Handelsblatt - 18.10.2019

(Joyce) #1

Literatur
WOCHENENDE 18./19./20. OKTOBER 2019, NR. 201
54


Robert Shiller:
Narrative
Economics.
Princeton Uni-
versity Press, 2019,
400 Seiten,
ca. 22 Euro.

Deniz Yücel:
Agentterrorist.
Kiepenheuer &
Witsch 2019,
400 Seiten,
22 Euro.

Kai Nedden/laif

Robert Shiller: „Narrative Economics“


„Trump und Johnson tun


unverschämte Dinge“


Gute Storys – und nicht bloße Fakten – bewegen Märkte und


Meinungen, sagt der Nobelpreisträger in seinem neuen Buch.


Das mache sich vor allem der US-Präsident zunutze.


R


obert Shiller ist so etwas wie der
Wahrsager unter den Ökonomen.
Der Yale-Professor hat sowohl die
New-Economy-Blase als auch die
US-Immobilienpreiskrise voraus-
gesagt und so weltweit Berühmtheit erlangt.
Jetzt hat Shiller ein Buch darüber geschrieben,
wie Erzählungen die Wirtschaft beeinflussen. Im
Gespräch mit dem Handelsblatt, das am Telefon
stattfindet, spricht er über die Gefahren solcher
„Narrative“ und darüber, warum Ex-Präsident
Ronald Reagan darauf reingefallen ist und wa-
rum der heutige US-Präsident einer der besten
Geschichtenerzähler aller Zeiten ist. „Narrative
Economics“ ist vor Kurzem auf Englisch erschie-
nen und soll im kommenden Jahr auf Deutsch
herauskommen.

Professor Shiller, besitzen Sie Bitcoins?
Nein. Und ich werde auch nicht in sie investieren.

Aber man kann doch wunderbar schnell damit
reich werden, ist immer wieder zu hören.
Naja, ich bin nicht darauf fokussiert, reich zu
werden. Und ob man so einfach mit Bitcoins

reich werden kann, nur weil das die Geschichte
ist, die jeder erzählt, ist eine andere Frage.

Die Kryptowährung ist eines Ihrer Lieblings-
beispiele in Ihrem Buch „Narrative Econo-
mics“, also Narrative in der Ökonomie. Wie ent-
stehen Geschichten in der zahlenverliebten
Welt der Wirtschaft?
Im Alter von 19 Jahren habe ich begonnen, über
Narrative nachzudenken. Damals lernte ich öko-
nomische Modelle kennen. Ich hatte immer das
Gefühl, dass Ökonomen etwas in ihren Berech-
nungen vergessen: nämlich, dass die Menschen
Vorfälle nie einfach nur hinnehmen, sondern sie
immer auch interpretieren. Und das ist eine es-
senzielle Tatsache. Die Leute wollen eine Ge-
schichte, ein Narrativ.

Wie konnte sich die Bitcoin-Geschichte so er-
folgreich verbreiten?
Das ging aus einer Art Idealismus hervor. Narra-
tive haben häufig einen politischen oder patrio-
tischen Ton. Die Geschichte vom Bitcoin vermit-
telt ein Gefühl von Identität. Die Angst vor der
Künstlichen Intelligenz, dass Arbeitsplätze auf-

Deniz Yücel – „Agentterrorist“

„Ihr Fall ist


rein politisch“


Der bekannte Ex-Polithäftling


beschreibt das System des türkischen


Präsidenten Erdogan ohne aggressiv


abzurechnen – bis auf eine Ausnahme.


D


eniz Yücel akzeptiert keine Bedingun-
gen. Anfang Februar 2018 ist der
deutsch-türkische Journalist seit fast ei-
nem Jahr im Gefängnis. Da gibt es für Yücel die
Möglichkeit eines „Deals“, der ihm die Freiheit
schenken könnte. Doch der Inhaftierte lehnt ab.
Der deutsche Generalkonsul in Istanbul sagt bei
einem Gefängnisbesuch: „In Deutschland wird
es niemand verstehen, wenn Sie dieses Angebot
ablehnen. Sie verlieren die Unterstützung der
Öffentlichkeit.“ Yücel entgegnet lakonisch:
„Glaub ich nicht.“
Spätestens seit seiner Verhaftung im Februar
2017 ist Yücel aus deutscher Sicht der wohl be-
kannteste politische Häftling der Türkei. Mehr
als 290 Tage saß der damalige „Welt“-Korres-
pondent wegen angeblicher „Terrorpropagan-
da“ in Untersuchungshaft, bis er endlich frei-
kam. In seinem Buch über die Haftzeit be-
schreibt der 46-Jährige nun nicht nur minutiös
sein Leben hinter Gittern, sondern analysiert
mit klugem Blick die damalige politischen Groß-
wetterlage - und das durchaus selbstkritisch.
Der Fall drückte die deutsch-türkischen Bezie-
hungen auf einen Tiefpunkt. Yücel schafft es im
Buch, persönliche Erlebnisse mit einer journalis-
tisch-korrekten Analyse zu kombinieren. „Ihr
Fall ist rein politisch“, sagt einer der Gefängnis-
wärter zu ihm. „Wenn ich Leute wie Sie hier se-
he, schäme ich mich für mein Land.“
Die Verhaftung ist aber nicht nur politisch bri-
sant gewesen. Der Journalist, der sonst unab-
hängig berichten soll, ist hier selbst zum Objekt
der Berichterstattung geworden. Und mit ihm al-
le seine Kollegen, in Deutschland und der Tür-
kei. Das zeigt der Dialog kurz vor seiner Freilas-
sung mit dem deutschen Beamten. Seine Inhaf-
tierung war für die Bundesregierung zum Klotz
geworden, der die deutsch-türkische Wiederan-
näherung behindert hatte. In Berlin muss allen
klar gewesen sein: Das Thema Yücel muss vom
Tisch. „Nützt oder schadet mir diese enorme öf-
fentliche Präsenz?“, fragt Yücel in seinem Buch.
Seine Ehefrau Dilek meint: „Zu viel Aufmerk-
samkeit ist kontraproduktiv.“


Vorwurf der Folter


Das Buch ist weder eine aggressive Abrechnung
mit dem System Erdogan noch ein sprödes
Knasttagebuch. Yücel bettet seine Erlebnisse
und Ideen stets in einen klugen Kontext ein. Da-
bei hätte vermutlich jeder nachvollziehen kön-
nen, wenn der Autor und Ex-Inhaftierte Yücel
sich mit „Agentterrorist“ einfach nur den Frust
von der Seele hätte schreiben wollen.
Einzig das letzte Kapitel des Buches wirkt, als
wolle Yücel doch noch einmal nachtreten. Er be-
schreibt darin eine erniedrigende Begegnung
mit Gefängniswärtern, die er selbst nach seiner
Freilassung als „Folter durch Erdogan“ der Öf-
fentlichkeit bekanntmachte. Ohne dem Autoren
zu nahe treten zu wollen: Die Vorwürfe klingen
stellenweise übertrieben, mindestens passen sie
nicht zum analytischen Charakter des Buches.
Das zeigt jedoch nur: Auch ein Journalist ist
nicht immer objektiv – erst recht nicht, wenn
es um ihn selbst geht. Ozan Demircan

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