Handelsblatt - 18.10.2019

(Joyce) #1
Bulle & Bär

Der langfristige


Blick


entscheidet


W


enn nicht noch ein großer Ein-
bruch kommt, können Investo-
ren mit dem Anlagejahr 2019
äußerst zufrieden sein. Nicht nur Aktien
haben weltweit zugelegt, auch Anleihen
gewannen kräftig. Der weltweite Aktienin-
dex MSCI World All Countries aus Indus-
trie- und Schwellenländern hat seit Jahres-
anfang mehr als 15 Prozent zugelegt. Der
Goldpreis ist um gut 16 Prozent gestiegen.
Anleihen von Staaten und Unternehmen
mit ordentlicher Bonität bringen es seit Ja-
nuar auf einen Gesamtertrag aus Kursge-
winnen und Zinsen von immerhin mehr
als sechs Prozent.
Dass diese verschiedenen Anlageklassen
parallel steigen, ist ungewöhnlich und ver-
wirrend. Die Aktienmärkte spiegeln
schließlich wider, dass die Konjunktur
brummt und die Unternehmen ihre Ge-
winne ordentlich steigern. Dazu passt der
Kursanstieg von Anleihen und Gold, die
beide als sicherer Hafen in Krisenzeiten
gelten, ganz und gar nicht.
Der Grund für die simultane Rally sind
die Notenbanken. Mit der erneuten Öff-
nung der Geldschleusen treiben die US-
Notenbank (Fed) und die Europäische
Zentralbank (EZB) die Märkte. Die niedri-
gen Zinsen drückten auch die Kapital-
marktzinsen, also die Anleiherenditen,
nach unten. Weltweit rentieren Anleihen
mit guter Bonität im Volumen von 14 Bil-
lionen Dollar im Minus. Das heißt: Wer die
Papiere jetzt kauft und bis zur Fälligkeit
hält, macht einen Verlust.
Das wiederum ist ein Pluspunkt für
Gold. Das Edelmetall wirft zwar keine Zin-
sen ab, aber das machen Anleihen eben
auch kaum noch. Zudem liegt der Gold-
preis – anders als die Anleihekurse – noch
weit von seinem Allzeithoch entfernt und
bietet allein deshalb noch Kursfantasie.
Die bieten – gerade langfristig – auch die
Aktienmärkte. Investoren scheinen zwar
angesichts der diesjährigen Rally zu igno-
rieren, dass sich die Wirtschaft eintrübt
und viele Unternehmen weniger verdie-
nen. Doch letztlich steht der globale MSCI
lediglich auf dem Niveau von Anfang ver-
gangenen Jahres. Die Rally in diesem Jahr
hat nur die herben Verluste aus dem vier-
ten Quartal 2018 ausgeglichen. Von daher
haben Aktien langfristig bessere Aussich-
ten als Anleihen, bei denen Anleger, die
sie jetzt kaufen, oft einen sicheren Verlust
machen.

Der tägliche Kommentar
des Handelsblatts analysiert
die Entwicklung
an den Finanzmärkten.
Von Andrea Cünnen

lem auf dem asiatischen Markt boomt der bargeld-
lose Zahlungsverkehr, ist man dort doch den
Schritt direkt vom Bargeld hin zum Bezahlen via
Smartphone gegangen. Ähnlich ist es in Afrika, wo
inzwischen selbst Kleinbeträge mobil bezahlt wer-
den. Nur dass hier die Telekomunternehmen, über
die der Mobilfunkvertrag abgeschlossen wurde, die
Rolle der Bank übernommen haben. Der französi-
sche Anbieter Orange, einer der Branchenriesen
auf dem Kontinent, lässt seit Jahren die Zahlungs-
ströme über Wirecard abwickeln. Wieder anders ist
die Situation in Nordamerika, wo die Menschen
traditionell an Kreditkarten gewohnt sind. Auch für
Visa, Mastercard und American Express ist der
Dax-Konzern tätig.


nDas Management: Kein Dax-Konzern ist perso-


nell so schmal aufgestellt wie Wirecard. Vier Vor-
stände und sechs Aufsichtsräte bilden den Füh-
rungszirkel des rund 20 Jahre alten Unterneh-
mens. An Erfahrung mangelt es dem
Führungszirkel nicht. Alle Vorstände
sind seit weit über einem Jahr-
zehnt bei Wirecard. Der für Or-
ganisation zuständige Vor-
stand Jan Marsalek ist gar seit
dem Jahr 2000 dabei, Vor-
standschef Markus Braun
kam zwei Jahre später dazu.
Im Aufsichtsrat kam im
Sommer der ehemalige
Deutsche-Börse-Vorstand
Thomas Eichelmann hinzu.
Der 54-Jährige ersetzte den
Mittsiebziger Alfons Henseler. In
diesem Alter ist auch Aufsichtsrats-
chef Wulf Matthias. Insider rechnen da-
mit, dass er zur nächsten Hauptversammlung
am 2. Juli 2020 ebenfalls sein Amt abgibt. Eichel-
mann wird dann als potenzieller Nachfolger gehan-
delt.
Generell kritisieren Investoren seit Längerem be-
reits, dass das Aufsichtsgremium nicht ausreichend
vielfältig aufgestellt ist. Es dominiert ebenso wie im
Vorstand der technische Sachverstand. Dagegen
sind Themen wie Unternehmensführung und der
Aufbau innerer Strukturen, die mit dem rasanten
externen Wachstum Schritt halten, eher schwach
vertreten.


nDie Branche: Hier herrscht im Moment Goldgrä-
berstimmung. Der Markt ist riesig und zeigt unend-
liches Wachstum. Dass der generelle Trend weg vom
Bargeld geht, ist offensichtlich. Dabei kann das
Smartphone eine wichtige Rolle spielen. Aber auch
Bezahlmodelle per Gesichtserkennung oder Finger-
abdruck kommen vermehrt zum Einsatz. Vorreiter
ist dabei der asiatische Markt. Die Dienste der Zah-
lungsdienstleister werden somit in Zukunft noch
stärker nachgefragt als bisher. Unterschiede gibt es
beispielsweise in den Schwerpunkten, die jedes Un-
ternehmen für sich setzt. Bei Wirecard setzte man
bisher vor allem auf eine Vielzahl kleiner und mitt-
lerer Kunden. Das hat den Vorteil, dass mit ihnen
weit höhere Margen zu erzielen sind, auch wenn die
Einzelumsätze je Kunde hier natürlich sehr viel ge-
ringer sind als bei Großkunden. Den anderen Weg
wählt der niederländische Konkurrent Ayden, der
stark auf Großkunden mit hohen Umsätzen setzt,
was aber geringere Gebühren zur Folge hat. Auch
Wirecard hatte zuletzt bei seinem Investor Day in
New York angekündigt, künftig vermehrt auf das Ge-
schäft mit Großkunden zu setzen.


nDas Partnermodell: Um Zahlungen in verschie-
denen Ländern abwickeln zu können, braucht Wi-
recard entweder eine eigene Lizenz oder die Diens-
te eines Partners. Davon hat Wirecard nach eige-
nen Angaben mehr als hundert weltweit. Dazu


zählt unter anderem das Unternehmen Al Alam,
dessen Rolle in dieser Woche von der britischen
Wirtschaftszeitung kritisch hinterfragt wurde. Zu-
letzt erzielte Wirecard etwa 52 Prozent des Trans-
aktionsvolumens in Ländern mit eigenen Lizenzen,
die verbleibenden 48 Prozent kamen über Partner.
Die Tendenz geht bei Wirecard in Zukunft dahin,
mehr Geschäft über eigene Lizenzen in den jewei-
ligen Ländern abzuwickeln. Das gilt speziell für Tei-
le von Asien und von Nordamerika. Ohne Partner
ließen sich höhere Margen erzielen, so der Tenor
dazu aus der Wirecard-Zentrale. An eine Lizenz zur
Abwicklung des Zahlungsverkehrs zu kommen ist
in vielen Ländern unterschiedlich geregelt. In vie-
len Regionen muss man sie beantragen, andernorts
kann man sie auch kaufen.

nBörsenumsätze: Die Aktien von Wirecard waren
in den vergangenen Tagen die meistgehandelten im
Deutschen Aktienindex (Dax). Am Dienstag, als
die Geschichte zu den möglichen Unge-
reimtheiten in Dubai erschien, wur-
den etwa zehnmal so viele Wire-
card-Aktien gehandelt wie im
Schnitt von den 29 anderen
Dax-Titeln dort. Auch in den
Tagen danach waren die
Umsätze bei Wirecard hö-
her als anderswo. Für Anle-
ger bedeutet das, dass hier
im Moment auch schlicht
sehr viel gezockt wird. Inves-
toren mit langfristigem Inte-
resse sind an solchen Börsenta-
gen eher die Ausnahme. Solange
nicht wirklich Klarheit herrscht, wie
die Dinge bei Wirecard tatsächlich lie-
gen, dürfte das auch weiter so bleiben.

nZwei Stränge: Die Vorfälle um Wirecard haben
noch immer zwei unterschiedliche Pfade, die den
Aktienkurs massiv beeinflussen können. Auf der ei-
nen Seite stehen die neuen Anschuldigungen der
„Financial Times“, die den Verdacht nähren, dass
vieles an der rasanten Geschäftsentwicklung der
vergangenen Jahre womöglich nicht so ist, wie es in
den Bilanzen dargestellt wurde. Im Hintergrund
steht dabei stets die Befürchtung, es könne nach
den vielen Anschuldigungen in der Vergangenheit
noch vieles ans Licht gelangen, was die bisher schon
großen Zweifel verstärkt.
Auf der anderen Seite steht immer noch der Ver-
dacht, dass Shortseller von dem Erscheinen ent-
sprechender Artikel gewusst und sich positioniert
haben. Die Staatsanwaltschaft München ermittelt
hier weiterhin, unter anderem auch gegen Reporter
der „Financial Times“.

190


EURO
hat der Analyst Antonin Baudry als
neues Kursziel von Wirecard
wegen der starken Schwankungen
ausgegeben. Davor lag er bei 225
Euro.

Quelle:HSBC

Wirecard
Aktienkurs in Euro

120,15 €

HANDELSBLATT

2 4.9.2018 17.10.2019
Quelle: Bloomberg

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Private Geldanlage


WOCHENENDE 18./19./20. OKTOBER 2019, NR. 201
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