Handelsblatt - 18.10.2019

(Joyce) #1
Jens Koenen Frankfurt

S


chafft der beliebte Kurz- und Mittelstre-
ckenjet 737 Max einen traurigen neuen
Rekord? Ausgeschlossen ist das nicht.
Seit März darf das Modell, das bei zwei
Abstürzen fast 350 Menschen in den
Tod riss, nicht abheben. Und die Zeichen verdich-
ten sich, dass die Erlaubnis zur Rückkehr nicht
mehr in diesem Jahr erteilt wird. Wichtige Boe-
ing-Kunden wie United, American und Southwest
Airlines haben das Flugzeug bis Januar aus dem
Flugplan genommen, Air Canada will nicht vor
Februar fliegen. Die US-Pilotenvereinigung SWA-
PA geht ebenfalls davon aus, dass der Jet frühes-
tens im Februar wieder in den Dienst gestellt wer-
den kann. Damit zeichnet sich ab, dass die
Zwangspause der Max am Ende fast ein Jahr dau-
ern könnte. Niemals zuvor wurde ein Flugzeug
wegen technischer Mängel so lange aus dem Ver-
kehr gezogen.
Mit jedem Tag wird die Situation für den Flug-
zeugbauer schwieriger. Da sind die finanziellen
Belastungen: Alleine im zweiten Quartal musste
Boeing wegen des Unglücksjets 4,9 Milliarden
Euro (rund 4,4 Milliarden Euro) abschreiben. Mit
anderen Kosten wie den Kompensationen etwa
für Airlines schätzt Scott Hamilton vom Fachpor-
tal Leeham die bisherigen Gesamtkosten der
Max-Krise auf mittlerweile acht Milliarden Dollar.
Am kommenden Mittwoch will das Unternehmen
seine Zahlen für das dritte Quartal vorlegen.
Branchenexperten erwarten dann zusätzliche fi-
nanzielle Belastungen. Am 30. Oktober muss sich
Boeing-Chef Dennis Muilenburg den kritischen
Fragen des Transportauschusses der Regierung
stellen.
Längst geht es bei dem Desaster um die 737
Max auch um die Zukunft des Unternehmens.
Boeing läuft Gefahr, im ewigen Wettstreit mit
dem europäischen Rivalen Airbus den Anschluss
zu verlieren. Mittlerweile ziehen die Europäer bei
Bestellungen und Auslieferungen davon. Zwi-
schen Januar und September übergab Boeing ins-
gesamt 302 Zivilflugzeuge an Kunden. Das sind
nicht nur 266 Jets weniger als in den ersten neun
Monaten des Vorjahrs. Es ist auch ein deutlicher
Rückstand gegenüber Airbus. Der europäische
Anbieter lieferte 571 Flugzeuge aus, 68 mehr als
im vergleichbaren Vorjahreszeitraum.

Management im Krisenmodus
Die Zahlen dürften auch dem Verwaltungsrat von
Boeing noch einmal schmerzhaft vor Augen ge-
führt haben, dass Boeing das Max-Desaster an-
ders als frühere Krisen wie etwa die Batteriebrän-
de bei der Boeing 787 (Dreamliner) nicht so ohne
Weiteres bewältigen kann. Wohl auch deshalb hat
das Gremium nun beschlossen, Muilenburg die
Funktion des Verwaltungsratsvorsitzenden zu
entziehen. Muilenburg, der seine ganze berufli-
che Karriere bei Boeing verbrachte, hatte bisher
die für US-Konzerne typische Doppelfunktion des
operativ tätigen CEOs und des Chairman. Nun
soll sich der Manager als CEO vor allem auf die
Bewältigung der Max-Krise konzentrieren.
Eine wohl notwendige Entscheidung. Denn das
Desaster lähmt den US-Konzern zunehmend. Es
bindet derzeit nahezu alle verfügbaren Kapazitä-
ten. Das wird wohl auch noch einige Zeit so blei-
ben. So gibt es offensichtlich unterschiedliche
Einschätzungen zu den Nachbesserungen von
Boeing bei der amerikanischen Aufsichtsbehörde
FAA und der europäischen EASA. Während die
FAA angeblich bereit ist, grünes Licht für die Än-
derungen zu erteilen, soll die EASA noch einige
offene Punkte haben, die erst geklärt werden
müssen. Auch hat die europäische Behörde ange-
kündigt, mit der 737 Max selbst Testflüge durch-
führen zu wollen.

Boeings

Desasterjahr

Wann der Unglücksflieger 737 Max wieder fliegen


darf, bleibt ungewiss. Klar ist: Das Debakel mit dem


Kurz- und Mittelstreckenjet lähmt den US-Konzern.


Geparkte 737-Max-Jets
in Kalifornien: Boeing
gerät gegenüber Airbus
in Rückstand.

AFP

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WOCHENENDE 18./19./20. OKTOBER 2019, NR. 201
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