Handelsblatt - 18.10.2019

(Joyce) #1
„Ein Ende des EU-Türkei-Abkommens
machte die Dinge kein Jota besser,
sondern verschärfte die Lage, und zwar auf
dem Rücken der Schwächsten. “
Angela Merkel, Bundeskanzlerin, zu Forderungen, den
Flüchtlingspakt mit der Türkei zu stoppen.

Worte des Tages


CSU


Söder


im Glück


M


it dem CSU-Vorsitz und
dem Amt des bayerischen
Ministerpräsidenten habe
er seinen „Traumjob“ gefunden,
sagte Markus Söder diese Woche.
Das kann man ihm abnehmen –
nicht nur, weil er viele Jahre darauf
hingearbeitet hatte, seinem Rivalen
Horst Seehofer beide Posten abzu -
jagen. Söders Bekenntnis vor dem
CSU-Parteitag verdeutlicht: Hier
steht jemand in seinem politischen
Zenit. Der Verweis auf den Traum-
job in Bayern ist auch das Kokettie-
ren mit bundespolitischen Ambitio-
nen: Könnte er nicht auch Kanzler-
kandidat der Union werden?
Die Antwortet lautet: sehr un-
wahrscheinlich. Doch dass die Fra-
ge überhaupt gestellt wird, verdeut-
licht nicht nur die Schwäche der
CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-
Karrenbauer, sondern auch Söders
Stärke. Insofern kann er sich be-
rechtigte Hoffnung machen, bei
dem am Freitag beginnenden Par-
teitag mit einem guten Ergebnis
wiedergewählt zu werden.
Söder macht derzeit strategisch
vieles richtig. Auf polternde Auf -
tritte und populistische Zuspitzung
verzichtet er, stattdessen gibt er als
Ministerpräsident den fürsorgli-
chen Landesvater. Das ist auch die
Lehre aus dem desaströsen Ergeb-
nis der bayerischen Landtagswahl,
für das vor allem Seehofer verant-
wortlich gemacht wurde – auch
wenn Söder den damaligen Krawall-
kurs gegen die Kanzlerin mittrug.
Inhaltlich stellt sich Söder nun
viel breiter auf, gibt seiner Politik
eine grüne und soziale Note. Gleich-
zeitig treibt er eine Parteireform vo-
ran. Die CSU soll weiblicher, jünger
und digitaler werden. Der Parteitag
soll verschiedene Quoten beschlie-
ßen. Söder hat die CSU stabilisiert.
Die Partei ist jetzt auf ihn zuge-
schnitten – auch wegen der Schwä-
che der drei CSU-Bundesminister.
Als Kanzlerkandidat aber würde
sich Söder außerhalb Bayerns deut-
lich schwerer tun. Das weiß er. Zwei
Mal habe die CSU versucht, den
Kanzler zu stellen, sagte Söder gera-
de bei einer Feier in Berlin, und kei-
ne Sorge, dabei bleibe es. Ein
Scherz – aber den muss man erst
mal machen können.


Der bayerische Ministerpräsident
und CSU-Chef macht
derzeit strategisch vieles richtig,
meint Jan Hildebrand.

Der Autor ist stv. Leiter des
Hauptstadtbüros.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]


E


in Satz von Angela Merkel auf der ab-
schließenden Pressekonferenz des Mi-
nisterrats in Toulouse kennzeichnet das
aktuelle deutsch-französische Verhält-
nis: Warum es zwischen beiden Ländern
keine Probleme geben solle, fragte die Kanzlerin. In
der deutschen Innenpolitik komme es ja auch zu Dif-
ferenzen zwischen Bund und Ländern oder einzel-
nen Ländern, ohne dass man das als dramatisch an-
sehe. Die in eine Frage gekleidete Aussage hat etwas
Befreiendes. Wenn zwei Staaten seit fast 60 Jahren
so eng kooperieren wie Deutschland und Frank-
reich, kann man endlich anerkennen, dass Konflikte
normaler Teil der Zusammenarbeit sind.
Konflikte muss man allerdings lösen können. Aktu-
ell knirscht es beim deutsch-französischen Paar lau-
ter als vor ein paar Monaten, an mehreren Stellen:
Die eine betrifft die Rüstungs- und Verteidigungspo-
litik, die zweite die EU-Erweiterung und die dritte
die neue EU-Kommission.
Zum letzten Punkt zuerst. Frankreichs Präsident
Emmanuel Macron führt sich seit der Ablehnung sei-
ner Kommissarskandidatin Sylvie Goulard durch das
Europaparlament auf, als gebe es eine Verschwö-
rung gegen sein Land und als sei die Volksvertretung
in der Krise. Er sollte sich abregen und an einem klu-
gen Satz orientieren: „Europa kann sich jetzt keinen
kleinlichen Streit leisten.“ Den hat er selbst vor einer
Woche formuliert. Bei Wirtschaft, Verteidigung und
Erweiterung ist es etwas komplizierter. Da hat sich
einiger Zündstoff angesammelt zwischen Berlin und
Paris. Macron und seine Minister empfinden die
deutsche Politik derzeit als allzu behäbig, fast ge-
lähmt, was die Reaktion auf den Abschwung und die
veränderte weltweite Sicherheitslage angeht. Sie
sind zunehmend irritiert darüber, dass die deutsche
Verteidigungsministerin vollmundig das Zwei-Pro-
zent-Ausgabenziel der Nato feiert, der Bund aber
nicht mal 110 Millionen Euro für das von Merkel am
Mittwoch als „historisch“ gefeierte Projekt eines
neuen europäischen Kampfflugzeugs (FCAS) locker-
machen kann.
Was aus FCAS und den gemeinsamen deutsch-
französischen Exportregeln für Waffen wird, ist nach
dem binationalen Ministerrat in Toulouse nicht kla-
rer als vorher. Beim Kampfflugzeug müssten sich
erst mal die Industriellen verständigen, dann fließe
das Geld, ist die Lesart diesseits des Rheins, wäh-
rend man jenseits glaubte, Macron und Merkel hät-
ten schon vor Tagen eine Einigung der Unterneh-
men zustimmend zur Kenntnis genommen.
Beim Waffenexport lobte Macron am Mittwoch ei-
ne Verständigung auf rechtlich verbindliche Regeln,

während die deutsche Seite nur eine unverbindliche
Vorverständigung sieht. Alles kein Problem, hört
man aus Berlin, man habe doch viel Zeit. Wer einen
französischen Politiker aus der Haut fahren sehen
will, muss nur den Satz sagen: „Wir haben doch kei-
ne Eile!“ In Paris glaubt man, dass die Weltlage mehr
denn je zügiges Handeln erfordert.
Auch deshalb gab Macron am Mittwoch mit kaum
verhohlenem Spott den Deutschen zu verstehen, bei
der EU-Erweiterung habe er wirklich überhaupt kei-
ne Eile. Dahinter steht auch blankes Unverständnis
angesichts des deutschen Beharrens auf dem Beitritt
von Nordmazedonien und Albanien. Haben die gras-
sierende Korruption in und Auswanderung aus Ru-
mänien und Bulgarien, der ungeklärte Mord an einer
Journalistin auf Malta nicht gezeigt, dass die EU
nicht mit Staaten umzugehen vermag, die sie viel-
leicht vorschnell aufgenommen hat? Ist es der Weis-
heit letzter Schluss, Beitrittsverhandlungen mit ei-
nem Staat zu beginnen, in dem noch die Blutrache
praktiziert wird? Und stärkt man so das Vertrauen
der eigenen Bevölkerung in die EU?
Kurios an diesem deutsch-französischen Dissens
ist, dass Macron mit seiner Forderung, erst das euro-
päische Haus zu stabilisieren und dann den Balkan,
möglicherweise näher an der Mehrheitsmeinung in
der deutschen Bevölkerung ist als die Haltung der
Bundesregierung. Die scheint sich nun der französi-
schen Forderung anzunähern, dass man das EU-Bei-
trittsverfahren verändert.
Bei der Verteidigung dagegen ist noch keine wirkli-
che Lösung erkennbar. Es ist nicht dramatisch, wenn
Berlin und Paris unterschiedlicher Ansicht sind.
Schwierig wird es, wenn nationale Entscheidungs -
unfähigkeit zu europapolitischer Handlungsunfähig-
keit wird. Denn hinter dem deutsch-französischen
Dissens bei der Rüstung steht ein deutsch-deutscher:
In der Koalition ist man sich nicht einig, welchen
Stellenwert die gemeinsame europäische Verteidi-
gung haben soll und wie viel uns eine größere Unab-
hängigkeit von den USA wert ist.
Mit großen Erklärungen wie der zum Zwei-Pro-
zent-Ziel, das die SPD ablehnt, ist es irgendwann
nicht mehr getan. Politische Willensäußerungen der
Regierung müssen die Spitzenpolitiker am Ende
ganz schnöde in verbindliche Entscheidungen der
Haushälter überführen können. Gelingt das nicht,
leidet nicht nur das deutsch-französische Verhältnis,
sondern auch der Einfluss Deutschlands in Europa.

Leitartikel


Etwas schneller,


bitte!


Angesichts der
Weltlage können
sich Paris und
Berlin langen Zwist
in Rüstungs- oder
Europafragen nicht
leisten, sagt
Thomas Hanke.

Schwierig


wird es, wenn


nationale


Entscheidungs -


unfähigkeit zu


europapolitischer


Handlungs -


unfähigkeit wird.


Der Autor ist Korrespondent in Paris.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]

Meinung


& Analyse
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WOCHENENDE 18./19./20. OKTOBER 2019, NR. 201
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