Handelsblatt - 18.10.2019

(Joyce) #1
Literatur
WOCHENENDE 18./19./20. OKTOBER 2019, NR. 201
55

Wirtschaftsbuchpreis

Ehrung fürs


Ermahnen


„Extrem gut erklärt“ und „ideologiefrei“:
Paul Colliers „Sozialer Kapitalismus!“
erhält den Wirtschaftsbuchpreis 2019.

D


er Deutsche Wirtschaftsbuchpreis geht in
diesem Jahr an den britischen Ökonomen
und Bestsellerautoren Paul Collier. Bei ei-
ner festlichen Gala im Rahmen der Buchmesse
wurde sein Buch „Sozialer Kapitalismus! Mein Ma-
nifest gegen den Zerfall unserer Gesellschaft“ am
Donnerstagabend in Frankfurt zum besten Wirt-
schaftsbuch des Jahres gekürt.
An diesem Freitag ist der Preisträger auf der
Buchmesse zu sehen – und zu hören: Um 11 Uhr
diskutiert er mit Buchmessen-Direktor Juergen
Boos und dem Juryvorsitzenden und Handelsblatt-
Senior-Editor Hans-Jürgen Jakobs über sein Mani-
fest im architektonischen Schmuckstück der Mes-
se, im lichten Pavillon im Innenhof der Buchmes-
se.
Viele Wirtschaftsbücher waren eingereicht wor-
den, zehn davon auf die Shortlist gekommen, doch
die Jury wählte Colliers Buch, weil es das Thema
Zukunftsbewältigung wegweisend behandelt und
nach einer Lösung für eine der großen Fragen der
Zeit sucht: Wie können wir technologischen Fort-
schritt auch gesellschaftlich stabilisieren?
Jede Gesellschaft brauche eine Konvention der
Mitglieder auf Werte, die gelebt werden müssen,
meinte die Jury. „Colliers Manifest für einen erneu-
erten Kapitalismus ist extrem gut erklärt und seine
Forderungen sind leicht nachvollziehbar und er
spricht das Thema Identität ideologiefrei an“, sagte
der Jury-Vorsitzende Jakobs bei der Gala. Der Preis-
träger, aus Oxford angereist, wo er an der Universi-
tät unterrichtet, warnte vor der Ideologie des Ein-
zelnen, die auf Selbstbestimmung beharre und
nicht an gegenseitige Verpflichtungen denke.
Das Buch spiegelt die aktuelle Lage wider: Die
Sorge um den Zustand der Welt in einer Zeit globa-
ler politischer und gesellschaftlicher Umbrüche ist
auch das Leitthema der diesjährigen Buchmesse.
Und auch der Politikwissenschaftler Herfried
Münkler versuchte in seiner Eröffnungsrede der
Gala, die Zeichen zu entschlüsseln und sprach über
den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Collier
fordert eine neue Ethik der Gesellschaft, die auch
für Unternehmen gelten müsse. Darüber wurde
nach der Preisverleihung noch intensiv diskutiert.
Den Deutschen Wirtschaftsbuchpreis mit dem
Motto „Wirtschaft verstehen“ vergeben die drei
Partner Handelsblatt, Frankfurter Buchmesse und
Goldman Sachs in diesem Jahr zum 13. Mal. Die
ausführliche Berichterstattung über die Preisverlei-
hung und die Podiumsdiskussion auf der Buchmes-
se sowie die Keynote stehen in der Montagsausga-
be des Handelsblatts. Regina Krieger

Paul Collier:
Sozialer
Kapitalismus!
Mein Manifest
gegen den
Zerfall unserer
Gesellschaft.
Siedler 2019,
320 Seiten,
20 Euro.

US-Starökonom
Shiller: Professor
und Prophet.

grund von Maschinen verloren gehen, hat sich
in den letzten Jahren besonders ausgeprägt. Als
Ausweg wollen sich die Menschen nun irgend-
wie in diese neue Welt einbringen. Der Beitritt
zur Bitcoin-Community ist dafür ein einfacher
Weg, man kann die Coins einfach online kaufen.
Die Besitzer sind stolz darauf und identifizieren
sich mit der urbanen, hippen Tech-Szene. Die
Leute denken, sie hätten eine neue, freiere Welt
entdeckt. Ich bin nicht mehr nur Mitglied eines
Landes, sondern Mitglied einer kosmopoliti-
schen Gemeinschaft voller Erfindergeist, die in
der Lage ist, die Welt zu verändern. Diese Rheto-
rik ist so kraftvoll, dass sie nicht haltmacht und
immer weiterverbreitet wird.


Warum sind solche Narrative ein Problem?
Das müssen sie nicht zwingend sein. Aber ich
denke, dass Menschen, die etwas prognostizie-
ren wollen, versuchen müssen, die Kraft der Er-
zählung einzuschätzen. Narrative haben einen
großen Einfluss. Man muss versuchen, diese Ge-
schichten zu verstehen, um Phänomene dahin-
ter zu verstehen. Und Wirtschaftswissenschaften
kann man nicht von diesen Geschichten tren-
nen, weil in ihnen so viel Motivation liegt.


Trotzdem können sie Probleme hervorrufen.
Klar, denken Sie mal an die Laffer-Kurve ...


... eine finanzwissenschaftliche Hypothese, der
zufolge die Steuereinnahmen mit steigendem
Steuersatz erst steigen, dann nach Erreichen ei-
nes Maximums wieder sinken.
Ronald Reagan berief sich in seiner Zeit als US-
Präsident auf Laffer und senkte die Einkommen-
steuer, weil er glaubte, dadurch würden die
Steuereinnahmen erhöht. Genau das Gegenteil
ist eingetreten. Hätte Laffer seine Theorie nicht
in einem so populären Narrativ verpackt, Rea-
gan hätte niemals so vorgehen können, weil ihm
keiner diese Wirkung geglaubt hätte. Man sagt
sich, Laffer habe seine gesamte Theorie auf ei-
ner Serviette in einem Restaurant skizziert. Als
Geistesblitz aus dem Nichts. Da erzählen sich die
Leute bis heute, wer so was aus dem Ärmel


schütteln kann, der muss ein solches Genie sein,
dass die Theorie auch stimmt.

Müssen sich Ökonomen also eher an den Geis-
teswissenschaften orientieren statt an Mathe-
matik und Statistik, um Narrative zu verstehen?
Die Mathematik ist auch für das Studium der
Geisteswissenschaften ein nützliches Werkzeug.
Es gibt einige Methoden, die von Menschen in
den Geisteswissenschaften verwendet werden,
um die Kraft der Erzählung zu verstehen. Gera-
de jetzt, dank der digitalen Revolution, rücken
diese Felder immer näher zusammen. Narrativ
bedeutet nicht, dass man sie nicht auch statis-
tisch erforschen kann. Und je größer die Masse
an Daten, desto besser die Forschungsergebnis-
se. Künstliche Intelligenz und Big Data geben
uns heute die Chance, ökonomische Narrative
viel besser zu verstehen.

Führt das nicht zu einer Verwässerung der
Wirtschaftswissenschaften?
Ich denke, dass wir einfach mit der Realität
Schritt halten müssen. Es gibt eine berühmte
Anekdote über einen Ökonomen, der unter ei-
ner Straßenlaterne stand und seine Brieftasche
suchte. Auf die Frage, ob er sie hier verloren ha-
be, antwortete er: ‚Nein, ich habe sie woanders
liegen lassen, aber das Licht ist hier besser zum
Suchen.‘ Es gibt analytische Techniken, die sehr
gut funktionieren würden, aber nur, wenn man
das Umfeld auch wirklich versteht.

Erleben die „Narrative Economics“ zurzeit ei-
nen besonderen Hype wegen US-Präsident Do-
nald Trump?
Ja, das ist sicherlich so. Und das ist faszinierend
zu sehen, wie sehr Trump dominiert. Er steht je-
den Tag auf den Titelseiten.

Ein weiterer Politiker von dem Kaliber sitzt mit
Boris Johnson in Downing Street 10.
Ich habe Boris Johnson mal bei einem Abendes-
sen sprechen hören, er ist – wie Trump – ein ex-
zellenter Redner. Und für beide gilt auch – was
ihr ähnliches Narrativ ausmacht –, dass es ihnen
egal ist, wenn man an ihnen zweifelt. Sie tun un-
verschämte Dinge. Das Wichtigste, um ein hohes
Maß an politischer Macht zu erreichen, ist, dass
man eine gute Geschichte mitbringt. Und nicht,
was man tut, sondern wie.

Das Narrativ des wohlhabenden Machers ist ja
nicht unbedingt neu, über Reagan haben wir
schon kurz gesprochen. Warum funktioniert es
bei Trump trotzdem wieder so gut?
Man muss verstehen, dass es ihm gelungen ist,
sich als selbst gemachter Milliardär zu etablie-
ren. Er hatte das Glück, 400 Millionen Dollar in
heutigen Preisen von seinem Vater zu erben.
Aber Trump selbst lügt darüber. Er behauptet,
dass er durch und durch selbst zu seinem Reich-
tum gekommen sei. Er hat seine eigene Ge-
schichte geschaffen. Er hatte ein gutes Gespür
für die Kraft der Erzählung und ist nicht davor
zurückgeschreckt, seine eigene Geschichte zu
schreiben. Unter anderem ja auch in etlichen
Büchern. Und das Genre der Selbsthilfe zum
Reich- und Erfolgreichwerden ist nun mal sehr
verlockend. Viele Menschen lieben Bücher, die
ihnen sagen, wie man zum Dealmaker wird. Ei-
ne andere Sache ist das Element des Zufalls: der
Name Trump. Das klingt wie ein Gewinner in ei-
nem Kartenspiel. Letzteres passt ja auch ein
bisschen zu seinem politischen Vorgehen.

Wie profitieren Sie selbst vom ökonomischen
Narrativ? Viele Leute sehen Sie nicht einfach als
Ökonom, sondern als ökonomischen Prophe-
ten aufgrund Ihrer Vorhersagen der Internet-
blase und der Subprimekrise.
Klar, ein bisschen wird das auch für mich eine
Rolle spielen. Aber mit Donald Trump kann man
das nicht vergleichen. Das ist mir auch ganz
recht.

Herr Shiller, vielen Dank für das Interview.

Die Fragen stellte Julian Olk.

Ich hatte


immer das


Gefühl, dass


Ökonomen


etwas


vergessen.


Robert Shiller
Nobelpreisträger

Der Professor Shil-
lers wissenschaftli-
che Karriere
begann mit seinem
Doktortitel 1972 am
Massachusetts
Institute of Techno-
logy (MIT). In den
Achtzigerjahren
entwickelte er den
führenden Immobi-
lienindex der USA.
2013 erhielt der
Verhaltensökonom
den Nobelpreis für
Wirtschaftswissen-
schaften.

Der Prophet Shiller
hat die Dotcom-
Blase frühzeitig
platzen sehen.
Auch vor der
US-Immobilienkrise,
die weltweit
Finanzmärkte ins
Wanken brachte,
warnte Shiller früh-
zeitig.

Vita
Robert Shiller
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