Handelsblatt - 18.10.2019

(Joyce) #1
Corinna Nohn Düsseldorf

W


ährend er in die Pedale
tritt, preist Tom Ritchey
seine jüngste Innovation:
ein Offroad-Tandem.
Auch heute ist er damit
unterwegs, seine Frau Martha sitzt hinter
ihm im Sattel. An einem der letzten sonnigen
Herbsttage rast er mit Fans und Geschäfts-
partnern über Schotter- und Waldwege im
Rheinland. Der 63-jährige Gründer des Rad-
komponenten-Herstellers Ritchey Design hat
den Prototyp für das Tandem selbst zusam-
mengeschweißt, das 2020 auf den Markt
kommen soll. Nun aber soll es erst mal
schnell die Rheinkniebrücke hinabgehen –
doch ein Knall beendet die Tour kurz vor
dem Ziel im Düsseldorfer Radladen „Schicke
Mütze“: Mountainbike-Pionier Ritchey hat ei-
nen Platten.
Er wartet dann neben dem Tandem,
kratzt sich am Schnäuzer und schaut zu, wie
der einstige Chef des von Ritchey gesponser-
ten Mountainbike-Teams den Reifen wech-
selt – assistiert von Tom Ritcheys Frau Mar-
tha. Auf der anschließenden Pasta-Party
wird sie lachend erzählen: Sie verbringe viel
Zeit damit, für Ordnung im Leben ihres Man-
nes zu sorgen.
Ja, die Rollen im Hause Ritchey sind klar
verteilt: Tom Ritchey, Tüftler und Miterfinder
des Mountainbikes (MTB), ist nach wie vor für
die Innovationen im Unternehmen zuständig,
das er 1983 gegründet hat. Unter anderem er-
fand er das Klickpedal fürs MTB. Mitarbeiter
erzählen, dass der Eigentümer, der nicht
mehr CEO ist, noch immer jedes Teil persön-
lich in der Hand wiegt und Probe fährt, bevor
es in Serie geht. Um ihn herum sorgt eine ein-
gespielte Entourage von weltweit 40 Mitarbei-
tern dafür, dass das Business läuft. Und die
Frau an seiner Seite, die er seit zwölf Jahren
kennt, ist zwar nicht aktiv im Unternehmen,
aber Rückhalt und Inspiration: „Sie fährt sonst
nicht Rad. Das brachte mich auf die Idee, Tan-
dems zu bauen“, erzählt Tom Ritchey.
Im Unternehmen nennen sie das Rad
„Outback“-Tandem, analog zu einem Gravel-
bike-Rahmen des Hauses. Gravelbikes sehen
auf den ersten Blick wie Rennräder aus, ha-
ben aber breitere, profilierte Reifen, eine an-
dere Geometrie und eignen sich eben auch
für Fahrten abseits asphaltierter Straßen. Sie
machen zwar nach Angaben des Zweirad-In-
dustrie-Verbands nur einen kleinen Teil des
deutschen Radmarkts von insgesamt mehr
als drei Milliarden Euro Umsatz aus. Aber ne-
ben dem E-Bike-Boom, der die Branche be-
lebt, treiben gerade hochwertige, universell
einsetzbare Graveller den Umsatz.

Er wechselte einfach die Schule
Ritcheys hochpreisige, geradezu grazile Stahl-
rahmen schätzen Käufer aber nicht nur we-
gen des Gravel- oder Retro-Trends, sondern
auch wegen ihrer Fahreigenschaften. Im La-
den „Schicke Mütze“, der als einer von ganz
wenigen Ware direkt bei Ritchey bezieht,
nennen sie das „Outback“-Tandem das
„Schweizer Taschenmesser unter den sport-
lichen Rädern“ – funktional und ohne
Schnickschnack. Neue Rahmen sind oft
schnell vergriffen.
Den großen Teil des Umsatzes bei Ritchey
Design machen Radkomponenten aus: Das

meistverkaufte Teil ist ein Vorbau, also jenes
Verbindungsstück, das den Lenker hält. Es
gibt auch Sättel, Reifen, Lenker sowie fast al-
les aus Alu und Carbon. Bei jedem Teil ist die
Handarbeit des Gründers zu erkennen, des-
sen Finger stets Spuren tragen von der Arbeit
mit Werkzeugen.
Ritchey ist ein Purist, der früher selbst
Rennen fuhr und sich heute gerne und lan-
ge darüber auslassen kann, wie viele „Pseu-
do-Innovationen“ den Radmarkt über-
schwemmten.
Angefangen hat alles in den 1970er-Jahren
in Kalifornien. Da legte ein Teenager in Palo
Alto, der schon im Alter von fünf Jahren ein

Baumhaus und als 15-Jähriger die ersten Rä-
der gebaut hatte, seinem Schulleiter einen
Plan vor: Er wolle gern seine Anwesenheit
in der Schule reduzieren, um mehr Zeit zu
haben für Radrennen – und für sein Busi-
ness, Räder bauen. Der Direktor war dafür
nicht zu begeistern, also wechselte Ritchey
die Schule. Er ging fortan auf die „Paly“, je-
ne Highschool direkt neben dem Campus
der Stanford University – zu einer Zeit, als
Apple noch kein Kult war und Google keine
Datenkrake.
Gemeinsam mit den ebenso radverrückten
Gary Fisher und Joe Breeze raste er auf alten,
schweren, mit Ballonreifen versehenen Rä-

dern Schotterpisten vor der Küste Kalifor-
niens hinab. Sie tüftelten mit Teilen aus dem
Motocross, um dann eine Radgattung zu
schaffen, die sie Mountainbike nannten. Alle
drei bauten fortan Räder.

Die Fusion misslang
Ritcheys Rahmen wurden von vielen Profis
gefahren, Stars wie der Schweizer Thomas
Frischknecht, der bald zu Ritcheys engsten
Freunden zählen sollte, fuhren darauf zu
zahlreichen Siegen. Kaum ein Hersteller, der
keine Ritchey-Komponenten verbaute, und
mit dem MTB-Boom wuchs Ritchey Design
mit Sitz in San Carlos in den 1990er-Jahren zu
einer weltweit bekannten Marke.
Doch dann begannen einige Hersteller,
selbst Komponenten zu bauen. Als zudem
eine Welle der Konsolidierung die Branche
erfasste, verlor Ritchey fast alles. Seine Ma-
nager wollten damals Ritchey Design mit
dem großen US-Konzern Specialized Bicycle
Components verschmelzen. Es war die Zeit,
als Ikonen wie Cannondale fast pleitegin-
gen, Trek die Marke Gary Fisher kaufte, der
Markt schrumpfte. Die Fusion misslang. Es
kostete Ritchey fast alles, sein Unterneh-
men zurückzukaufen, und es dauerte Jahre,
den Zusammenschluss wieder rückabzuwi-
ckeln.
„Die Branche war im Überlebenskampf, es
war beängstigend“, erzählt er freimütig, wäh-
rend er beim Gespräch in Düsseldorf Nudeln
auf die Gabel spießt. „Aber das Risiko, wie-
der selbst das Steuer zu übernehmen, war
geringer, als die Sache Specialized zu überlas-
sen.“ Das klingt vermessen, Specialized ist
mit einer halben Milliarde US-Dollar Umsatz
einer der größten Fahrradhersteller weltweit.
Aber Ritchey sagt selbstbewusst: „Ich konnte
Design, ich konnte Produktentwicklung, und
es hat funktioniert.“
Heute ist er wieder Herr seines Unterneh-
mens. Über Umsätze spricht er nicht. Sie dürf-
ten US-Medien zufolge im niedrigen zweistelli-
gen Millionenbereich liegen. Aber er bringt
wie eh und je seine Ideen ein, wenn er nicht
gerade mal wieder anderen Projekten nach-
geht und zum Beispiel in seiner Sägemühle ein
neues Holzhaus baut.
Und immer noch liebt er das Radfahren,
legt mehr als 10 000 Kilometer im Jahr zu-
rück, oft gemeinsam mit seiner Frau Martha
auf dem Tandem. Die beiden tragen dann al-
te Hosen, verschlissene Schuhe – keine
durchgestylten Outfits, wie viele der Renn-
radfahrer, die sie auf ihren Touren begleiten.
„Tom ist ein Überzeugungstäter“, sagt Cars-
ten Wien, Mitinhaber der „Schicken Mütze“.
Ein Mann ohne Eitelkeiten, obgleich er nichts
dagegen hat, dass sich Fans für Selfies um
ihn drängen und er in die Hall of Fame des
Mountainbikings berufen wurde.
Ritchey ist aber nicht in jeder Hinsicht ein
Vorbild für seine Radfans. So hat er die Ange-
wohnheit, trotz seines oft hohen Tempos im-
mer ohne Helm zu fahren. Das lässt viele Rad-
fahrer mit dem Kopf schütteln – es entspricht
auch so gar nicht der „No Bullshit“-Vorgabe,
die Ritchey für seine Produkte preist.
Doch er ist jemand, der seinem Bauchge-
fühl und seiner Leidenschaft folgt, nicht im-
mer dem Verstand. Unternehmerisch hat er
es damit nach einer Krise weit gebracht.

Tom Ritchey


Der Offroad-Pionier


Der Miterfinder des Mountainbikes hat sein Unternehmen einst fast verloren, nun


profitiert er mit seiner Marke Ritchey Design vom Trend bei Stahl- und Gravel-Rädern.


Seine Devise seit jeher: kein Schnickschnack, nur echte Neuheiten.


Tom und Martha Ritchey:
Die Rollen im Familienunternehmen
sind klar verteilt.

Schicke Mütze

Familienunternehmen


des Tages


WOCHENENDE 18./19./20. OKTOBER 2019, NR. 201
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