Handelsblatt - 18.10.2019

(Joyce) #1

P. Rendi-Wagner: Keine Scheinverhandlungen.


dpa

Pamela Rendi-Wagner


SPÖ-Chefin will in


Wien mitregieren


WIEN Die österrei-
chische SPÖ ist zu Ver-
handlungen über ein
schwarz-rotes Regie-
rungsbündnis unter
ÖVP-Chef und Altbun-
deskanzler Sebastian
Kurz bereit. Die Sozial-
demokratie habe „im-
mer staatstragend
agiert“, sagte SPÖ-
Chefin Pamela Rendi-
Wagner nach einem
ausführlichen Ge-
spräch mit Kurz, der
in der letzten Woche
von Bundespräsident
Alexander Van der
Bellen den Regie-
rungsauftrag erhielt.
Die ÖVP ist mit 71 Ab-
geordneten die stärks-
te Partei, die SPÖ
kommt auf 40 Manda-
te, die FPÖ auf 31, die
Grünen auf 26 und die
Neos auf 15.


In Wirtschaftskreisen
in Wien wird davon
ausgegangen, dass
sich Kurz für ein
Bündnis mit den Grü-
nen und womöglich
den Neos entscheidet.
Die 48-jährige Rendi-
Wagner sagte in An-
spielung auf die am
Freitag stattfindenden
Sondierungsgespräche
mit den Grünen und
den Neos, dass die
SPÖ aber für Schein-
verhandlungen nicht
zur Verfügung stehe.
Die frühere Ärztin
Rendi-Wagner kam als
Seiteneinsteigerin vor
zweieinhalb Jahren
zur SPÖ. Die ehemali-
ge Gesundheitsminis-
terin ist innerhalb der
Sozialdemokraten
nicht unumstritten.
Hans-Peter Siebenhaar

Ozan Demircan Istanbul

D


ie Türkei steht internatio-
nal derzeit dort, wo Re-
cep Tayyip Erdogan sie
offenbar haben will: in
der Isolation. So schafft es
der türkische Präsident, die Reihen in
der Bevölkerung zu schließen.
Sein Mittel der Wahl heißt Krieg. Mit
seinem Militäreinsatz für eine Sicher-
heitszone und gegen die Kurdenmiliz
YPG in Nordsyrien hat der türkische
Präsident sein Land weltweit isoliert.
Die USA verhängten Sanktionen, meh-
rere Nato- und EU-Staaten Waffenem-
bargos. Selbst der Präsident Nordzy-
perns – also des Landes, das einzig von
Ankara anerkannt und von dessen Mili-
tär beschützt wird – kritisierte den Ein-
satz.
US-Präsident Donald Trump forderte
den türkischen Staatschef in einem per-
sönlichen Brief auf, er möge mit ihm an
einer Lösung im Nordsyrienkonflikt ar-
beiten. Der Brief ist eine Woche alt,
doch die türkischen Haubitzen schießen
immer noch über die Grenze. „Sei kein
Hardliner! Sei kein Dummkopf!“,
schrieb Trump an Erdogan.

Maas verspottet
Ohne Erfolg. Ein Treffen mit US-Vize-
präsident Pompeo blieb zunächst ergeb-
nislos. Auch vom deutschen Embargo
zeigte sich Erdogan unbeeindruckt, griff
Bundesaußenminister Maas sogar per-
sönlich an. Dieser habe keine Ahnung
von Politik, so Erdogan. Maas sei ein
„Dilettant“. Es sind Beleidigungen wie

diese, die seine Unterstützer jubeln las-
sen. Für den 65-Jährigen geht es inzwi-
schen um alles. Erdogan hat sich mit
der Intervention an den Rand des Ab-
grunds gestellt. Der Zusammenhalt in
der Bevölkerung ist wiederhergestellt,
die Solidarität mit den Soldaten unge-
brochen. Doch eine militärische Nieder-
lage könnte ihn das Amt kosten.
Erdogan ist es gewohnt, als Außensei-
ter durch die Welt zu gehen. Aufge-
wachsen im Istanbuler Hafenviertel Ka-
simpasa, lernte der Sohn eines religiös-
konservativen Seemanns und einer
Hausfrau früh das harte Leben kennen.
Die Türkei wurde damals von säkularen
Eliten angeführt. Wer wie die Familie
Erdogan religiös war, kam nicht weit in
der Gesellschaft. Der Sohn biss sich
durch. 1994 wurde er Bürgermeister
von Istanbul. Nach einer Haftstrafe ge-
wann seine neu AKP 2002 die Parla-
mentsmehrheit. Er regiert die Republik
inzwischen länger als Staatsgründer
Atatürk. Aus einem Putschversuch ging
Erdogan gestärkt hervor, doch zwei da-
rauffolgende Wahlen gewann der Präsi-
dent nur haarscharf – und nicht ohne
den Vorwurf der Manipulation.
Dass Erdogan seit einer Verfassungs-
änderung mehr Macht hat, ist unum-
stritten. Trotzdem ist sein Spielraum ge-
schrumpft. Inzwischen sind es seine
Gegner, die ihn vor sich hertreiben.
Bei den Kommunalwahlen verlor Er-
dogans AKP viele Großstädte, darunter
nach 25 Jahren seine Heimatstadt Istan-
bul. Hauptgründe für den Wählerfrust:

die wirtschaftliche Schieflage und die
vielen Flüchtlinge aus Syrien, die die
Türkei seit acht Jahren aufgenommen
hat. Führende Parteikollegen wollen ei-
gene Parteien gründen, um gegen Erdo-
gan anzutreten. „Die Türkei wird von ei-
ner kleinen Clique geführt“, erklärte
zum Beispiel Ex-Premier Ahmet Davuto-
glu beim Austritt aus der AKP.

Mehr Macht, mehr Druck
Wer erwartet hat, dass Erdogan ein-
lenkt, wurde schnell eines Besseren be-
lehrt. Er ließ Oppositionspolitiker ver-
klagen und verordnete der Zentralbank
einen scharfen Kurswechsel. Zwischen-
zeitlich sah es so aus, als wende sich al-
les wieder zum Besseren für Erdogan:
Die gesellschaftlichen Spannungen lie-
ßen nach, die Wirtschaft erholte sich.
Mit dem Plan von Volkswagen, ein neu-
es Werk in der Türkei zu bauen, wäre
Erdogan international ein Stück weit re-
habilitiert worden. Jetzt hat VW einen
Rückzieher gemacht, für Erdogan ist
das ein herber Rückschlag.
Der türkische Staatschef ist es ge-
wohnt, sich über andere Meinungen
hinwegzusetzen. Die breite Unterstüt-
zung für den Militäreinsatz gibt ihm der-
zeit noch Rückhalt. Doch wenn der mi-
litärische Erfolg – eine Sicherheitszone
sowie das Zurückdrängen der Kurden-
miliz YPG – ausbleibt, dürfte davon
nicht mehr viel übrig bleiben. Dann wä-
re Erdogan seinen Gegnern ausgeliefert.
Und die haben nur ein Ziel: Erdogan
loszuwerden.

Die Persönlichkeit der Woche


Erdogan gegen den


Rest der Welt


Der türkische Präsident führt mit dem Krieg in Syrien sein Land


in die Isolation. In der Bevölkerung aber wächst der Rückhalt.


Recep Tayyip
Erdogan: Regiert
die Türkei länger
als Staatsgründer
Atatürk.

dpa

Elijah Cummings


Scharfer Kritiker von


Trump gestorben


WASHINGTON Der
demokratische US-
Kongressabgeordnete
Elijah Cummings ist
tot. Der 68-Jährige sei
am Donnerstagmor-
gen (Ortszeit) in einem
Krankenhaus in Balti-
more gestorben, hieß
es in einer Mitteilung
von Cummings‘ Büro,
aufgrund von „Kom-
plikationen im Zusam-
menhang mit langjäh-
rigen gesundheitli-
chen Problemen“.
Cummings stand dem
Kontrollausschuss des
Repräsentantenhauses
vor – einem der Aus-
schüsse, die die Er-
mittlungen für ein
mögliches Amtsenthe-
bungsverfahren gegen


US-Präsident Donald
Trump führen. Cum-
mings war ein profi-
lierter Kritiker des
Präsidenten. Trump
wiederum hatte ihn
im Sommer persön-
lich beleidigt und da-
mit Rassismusvorwür-
fe auf sich gezogen.
Der Wahlkreis des
schwarzen Amerika-
ners umfasste weite
Teile Baltimores, in
dem Afroamerikaner
die Mehrheit stellen.
Cummings setzte sich
für schärfere Waffen-
gesetze ein. Er war
auch an den Bestre-
bungen der Demokra-
ten beteiligt, Einsicht
in Trumps Finanzen
zu erlangen. dpa

Namen


des Tages
1

WOCHENENDE 18./19./20. OKTOBER 2019, NR. 201
62

Free download pdf