtsterrorismus,
entschuldige ich mich hier für nichts“,
schimpfte der AfD-Politiker. Er bezog sich
damit wiederum auf eine Äußerung des
Staatsministers im Auswärtigen Amt, Mi-
chael Roth (SPD), der gesagt hatte: „Im
Deutschen Bundestag und in den Landta-
gen sitzt der politische Arm des Rechtster-
rorismus. Und das ist die AfD.“
Für alle Parteien, außer der AfD, schei-
ne klar zu sein, „dass wir ein Klima geschaf-
fen haben, dass solche Taten möglich
sind“, so Gauland. Er gestatte sich die Fra-
ge, „wer denn das Klima geschaffen hat,
das den Anschlag vom Breitscheidplatz
möglich gemacht hat“. Bei einem Anschlag
eines islamistischen Terroristen im Dezem-
ber 2016 auf dem Weihnachtsmarkt auf
dem Breitscheidplatz in Berlin waren
zwölf Menschen getötet worden. Das Kli-
ma dafür habe die Bundesregierung mit
der Ausrufung der Willkommenskultur ge-
schaffen, sagte Gauland. „Wenn wir der po-
litische Arm des Rechtsterrorismus sind,
dann wären Sie der politische Arm des isla-
mistischen Terrors in diesem Land.“

Die Reaktionen blieben nicht aus. Justiz-
ministerin Christine Lambrecht (SPD) sag-
te, Gaulands Beschimpfungen seien eines
Politikers im Bundestag „nicht würdig“ ge-
wesen. Die Linken-Abgeordnete Petra Sit-
te sagte, Brandner verhöhne „in unglaubli-
cher Weise die Opfer“. Grünen-Fraktions-
chefin Katrin Göring-Eckardt hielt Gau-
land vor, die AfD vor dem Hintergrund des
Anschlags in Halle und der Angst der Be-
troffenen als Opfer darzustellen. Das sei
„die nächste Form der Schande in diesem
Land“, so die Grünen-Politikerin.
Gut drei Stunden nach dem Ende der De-
batte erteilte Bundestagsvizepräsident
Hans-Peter Friedrich (CSU) dann Stephan
Brandner das Wort. Brandner sagte, er ha-
be die Äußerungen in dem ersten Tweet,
den er weiter verbreitet hatte, „von Anfang
an nicht geteilt“. Im Plenum gab es darauf-
hin Lacher und Zwischenrufe. Brandner be-
richtete, dass er die Möglichkeit gehabt ha-
be, sich „zehn, fünfzehn Minuten“ mit
Schäuble auszutauschen. Der habe ihm
„vor Augen geführt“, welche Probleme die-
ser Retweet „in der Außenwirkung“ verur-
sacht habe. Deshalb wolle er sich entschul-
digen, „wenn sich Menschen von mir ange-
griffen oder schlecht behandelt gefühlt hät-
ten“. Warum er den Tweet überhaupt ver-
breitete, sagte er nicht. nico fried

Berlin– Verteidigungsministerin Anne-
gret Kramp-Karrenbauer setzt sich immer
deutlicher von ihrer Vorgängerin Ursula
von der Leyen ab. Die Ministerin hat nun
die Privatisierungspläne für die drei Wer-
ke der Heeresinstandsetzungslogistik
(HIL) gestoppt. Die Tochterfirma des Bun-
des wartet unter anderem die Panzer der
Truppe. Das Projekt werde „nicht weiter-
verfolgt“, heißt es in einem Grundsatzpa-
pier, das derSüddeutschen Zeitungvor-
liegt. Die Privatisierungspläne hatten bei
den etwa 1000 Beschäftigten für große Ver-
unsicherung gesorgt.
Kramp-Karrenbauer (CDU) beendet da-
mit einen jahrelangen Streit. Unter ihrer
Parteikollegin von der Leyen hatte das Mi-
nisterium ab Mai 2016 mehr als 20 Millio-
nen Euro in Gutachten und Rechtsbera-
tung investiert und das Vorhaben mit gro-
ßem Druck vorangetrieben. Mittlerweile
beschäftigen die Vorgänge um die HIL-
Werke den Untersuchungsausschuss des
Bundestages, der sich mit rechtswidrigen
Auftragsvergaben an externe Berater im
befasst. Auch bei den Vorbereitungen zur
Privatisierung der HIL-Werke soll es zu Un-
regelmäßigkeiten gekommen sein. Kramp-
Karrenbauer war bereits als Ministerpräsi-
dentin des Saarlandes mit dem Thema kon-
frontiert: Im saarländischen Sankt Wendel
steht eines der drei Werke mit etwa 400 Be-
schäftigten. Der Landtag sprach sich 2016
für den Erhalt der Werkstätten unter Regie
des Bundes aus. Auch die SPD war gegen
die Privatisierung.
„Die soziale Verantwortung der öffentli-
chen Hand für die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter der HIL wird bewusst wahrge-
nommen“, heißt es nun im Grundsatzpa-
pier. „Mit dem wertvollen Fachpersonal
und dessen umfangreichen Erfahrungs-
schatz kann die Bundeswehr flexibel und
selbständig geeignete Instandsetzungs-
maßnahmen durchführen.“ Der Bund müs-
se nun in die Werke investieren. Die Bun-
deswehr wachse wieder, somit gebe es
auch für die Instandsetzer mehr zu tun.
Der Investitionsbedarf wird mit etwa 160
Millionen Euro angegeben. Mit weiteren
Kosten rechnet das Ministerium durch „et-
waige Schadensersatzansprüche für die
verfahrensbedingten Aufwendungen aller
Bieter“. Interessenten für die HIL hatten be-
reits Angebote abgeben können.
Bereits zum zweiten Mal korrigiert
Kramp-Karrenbauer seit ihrem Amtsan-
tritt im Juli die Politik ihrer Vorgängerin.
Zuvor hatte sie die Debatte um eine mögli-
che Teilprivatisierung des Beschaffungs-
amtes in Koblenz beendet. Auch hier hatte
von der Leyen eine Radikalreform ange-
strebt. Die Behörde steht in der Kritik, weil
sie es nicht schafft, die Truppe rechtzeitig
mit erforderlichem Material auszustatten.
Sie leidet vor allem darunter, dass Hunder-
te Stellen unbesetzt sind. Kramp-Karren-
bauer will vermeiden, dass mit einem gro-
ßen Umbau das Amt komplett lahmgelegt
wird. mike szymanski  Seite 4

von ralf wiegand

Hamburg– Judy Meisel war ein Mädchen
von 13, vielleicht 14 Jahren, als sie ihre Mut-
ter zum letzten Mal sah. Sie standen mit
den anderen Frauen, die im Konzentrati-
onslager Stutthof eingesperrt waren, be-
reits entkleidet vor der Gaskammer. Judy
schaffte es, zur Baracke zurückzulaufen.
Ihrer Mutter gelang das nicht. „Stutthof
war der organisierte Massenmord der SS,
ermöglicht durch Wachmänner. Sie sorg-
ten dafür, dass keiner aus dieser Hölle ent-
kommen konnte.“
Die Worte von Judy Meisel, die heute
90 Jahre alt ist und in den USA lebt, trägt
ihr Anwalt in einem Hamburger Gerichts-
saal vor. Meisel ist nicht mehr in der Lage,
persönlich dem Prozess in Deutschland zu
folgen, der seit diesem Donnerstag dem
Hamburger Rentner Bruno D. gemacht
wird. Sie, die Überlebende, gehört zu den
Nebenklägerinnen. D., heute 93 Jahre alt,
war Wachmann im Lager Stutthof. Er war
17 Jahre alt, als er zur Wehrmacht eingezo-
gen, für kriegsuntauglich befunden und
ins KZ in der Nähe von Danzig abkomman-
diert wurde, er stammt aus der Gegend.
Wie viel persönliche Schuld trägt er am
Tod von mindestens 5230 Menschen, die
in der Zeit seines Dienstes vom 9. August
1944 bis zum 26. April 1945 in dem Ver-
nichtungslager zu Tode kamen?

Große Schuld, glaubt die Staatsanwalt-
schaft. Sie wirft Bruno D. Beihilfe zum
Mord in ebendiesen 5230 Fällen vor. Sein
Anwalt sagt, mit dem späten Prozess solle
„das Versagen bei der Aufarbeitung dieser
Verbrechen“ wiedergutgemacht werden –
das Versagen der alten Bundesrepublik, in
der die ehemaligen Nazis auch in der Justiz
gesessen hätten. Zu jener Zeit seien nur die
Organisatoren und jene, die direkt am Tö-
ten beteiligt waren, zur Rechenschaft gezo-
gen worden. Wäre es anders gewesen, sagt
der Anwalt, „die Juristen hätten sich selbst
auf die Anklagebank setzen müssen“. Jahr-
zehntelang habe sich niemand für Wach-
leute und andere Bedienstete interessiert,
auch wenn die Justiz wusste, wo sie einge-
setzt worden waren.
Diese Nichtaufarbeitung sei skandalös
gewesen, aber sein Mandant Bruno D.
habe annehmen dürfen, unschuldig zu
sein am Massenmord. Schon 1975 hätten
Vorermittlungen gegen ihn stattgefunden,
ohne Anklage, und 1985 habe D. als Zeuge
in einem anderen Verfahren über seine
Wachmann-Vergangenheit ausgesagt. Es
hatte keine Folgen. Nun sehe er „sein gan-
zes Leben infrage gestellt“.
Tatsächlich: Erst seit 2016, als der Bun-
desgerichtshof eine vierjährige Haftstrafe
für den Auschwitz-Bediensteten Oskar
Gröning bestätigte, reicht die „allgemeine
Dienstausführung“ aus, um sich mögli-
cherweise schuldig im Sinne einer Mordan-
klage gemacht zu haben. Schon zuvor, im

Prozess gegen den KZ-Helfer John Demjan-
juk, hatte sich diese Haltung der deut-
schen Justiz gezeigt. Nur diese neue Recht-
sprechung, sagt D.s Anwalt, sei der Grund
für den Hamburger Prozess.
Hätte sich D. seiner Aufgabe entziehen
können, durch Versetzung? Hätte er Men-
schen retten können? Hat er, noch lange
nicht volljährig und nicht freiwillig an die-
sem Ort, geholfen, Menschen zu töten, weil
er auf Wachtürmen im Schichtdienst auf-
passte, dass niemand floh? Die Staatsan-
waltschaft ist sicher, dass D. „bis ins Detail
Kenntnis“ von dem gehabt haben musste,
was im KZ geschah. Menschen wurden
heimtückisch erschossen und vergast.

Mehr als 60 000 Menschen sind im Lager
Stutthof umgebracht worden.
Bruno D. ist ein alter Mann und sitzt im
Rollstuhl. Der Rechtsstaat, der heute seine
Rolle im NS-Unrechtsstaat aufklären soll,
schützt den alten Mann, so gut es geht.
Kein Verhandlungstag dauert länger als
zwei Stunden, D. bekommt Pausen, sobald
er sie braucht. Drei Ärzte sind im Saal, sei-
ne Familie wird vor Filmaufnahmen ge-
schützt. Er wird nach allen Prozessbeteilig-
ten als Letzter in den Saal geschoben und
als Erster hinaus, damit er unbehelligt
bleibt. Gegen ihn wird vor einer Jugend-
strafkammer des Landgerichts verhan-
delt, weil er zum Zeitpunkt der ihm vorge-

worfenen Taten noch ein Teenager war.
Vor 75 Jahren.
Der Prozess, sagt einer der Nebenkläger-
Anwälte, sei „das beste Heilmittel gegen
rechtsradikale Botschaften und den Hass“.
Gerade nach dem Anschlag von Halle und
dem Mord an Walter Lübcke sei dieses Ver-
fahren „dringend notwendig“. Auch die
Vorsitzende Richterin begründete die Zu-
lassung von Medien, von Historikern, von
vielen Angehörigen der in Stutthof Ermor-
deten mit der „gerade in Zeiten zunehmen-
der rechtsradikaler Gewalt“ großen Bedeu-
tung des Verfahrens. Kommende Woche
will sich der Angeklagte, der im Gericht zu-
nächst geschwiegen hat, selbst äußern.

Kramp-Karrenbauer


stoppt Privatisierung


Lange her und doch so nah


Vor 75 Jahren war Bruno D. Wachmann im KZ Stutthof. Nun muss er sich
vor Gericht verantworten. Der Vorwurf: Beihilfe zum tausendfachen Mord

Berlin– Wie verheerend Cyberangriffe ver-
laufen können, bekamen erst im Septem-
ber die rund 44000 Einwohner der nieder-
sächsischen Stadt Neustadt am Rübenber-
ge zu spüren. Mit einem Schadprogramm
namens Emotet hatten Angreifer mehr als
eine Woche lang das gesamte IT-System
der Stadtverwaltung lahmgelegt. Die Com-
puter im Rathaus blieben aus, die Kfz-Zu-
lassungsstelle geschlossen. Anfragen wur-
den von den Mitarbeitern des Bürgerbüros
nur noch mündlich beantwortet. Das Lan-
deskriminalamt nahm die Ermittlungen
auf – doch wer hinter dem Angriff steckte,
ist immer noch unklar.
Fälle wie dieser häufen sich, in den ver-
gangenen Wochen wurden auch Kliniken
im Saarland, die Medizinische Hochschule
in Hannover und das Kammergericht in
Berlin attackiert. Die Quantität und die

Qualität der Cyber-Angriffe in Deutsch-
land nehmen zu. Nicht nur Wirtschaftsun-
ternehmen sind betroffen, sondern zuneh-
mend auch öffentliche Einrichtungen, die
oft als eine Art Beifang zu Opfern werden.
Diese zentralen Erkenntnisse gehen aus
dem aktuellen Lagebericht 2019 über die
IT-Sicherheit in Deutschland hervor. Der
Präsident des zuständigen Bundesamts
für Sicherheit in der Informationstechnik
(BSI), Arne Schönbohm, stellte den Bericht
am Donnerstag in Berlin mit Innenminis-
ter Horst Seehofer (CSU) vor.
Mit der rasant wachsenden Digitalisie-
rung gehe eine „hoch angespannte Gefähr-
dungslage“ einher, betonte Schönbohm.
Man müsse die steigenden Risiken kalku-
lierbar und beherrschbar halten. Innenmi-
nister Seehofer wies angesichts der Gefähr-
dungslage daraufhin, dass im laufenden

Haushaltsjahr 350 neue Stellen für das BSI
bereitgestellt wurden. In Freital in Sach-
sen werde außerdem eine Außenstelle mit
200 Beschäftigten entstehen.
BSI-Präsident Schönbohm unterlegte
die neue Gefährdungslage mit beunruhi-
genden Zahlen. Allein im Laufe des Be-
richtszeitraumes zwischen Juni 2018 und
Ende Mai 2019 sind seine Mitarbeiter dem-
nach auf 114 Millionen Varianten von neu-
en Schadprogrammen gestoßen. Allein in
deutschen Regierungsnetzen hätten sie et-
wa 770 000 Mails mit Schadprogrammen
abgefangen. Die Zahl solcher Programme
sei inzwischen auf mehr als 900 Millionen
gestiegen, allein im September seien pro
Tag etwa 450 000 hinzugekommen. Der
Großteil basierte demnach auf der Schad-
software Emotet, die auch schon in Neu-
stadt am Rübenberge zugeschlagen hatte.

Nach Einschätzung des BSI ist Emotet
derzeit eine der größten Bedrohungen für
die IT-Sicherheit. Auf den infizierten Syste-
men liest das Schadprogramm mehrere
Wochen lang die Kontaktbeziehungen und
E-Mail-Inhalte der Postfächer aus, um mit
den geklauten Daten durch das sogenann-
te Outlook-Harvesting neue Spamnach-
richten zu verschicken. Wegen der korrek-
ten Namen wirken diese Nachrichten auf
viele Nutzer glaubwürdig. Sie öffnen infi-
zierte Anhänge wie Office-Dokumente
oder klicken auf schädliche Links. Bei Fir-
men fordern die Kriminellen anschließend
oft ein hohes Lösegeld.
Beschäftigt war das BSI auch mit vorin-
stallierter Schadsoftware auf Smart-
phones und Tablets. Schwachstellen wur-
den zudem bei Softwareprodukten auf
iPhones, bei Microsoft Windows und

Whatsapp festgestellt. Umfangreiche Iden-
titätsdiebstähle registrierte das BSI bei
Facebook, der Hotelkette Marriott und
dem großen Datenklau Anfang des Jahres,
bei dem ein 20-jähriger Schüler aus Hes-
sen die persönlichen Daten von Hunderten
Politikern veröffentlicht hatte.
All die Beispiele zeigten, so Schönbohm,
dass Informationssicherheit die Vorausset-
zung für eine erfolgreiche Digitalisierung
sei. „Das müssen wir als Gesellschaft begrei-
fen. Das muss in Fleisch und Blut überge-
hen.“ Helfen soll dabei das IT-Sicherheitsge-
setz 2.0. Das BSI soll mehr Kompetenzen in
der Prävention von Cyber-Kriminalität er-
halten, indem es etwa verpflichtende Min-
deststandards in der IT-Sicherheit setzen
und kontrollieren darf. Ein Kabinettsent-
wurf ist frühestens im Frühjahr 2020 zu er-
warten. benjamin emonts

München– Die Frau muss sich seit Mona-
ten wegen Mordes durch Unterlassen ver-
antworten. Sie soll ein fünfjähriges Mäd-
chen verdursten haben lassen, im Sommer
2015, in der sengenden Sonne von Fallud-
scha, als der sogenannte Islamische Staat
über die irakische Stadt herrschte.
Jennifer W., 28, aus Lohne in Westfalen,
war damals die Ehefrau eines IS-Kämp-
fers. Sie war als junge Frau zum Islam kon-
vertiert und wollte sich dem IS anschlie-
ßen. Gemeinsam hielten sie und ihr Mann
eine Jesidin und ihre kleine Tochter als
Haussklaven gefangen. Als der Mann sich
über das Kind ärgerte, bestrafte er es in
schier unglaublicher Weise: Er schleifte
das Kind bei rund 50 Grad im Schatten in
den Hof, band es an ein Fenstergitter und
ließ es in der prallen Sonne hängen. Das
Kind starb.
Seit April steht Jennifer W. vor dem
Oberlandesgericht München – weil sie ih-
ren Mann nicht von der Tat abgehalten
und dem Kind nicht geholfen hat. So be-
schuldigt sie die Bundesanwaltschaft. Ihr
Mann war nach der Tat untergetaucht, sie
selbst schwanger nach Deutschland zu-
rückgekehrt. Die Justiz hatte lange nur Jen-
nifer W., um die Tat aufzuklären.
Nun aber wurde ihr früherer Ehemann
in Griechenland festgenommen, der mut-
maßliche Mörder des Kindes, und in der
vergangenen Woche nach Deutschland
ausgeliefert. Noch im November soll er in
dem Verfahren gegen Jennifer W. gehört
werden, als Zeuge. Als er in Karlsruhe dem

Ermittlungsrichter vorgeführt wurde,
schwieg Taha al-J., 27, ein gebürtiger Ira-
ker. Er hat dieses Recht zu schweigen,
wenn er sich durch eine Aussage selbst be-
lasten würde. In Griechenland soll er ange-
geben haben, er habe Angst vor seiner
Frau, die seinen Tod wolle. Das Zusammen-
treffen der beiden vor Gericht in München
könnte aufschlussreich werden.

Die Bundesanwaltschaft bereitet be-
reits eine eigene Anklage gegen ihn vor: we-
gen Völkermordes, Verbrechen gegen die
Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und
Menschenhandel sowie natürlich wegen
der Ermordung des kleinen Mädchens. Er
wird sich dann nächstes Jahr vor dem Ober-
landesgericht Frankfurt verantworten
müssen.
Für die Anwältin der ehemaligen Skla-
vin und Mutter des getöteten Kindes ist die
Festnahme von Taha al-J. ein großer Er-
folg. Diese Anwältin ist die weltweit tätige
Menschenrechtsanwältin Amal Clooney,
die dieses Verfahren als Pilotverfahren ge-
gen den IS sieht, auch wenn sie bisher
nicht im Gerichtssaal in München erschie-
nen ist. „Die Verhaftung von Taha al-J. ist
ein Meilenstein für die Überlebenden der
brutalen Verbrechen des IS“, erklärt Amal
Clooney. „Es ist weltweit das erste Mal,

dass ein IS-Mitglied wegen Völkermordes
vor Gericht gestellt wird.“ Sie beglückwün-
sche die deutschen Behörden zu ihrem En-
gagement und forderte, IS-Täter müssten
weltweit vor Gericht gebracht werden.
Im Prozess gegen den mutmaßlichen
Mörder ihrer Tochter wird auch die Mutter
der Fünfjährigen wieder auftreten. Sie hat
ihre Versklavung durch den IS überlebt

und ist jetzt in Deutschland. „Seit ihrer Be-
freiung hätte sie nie gedacht, dass sie ihm
(dem mutmaßlichen Mörder ihrer Toch-
ter;d. Red.) eines Tages vor Gericht gegen-
überstehen würde“, erklärt ihre deutsche
Anwältin Natalie von Wistinghausen.
Die ehemalige Sklavin hat bereits über
elf Tage im Prozess gegen Jennifer W. aus-
gesagt. Allerdings gestaltete sich das sehr

schwierig. Denn die Frau kann nicht lesen
und schreiben, sie kennt die Uhr nicht und
kann auch nur sehr eingeschränkt Zeitan-
gaben machen. Ihre Befragung drehte sich
immer wieder im Kreis, zunächst war der
Mann am Tod des Kindes schuld, dann soll
hinter allem die Frau gestanden haben. Ih-
re Aussagen wechselten nahezu täglich.
Diese Zeugin allein wäre als Beweismittel
kaum ausreichend.
Aber es gibt da eben auch noch die Äuße-
rung der Angeklagten Jennifer W. selbst.
Die wollte mit ihrer eigenen erst zwei Jahre
alten Tochter im Juni 2018 wieder zurück
zum „Islamischen Staat“. Sie vertraute
sich einem angeblichen Glaubensbruder
an, der sie in die Türkei bringen sollte. Und
im Auto erzählte sie dem „Bruder“ dann,
sie und ihr Mann hätten eine Sklavin und
ihre Tochter bei sich im Haus gehalten.
Und ihr Mann habe das kleine Mädchen
„mit Sonne bestraft“ und sie verdursten
lassen. Der „Bruder“ war ein Spitzel, das
Auto verwanzt.
Was damals in Falludscha allerdings ge-
nau vorgefallen ist, ist schwer aufzuklä-
ren. Die Mutter hatte sich mehrmals wider-
sprochen, wie das Kind am Fenster hing.
Der Rechtsmediziner geht davon aus, dass
das Kind wie bei einer Kreuzigung am Fens-
ter hing und schnell erstickte. Die Mutter
hatte erklärt, sie habe nicht gedacht, dass
ihr Kind sterbe. Dann aber könnte auch
Jennifer W. nicht erkannt haben, in wel-
cher Gefahr das Kind schwebte.
annette ramelsberger

(^8) POLITIK Freitag, 18. Oktober 2019, Nr. 241 DEFGH
1975 gab es schon einmal
Vorermittlungen.
Sie blieben folgenlos
Mit 93 Jahren vor der Jugendstrafkammer: Bruno D. soll geholfen haben, mehr als 5000 Menschen im KZ Stutthof zu
ermorden. Der Angeklagte sehe „sein ganzes Leben infrage gestellt“, sagt sein Anwalt. FOTO: DANIEL BOCKWOLDT / REUTERS
Wolfgang Schäuble am Donnerstag im
Bundestag. FOTO: BERND VON JUTRCZENKA/DPA
Die Menschenrechtsanwältin Amal Clooney beglückwünschte die deutschen Behör-
den, forderte aber, IS-Täter weltweit vor Gericht zu bringen. FOTO: TOLGA AKMEN / AFP
Für Amal Clooney, Anwältin der
Mutter des getöteten Mädchens,
ist die Festnahme ein Erfolg
Alle wissen,
wer gemeint ist
Schäuble verurteilt Tweet eines
AfD-Manns nach Anschlagvon Halle
Er möge sich von solchen
Aussagen distanzieren? AfD-Chef
Gauland denkt gar nicht dran
Angriff am Rübenberge
Cyberkriminelle attackieren mit Schadsoftware zunehmend auch Behörden und Kliniken. Die IT-Sicherheitsbehörde hofft auf mehr Kompetenzen
„Ein Meilenstein für die Überlebenden“
Ein IS-Terrorist soll 2015 im Irak ein Kind verdursten lassen haben, seine deutsche Ex-Frau ist angeklagt, weil sie nicht half. Nun wurde auch der Manngefasst
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