Handelsblatt - 18.10.2019

(Joyce) #1
„Boston wird nicht in Unternehmen
investieren, die von Menschen geführt
werden, die Frauen als Objekte
behandeln.“
Martin Walsh, Bürgermeister von Boston, begründet den Abzug von
248 Millionen Dollar aus Fisher Investments.

Worte des Tages


Fintech


Erfolg ohne


Rampenlicht


W


enn Finanz-Start-ups um
neue Kunden werben,
stellen sie oft ihre schi-
cke Smartphone-App in den Vorder-
grund, sie betonen die einfache Be-
dienung und wie schnell sie neue
Produktideen in die Tat umsetzen.
Solche Innovationskraft und ein Fo-
kus auf die Bedürfnisse und Wün-
sche der Kunden sind der Grund
für ihren bisherigen Erfolg. Laut ei-
ner Studie haben solche Firmen in
Europa ihren Wert auf rund 177 Mil-
liarden Euro gesteigert. Dass sie mit
ihren Geschäftsmodellen auch Ge-
winne erzielen können, müssen vie-
le allerdings noch beweisen.
Die hohen Bewertungen werden
bislang häufig allein von den Fanta-
sien und Hoffnungen der Investo-
ren getrieben. Vor allem Start-ups,
die sich an Privatkunden richten,
sind meist noch weit davon ent-
fernt, kostendeckend zu wirtschaf-
ten. Sie müssen viel Geld aufwen-
den, um mit Werbung auf sich auf-
merksam zu machen.
Doch Bekanntheit allein reicht
nicht aus. Auch Vertrauen gehört zu
den Ressourcen, nach denen junge
Unternehmen streben müssen. Die
Praxis zeigt: Bei hohen Wachstums-
zielen gerät die Kundenzufrieden-
heit mitunter rasch aus dem Fokus,
und die anfängliche Begeisterung
der Nutzer kehrt sich um in Verär-
gerung.
Einfacher haben es dagegen jene
Fintechs, die ihre Technologien –
schicke Apps und komfortable Soft-
ware – nicht direkt Verbrauchern
und Geschäftskunden anbieten,
sondern anderen Finanzdienstleis-
tern zur Verfügung stellen. Sie dür-
fen nicht allzu eitel sein, denn ihr
Firmenname schmückt keine gro-
ßen Plakatwände, doch auf Dauer
könnte ihr Geschäftsmodell erfolg-
reicher sein als das der bisherigen
Fintech-Stars.
Dafür spricht auch, dass Banken,
Versicherer und Vermögensverwal-
ter mithilfe solcher Dienstleister
selbst moderner werden. Die
Dienstleister-Fintechs befeuern also
ein Wettrüsten zwischen den jun-
gen und den traditionellen Finanz-
instituten und machen sich – wenn
es gut läuft – für beide Seiten unver-
zichtbar.


Als Dienstleister für Finanzinstitute
haben Finanz-Start-ups die besten
Chancen, meint K atharina
Schneider.

Die Autorin ist
Finanzkorrespondentin.
Sie erreichen sie unter:
[email protected]


K


urz vor Ende seiner achtjährigen
Amtszeit polarisiert EZB-Präsident Ma-
rio Draghi so stark wie nie zuvor. Ge-
gen massive Widerstände hat er Mitte
September noch einmal eine weitrei-
chende Lockerung der Geldpolitik durchgesetzt. Mit
diesem Schritt hat er den geldpolitischen Kurs der
Europäischen Zentralbank (EZB) weit über seine
Amtszeit hinaus festgelegt.
Seine designierte Nachfolgerin Christine Lagarde
hat damit geldpolitisch zunächst wenig Spielraum.
Eine abrupte Abkehr von Draghis festgestecktem
Kurs würde die Märkte verunsichern. Dennoch darf
es bei der EZB kein „Weiter so“ geben. Lagarde kann
und muss an anderen Stellen umsteuern.
Zweifellos hinterlässt Draghi große Fußstapfen.
Sein größtes Verdienst war es, den Euro in der Krise
mit drei Worten zusammenzuhalten: „whatever it
takes “. Hierbei spielte Draghi seine wichtigsten Stär-
ken aus. Sein tiefes Verständnis von Ökonomie und
Finanzmärkten, aber auch seine politische Erfah-
rung, die er als Generaldirektor im italienischen Fi-
nanzministerium gesammelt hat. Neben diesen gro-
ßen Stärken hat Draghi aber auch Schwächen, die
zum Ende seiner Amtszeit deutlich werden.
Das aktuell größte Problem der EZB ist die tiefe
Zerstrittenheit ihres Rats. Sicher darf man sich keine
Illusionen machen: Es ist unmöglich, in allen wichti-
gen Fragen einen Konsens zwischen den 25 Mitglie-
dern zu erreichen. Dafür ist das Gremium zu groß,
und auch nationale Interessen spielen eine Rolle.
Um gute Entscheidungen zu treffen, ist es zudem
wichtig, dass es Leute gibt, die Positionen infrage
stellen und argumentativ herausfordern.
Wenn aber wie zuletzt sieben bis zehn Mitglieder
des Rats Bedenken gegen eine so zentrale Entschei-
dung wie die Neuauflage der Anleihekäufe haben
und viele von ihnen danach den Beschluss scharf kri-
tisieren, stimmt etwas nicht. Unter Draghis Vorgän-
gern Jean-Claude Trichet und Wim Duisenberg hat es
das nicht gegeben. Während Trichet oft sehr lange
Sitzungen abhielt und alle Beteiligten ausführlich zu
Wort kommen ließ, gehört es zu Draghis Führungs-
stil, sich eher im kleinen Kreis abzusprechen. Bei
wichtigen Entscheidungen ist er oft mit Reden vorge-
prescht und hat die Erwartungen der Märkte bereits
in eine Richtung gelenkt, noch bevor der Rat über
seine Pläne diskutieren konnte. Hier muss Christine
Lagarde den Rat stärker einbinden. Das würde umge-
kehrt die Kritiker auch unter Druck setzen, Alternati-
ven zu benennen und nicht einfach alles abzulehnen.
Ein anderer Punkt ist die Kommunikation mit der
breiten Öffentlichkeit. Draghi hat Wert darauf gelegt,

im Jargon der Notenbanker zu sprechen. Anleihe-
händler und Hedgefonds-Manager haben ihn meist
gut verstanden, das breite Publikum aber nicht. Man
kann argumentieren, dass es zur Unabhängigkeit der
EZB gehört, im eigenen Jargon zu sprechen und sich
auf das Fachpublikum zu konzentrieren. Wenn sich
Notenbanker einfacher ausdrücken und im Extrem-
fall etwa in Fernsehtalkshows gehen, werden sie Po-
litikern ähnlicher – und die Grenzen verwischen.
Klar ist aber auch: Die Geldpolitik ist ohnehin Teil
des öffentlichen Diskurses geworden. Die EZB wird
von Politikern, Bankern und auch Journalisten täg-
lich scharf kritisiert. Die Frage ist daher nicht, ob sie
sich dem öffentlichen Diskurs stellen will, sondern,
ob sie sich gegen die Kritik verteidigt und ihr Han-
deln stärker erklärt oder nicht. Auch hier muss
Christine Lagarde neue Akzente setzen.
Wichtig ist außerdem, dass die geldpolitischen In-
strumente und das Inflationsziel nach dem personel-
len Wechsel an der EZB-Spitze unvoreingenommen
auf den Prüfstand kommen. Auch Mario Draghi und
seine Kollegen sind vor Fehlern nicht gefeit. Die bes-
te Chance, mögliche Fehler aufzudecken, besteht am
Anfang von Lagardes Amtszeit. Draghi selbst hat ein-
geräumt, dass die Instrumente der EZB einen abneh-
menden Nutzen haben. Auch wenn er betont, dass
der Nutzen nach wie vor größer sei als mögliche
Schäden, stellt sich die Frage, wann die Grenze er-
reicht ist. Klar ist zumindest: Die Wirkung der Instru-
mente der EZB hängt stärker denn je von der Unter-
stützung durch die Politik ab. Eine Zinssenkung und
Anleihekäufe bewirken deutlich mehr, wenn zu-
gleich Staaten mehr investieren.
Christine Lagarde muss daher stärker die Unter-
stützung der Politik einfordern. Natürlich hat auch
Draghi das versucht. Seine Appelle zu mehr Refor-
men oder einer aktiveren Finanzpolitik in Ländern
wie Deutschland blieben aber meist ungehört. Mit
ihrer Überzeugungskraft, ihrem Netzwerk und der
Erfahrung als frühere französische Finanzministerin
hat Lagarde möglicherweise mehr Erfolg.
Die EZB musste in den vergangenen acht Jahren
existenzielle Probleme des Euro-Raums bewältigen.
Hier hat sich Mario Draghi historisch verdient ge-
macht. Beim Lösen der Probleme hat er aber auch
neue Probleme geschaffen wie den öffentlichen Ver-
trauensverlust der EZB und die Spaltung des Rats.
An diesen Stellen muss Christine Lagarde neue Ak-
zente setzen.

Leitartikel


Lagarde muss die


Kritiker einbinden


Unter der neuen
EZB-Chefin darf
es kein „Weiter
so“ geben. Sie
muss an vielen
Stellen umsteuern
und eigene Ak -
zen te setzen, fin -
det Jan Mallien.

Beim Lösen der


Probleme hat


Draghi auch


neue Probleme


geschaffen. An


diesen Stellen


muss Lagarde


neue Akzente


setzen.


Der Autor ist Korrespondent in Frankfurt.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]

Meinung


& Analyse


WOCHENENDE 18./19./20. OKTOBER 2019, NR. 201
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